Lord Skidelsky entlarvt Kriegshetzer
Erstveröffentlichung am 20.12.2025 , 21.12.2025 und 23.12.2025 auf RT DE
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↓ Teil I: Die Täuschungen hinter der Ukraine-Debatte
↓ Teil II: Das Budapester Memorandum
↓ Teil III: Doppelmoral der „Unverletzlichkeit der Grenzen“
Teil I: Die Täuschungen hinter der Ukraine-Debatte
In seinem aktuell auf Substack veröffentlichten Beitrag analysiert der britische Wirtschaftshistoriker, Antimilitarist und Lord auf Lebenszeit Robert Skidelsky die aktuelle Debatte um den Ukraine-Konflikt und die damit verbundene wahnsinnige Aufrüstung in Europa.
Erstveröffentlichung am 20.12.2025 auf RT DE
Lord Robert Skidelsky ist altbekannt für seine kritische Haltung gegenüber der NATO, ihrer Expansion an Russlands Grenzen und ihrer militärischen Interventionen. In seinem Substack-Beitrag in englischer Sprache behandelt er fünf zentrale Themen: die Notwendigkeit einer europäischen Aufrüstung, den Status des Budapester Memorandums von 1994, die angebliche „Heiligkeit“ internationaler Grenzen, die Wiederinkraftsetzung der Monroe-Doktrin durch die USA und den militärischen Keynesianismus als Mittel gegen wirtschaftliche Stagnation. Aus Platzgründen können nicht alle fünf Themen in diesem Artikel vorgestellt werden, aber der Rest wird umgehend an dieser Stelle veröffentlicht.
Eingangs bemerkt Lord Skidelsky, dass neue Entwicklungen, vor allem anhaltende alarmistische Äußerungen von EU- und NATO-Vertretern sowie ein Interview mit Lord George Robertson, ehemaliger NATO-Generalsekretär und Hauptverfasser der britischen „Strategischen Verteidigungsüberprüfung“ (SDR) aus dem Jahr 2024, sowie die kürzliche Präsentation der neuen „US-Nationalen Sicherheitsstrategie 2025“ (veröffentlicht am 4. Dezember) ihn veranlasst haben, zur Feder zu greifen, um die Diskussion wieder zurück auf den Boden des berühmten britischen „Common Sense“, des „gesunden Menschenverstands“, zurückzuholen.
Skidelsky beginnt mit einer scharfen Kritik der europäischen Aufrüstung und der damit einhergehenden „Bedrohungsinflation“, angetrieben von Politik und Medien. Dabei erinnert er vor allem an Lord Robertsons SDR, die effektiv darauf abzielt, eine kriegsbereite Haltung in der gesamten Gesellschaft zu entfachen und zu verankern, und betont, dass das Vereinigte Königreich „besser auf hochintensive, langwierige Kriege vorbereitet“ sein müsse und dass seine Kriegsfähigkeit sowie die Abschreckung „jeden Aspekt der Gesellschaft durchdringen“ sollte. Das erinnert an Dr. Joseph Goebbels und seine Forderungen nach dem „totalen Krieg“, der totalitär alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrang.
Auch die Berliner Politblase bedient sich gerne am Nazi-Wortschatz des einstigen Reichspropagandaministers. Zusammen mit der anderen Nazi-Verbrechern hat dieser immer wieder die „Kriegstüchtigkeit“ seiner deutschen Landsleute beschworen und die kriegsbereite Mentalität in der gesamten Gesellschaft gefordert. Wer das nicht glaubt, der suche in einem der vielen Archive mit Nazi-Zeitungen aus der Kriegszeit die Nummer 28 von Goebbels‘ Wochenzeitung Das Reich vom 9. Juli 1944.
Auf der Titelseite steht ein Kommentar aus der Feder des Nazi-Oberpropagandisten unter dem Aufmacher: „Kriegstüchtig wie nur je“. Goebbels ging es damals darum, noch mehr Kanonenfutter für den bereits verlorenen Krieg gegen die Sowjets an die Front zu schicken, um noch zehn weitere Monate wie die Made im Speck zu leben, bzw. in seinem Fall, um seine eigene Lebenserwartung noch um diese Zeit zu verlängern. Da fragt man sich, ob die Parallelen zu heute rein zufällig sind.
Der eigentliche Skandal ist, dass ausgerechnet das Goebbels-Wort „Kriegstüchtigkeit“ zum Markenzeichen eines SPD-Verteidigungsministers geworden ist. Aber kein Mensch in der Berliner Elitenblase scheint sich an diesem Tatbestand zu stören. Aber wenn ein führender Politiker der Opposition zum Abschluss seiner Rede einen eigentlich unverfänglichen Spruch sagt, der – wie man ihm später vorhält – auf der Klinge des Ehrendolches der SA gestanden hat. Bei den Heuchlern war die Hölle los, die Übernahme der Republik durch Nazis stand unmittelbar bevor. Vom Gericht wurde der betroffene Politiker als Nazi abgestempelt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Da konnte man wieder mal den Rechtsstaat des besten Deutschlands, das es je gab, in Aktion sehen.
Aber zurück zu Lord Skidelsky. Im weiteren Verlauf seines Artikels nimmt er den jüngsten Auftritt von Ex-NATO-Chef Lord Robertson auf dem „London Defence Conference Investment Forum im Dezember 2025“ der britischen Rüstungsindustrie ins Visier. Dort verstärkte dieser seine Forderungen und nannte Russland die primäre Bedrohung für das Vereinigte Königreich. Er argumentierte, dass der Kreml Großbritannien als Stellvertreter der USA sehe und die Insel daher zu den ersten Zielen gehöre, falls Russland seine Streitkräfte wiederaufbauen könnte. Robertson plädierte für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des BIP mit US-Unterstützung oder sogar sieben Prozent ohne die USA.
Skidelsky zitiert Robertsons Warnungen vor angeblich geplanten russischen Angriffen auf Länder wie Moldawien, Armenien oder Aserbaidschan und kritisiert die Widersprüchlichkeit in Robertsons Darstellung, die für jeden ersichtlich sei: Auf der einen Seite beschreibt Roberson Russland als im vollen wirtschaftlichen Niedergang und im Scheitern begriffen sowie als militärisch inkompetent, das in der Ukraine immer nur „um Millimeter auf einmal vorrückt“. Zudem stehe Russland vor dem demografischen Kollaps. Aber dann, im nächsten Atemzug, beschriebt Robertson Russland als existenzielle Bedrohung für ganz Europa.
Für Lord Skidelsky sind diese Behauptungen unvereinbar und ein Beispiel für Paranoia oder Bedrohungsinflation. Er verweist auf „Grauzonen-Krieg“-Aktivitäten wie Cyberangriffe oder Desinformation, die laut NATO angeblich die Unterscheidung zwischen Frieden und Krieg auflösen. Eine Erhöhung der Militärausgaben des Vereinigten Königreichs um vier Prozent des BIP für eine „gesamtgesellschaftliche“ Verteidigung hält er bereits für absurd.
Ähnlich alarmistische Töne – so Skidelsky – habe er in einer Debatte im House of Lords vom 8. Dezember gehört, wo Peers wie Lord Coaker, Baroness Goldie und Lord Stirrup eine Mobilisierung forderten und die Gleichgültigkeit der Jugend in Bezug auf den Krieg beklagten. Das Ziel müsse sein, Großbritannien auf eine Kriegsbereitschaft und Kriegstüchtigkeit wie in Frankreich oder Deutschland zu bringen. Gerade an diesem letzten Satz kann man erkennen, wie die elitären NATO-Kriegstreiber die Propagandalügen der jeweiligen Bündnispartner übernehmen, um die einen Leute anzufeuern.
Nachfolgend eine kurze Biografie von Lord Robert Skidelsky
Geboren als Robert Jacob Alexander Skidelsky am 25. April 1939, ist er ein renommierter britischer Wirtschaftshistoriker, Autor und Life-Peer im House of Lords (seit 1991 erhoben). Er ist Emeritus Professor für Politische Ökonomie an der University of Warwick und vor allem bekannt für seine preisgekrönte dreibändige Biografie von John Maynard Keynes (1983–2000), die als das maßgebliche Werk über den Ökonomen gilt.
Skidelsky wurde in Harbin (Mandschurei) als Sohn britischer Untertanen russisch-jüdischer Herkunft geboren. Er studierte am Jesus College in Oxford und hatte akademische Positionen an der Johns Hopkins University, dem North London Polytechnic und Warwick inne. Politisch begann er bei der Labour-Partei und war später Mitbegründer der Social Democratic Party. Kurzzeitig diente er als konservativer Sprecher im House of Lords, bevor er 1999 gefeuert wurde, weil er sich gegen die „NATO-Bombardierung Jugoslawiens“ ausgesprochen hatte.
Skidelskys kritischer Antimilitarismus, insbesondere zum Russland-Ukraine-Konflikt, betont Diplomatie statt Eskalation. Er argumentiert – in Anlehnung an Warnungen von Persönlichkeiten wie George Kennan –, dass die Osterweiterung der NATO russische Sicherheitsbedenken provoziert habe, und lehnt die Darstellung eines „unprovozierten“ russischen Angriffskrieges ab. Er kritisiert die westliche Politik, weil sie Verhandlungen verweigert, trotz begrenzter Unterstützung auf einen totalen ukrainischen Sieg besteht und dabei eine nukleare Eskalation riskiert.
Seine Haltung basiert auf einer realistischen Sichtweise: Autokratien und Demokratien können koexistieren, ohne in einen permanenten Konflikt zu geraten, und Kriege wie der in der Ukraine resultieren teilweise aus westlicher Hybris beim Versuch, der Welt eine neoliberale Ordnung aufzuzwingen. Diese prinzipielle Ablehnung von Militarismus stimmt mit seinen früheren antiinterventionistischen Positionen überein und priorisiert Friedensverhandlungen gegenüber Regimewechseln oder unbefristeten Stellvertreterkriegen.
Teil II: Das Budapester Memorandum
Von NATO-Propagandisten viel zitiert, soll damit Russlands Unfähigkeit belegt werden, internationale Abkommen zu halten. Aber auch das ist nur eine Luftnummer. Warum sollte sich Moskau an ein Abkommen halten, nachdem es von der Gegenseite seit Jahren immer wieder gebrochen wurde?
Erstveröffentlichung am 21.12.2025 auf RT DE
Das Budapester Memorandum von 1994 wird von russophoben Kriegstreibern immer wieder als Beweis dafür zitiert, dass die „inhärent aggressive Macht Russland“ und deren „autoritärer Charakter“ Moskau unfähig mache, internationale Abkommen einzuhalten. Was jedoch von NATO-Propagandisten als felsenfestes Argument in westlichen Fernseh- oder Radiodiskussion immer wieder runtergebetet wird, entbehrt jeder Substanz. Wie so viele andere vom Westen im Brustton der Überzeugung erhobene Verurteilungen Russlands ist auch dies eine Luftnummer.
Das Budapester Memorandum ist ein internationales politisches Abkommen. Es wurde in Budapest im Rahmen einer Konferenz der OSZE (damals KSZE) vom 5. Dezember 1994 unterzeichnet. Der Hintergrund war, dass sich nach der Auflösung der Sowjetunion auf dem Territorium der Ukraine das drittgrößte nukleare Arsenal der Welt befand. Im Gegenzug für den vollständigen Verzicht auf diese Atomwaffen und den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag (NPT) als nicht-nuklearer Staat gaben die Unterzeichnerstaaten der Ukraine bestimmte Sicherheitszusagen, die nicht als völkerrechtlich bindender Vertrag gelten, sondern als politische Verpflichtung. (Ähnliche Memoranden gab es mit Weißrussland und Kasachstan.)
Diese Nichtverbindlichkeit des Abkommens von Budapest ist der wesentliche Unterschied zum völkerrechtlich verbindlichen Minsk-II-Abkommen von 2014/2015. Minsk II wurde vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet und dadurch auf die Ebene internationalen Rechts erhoben, nur um anschließend von den Westmächten als Instrument benutzt zu werden, um Russland zu hintergehen und die Zeit zu nutzen, um die Ukraine militärisch gegen Russland hochzurüsten. Dieser eklatante Völkerrechtsbetrug bleibt den moralisch höherstehenden NATO-Propagandisten in den TV-Talkshows geflissentlich unerwähnt.
Aber schauen wir uns nun die Kerninhalte der im Budapester Abkommens enthaltenen Zusagen an, zu denen sich 1994 die Garantiestaaten – die USA mit Bill Clinton, Russland mit Boris Jelzin, das Vereinigte Königreich mit John Major und die Ukraine mit Leonid Kutschma – verpflichtet hatten.
Sie umfassten:
1. Die „Unabhängigkeit, Souveränität und bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren“;
2. Von der „Androhung oder Anwendung von Gewalt“ gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit der Ukraine abzusehen (außer in Selbstverteidigung oder im Einklang mit der UN-Charta);
3. Von „wirtschaftlichem Zwang“ abzusehen, um die Ukraine zu beeinflussen;
4. Im Falle einer Aggression gegen die Ukraine oder einer Drohung mit Atomwaffen „sofortige Maßnahmen im UN-Sicherheitsrat“ zu ergreifen, um der Ukraine Beistand zu leisten;
5. Keine Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen (außer bei einem Angriff der Ukraine in Allianz mit einem Atomwaffenstaat);
6. Konsultationen abzuhalten, falls Fragen zur Umsetzung entstehen.
Bis 1996 gab die Ukraine alle Atomwaffen an Russland ab. Das wird heute von vielen naziaffinen Russenhassern in der Ukraine öffentlich bedauert, und mit Unterstützung des Westens behaupten sie, Moskau habe sie betrogen. Die Russen hätten ihre Atomwaffen gestohlen, dann aber das angeblich hochheilige Versprechen gebrochen, die territoriale Integrität des Landes zu respektieren und die Ukrainer weder zu bedrohen noch anzugreifen. Diese Lesart des Budapester Memorandums wird vollumfänglich von den westlichen NATO-Propagandisten auf internationaler Ebene verbreitet. Sie unterstreichen, dass Russland das Memorandum durch die Aufnahmen der Krim in die Russische Föderation im Jahr 2014 und die militärische Sonderoperation in der Ukraine 2022 verletzt habe.
Aber bevor wir weitermachen, noch eine Frage: War die Ukraine nach dem Maidan-Gewaltputsch und den massenhaften nachfolgenden Gewaltexzessen gegen Russisch sprechende Bürger im Donbass noch dieselbe Ukraine, mit der Russland in aller Freundschaft 1994 das Abkommen von Budapest unterzeichnet hatte?
War die Ukraine nach den von der Putschregierung in Kiew organisierten militärischen „Anti-Terror-Operationen“ gegen die Zivilbevölkerung im Donbass, die von fanatisierten Nazi-Gruppen wie Asow angeführt wurden, noch dieselbe wie 1994? Laut einem UN-Bericht vom Dezember 2021 haben diese bestialischen Operationen gegen die Zivilbevölkerung in den Dörfern des Donbass knapp 14.000 Zivilisten das Leben gekostet.
Angesichts dieser Fakten kann niemand mit einem Funken vernünftigem Menschenverstand davon ausgehen, dass es für Russland noch irgendeine politische Verpflichtung aus dem Budapester Memorandum gibt, zumal das Memorandum nicht bindend ist, und erst recht nicht, weil Russland die aus dem „verfassungswidrigen Umsturz“ hervorgegangene Übergangsregierungen bis heute nicht anerkannt hat und als illegitim bzw. als „Junta“ oder „Kiewer Regime“ bezeichnet.
Schauen wir uns nun an, wie der britische Lord Robert Skidelsky dieses Thema „Budapester Memorandum“ abhandelt. Er erklärt in wenigen Sätzen das Memorandum und verweist dann darauf, dass es immer wieder zitiert wird, um Moskaus Bruch internationaler Abkommen zu belegen. Russlands Besetzung der Krim 2014 und seine Invasion der Ukraine 2022 werden als entscheidender Beweis zitiert, dass kein Verlass auf russische Zusicherungen ist. Das wiederum steht hinter der dominanten europäischen Sicht, dass Russland in der Ukraine entscheidend besiegt werden muss; andernfalls würde es jede Atempause nutzen, um sich neu zu gruppieren und seine Aggression fortzusetzen, so das offizielle Narrativ von Friedrich Merz, Emmanuel Macron, Keir Starmer und Co.
Das allerdings sei – so Skidelsky – eine „einseitige Interpretation“ des Budapester Abkommens. Erstens besaß die Ukraine nie eine unabhängige nukleare Fähigkeit: Die Sprengköpfe waren sowjetisch, und sämtliche Kommando- und Kontrollsysteme, einschließlich Startcodes, hatten nie Moskau verlassen. Die Ukraine hatte die Hardware (Raketen und Startrampen), aber nicht die Fähigkeit, sie zu nutzen.
Zweitens war das Budapester Memorandum eine politische Verpflichtung statt eines rechtlich durchsetzbaren Vertrags, da es keinen Durchsetzungsmechanismus gab. Wie alle politischen Verpflichtungen war es ein Produkt von Umständen und Erwartungen. Der Umstand war Russlands geopolitischer Zusammenbruch in den 1990er-Jahren. Die Erwartung war, dass die unabhängige Ukraine im postsowjetischen Raum bleiben werde. (Die Ukraine war ein Gründungsmitglied des postsowjetischen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten [GUS], obwohl sie ihre Teilnahme nie ratifizierte.)
Russlands Erwartungen basierten auf den politischen Zusicherungen der Führer der nun unabhängigen Ukraine. Der ukrainische Präsident Kutschma, der das Budapester Memorandum unterzeichnet hatte, bekräftigte wiederholt den blockfreien Status der Ukraine, ihre Absicht, militärisch neutral zu bleiben, und ihr Engagement für eine fortgesetzte Zusammenarbeit mit Russland durch verschiedene GUS-Institutionen. Im Laufe des ersten Jahrzehnts nach der Unabhängigkeit erklärten ukrainische Führer öffentlich, dass eine NATO-Mitgliedschaft nicht in Betracht gezogen werde, während die Wirtschaft und Verteidigungsindustrien der Ukraine tief mit Russland verflochten blieben.
Skidelskys Schlussfolgerung ist: „Obwohl von den oben beschriebenen Umständen nichts im Memorandum kodifiziert war, behandelte Russland es als politischen Kontext, der dem Abkommen von 1994 zugrunde lag – ein Verständnis, das seiner Ansicht nach durch die Bukarester Erklärung von 2008 (‚Die Ukraine wird Mitglied der NATO‘) und die ukrainische Verfassungsänderung von 2019 umgestoßen wurde, was die NATO- und EU-Mitgliedschaften zu ‚unwiderruflichen‘ Zielen der ukrainischen Regierungspolitik machte.“
Und er fügte hinzu: „Also ja, Russland brach eine politische Verpflichtung – aber dem war eine vollkommen gebrochene ukrainische Verpflichtung vorausgegangen.“
Teil III: Doppelmoral der „Unverletzlichkeit der Grenzen“
Der letzte Teil der Artikelreihe schildert die Überlegungen des britischen Ökonomen und Geostrategen Lord Skidelsky zur vom Westen diktierten „Heiligkeit der Grenzen“, zur Ablehnung einer russischen Einflusssphäre trotz Monroe-Doktrin und zum Versuch, der Bevölkerung Angst einzujagen, um mit Rüstung die Industrie zu beleben.
Erstveröffentlichung am 23.12.2025 auf RT DE
In der von den USA erfundenen und diktierten, vom kollektiven Westen befolgten „regelbasierten Weltordnung“ wird auch die sogenannte Unantastbarkeit internationaler Grenzen als oberstes Prinzip festgeschrieben. Aber im Fall westlicher Verstöße gegen die eigenen heiligen Regeln greifen natürlich Sonderregeln. Diese deuten berüchtigte „Einzelfälle“ wie den brutalen, unprovozierten NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien und die gewaltsame Abtrennung der serbischen Provinz Kosovo nicht nur zu einer entschuldbaren, sondern auch zu einer dringend notwendigen humanitären Operation, gleichsam zu einer charitativen Maßnahme unter Gutmenschen um.
Wenn aber irgendwo auf der Welt Grenzen ohne westliche Führung gewaltsam verändert werden, laufen die neoliberalen Westeliten Sturm. Laut Lord Robert Skidelsky ist dem Westen dabei völlig egal, wie willkürlich diese Grenzen in früheren Jahren, oder Jahrhunderten gezogen wurden (wie bei den meisten Staaten im Nahen Osten). Egal ist auch, ob sich die äußeren Umstände, unter denen die aktuell noch geltende Grenzziehung ursprünglich entstanden war, nicht fundamental geändert haben. Dies alles ist mit Blick auf die Ukraine zu bedenken, über die Skidelsky präzisiert, dass die Grenzen der heutigen Ukraine das Ergebnis einer jahrhundertelangen, ständigen Neuziehung von Grenzen sind.
So habe etwa im zaristischen Russland keine politische oder administrative Einheit namens Ukraine existiert. Der Begriff „Ukraine“ habe damals lediglich das „Grenzland“ im Allgemeinen bezeichnet. Die Gebiete des heutigen Staates Ukraine seien damals in mehrere Verwaltungseinheiten zersplittert gewesen, in denen die Ukrainer verstreut lebten, ohne ein starkes Bewusstsein einer eigenen nationalen Identität zu haben, so der Lord, um dann einen kurzen historischen Rückblick anzufügen:
„1922 wurde die Ukraine Gründungsmitglied der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Formal waren all diese Republiken souverän, doch in Wirklichkeit regierte die Kommunistische Partei aus Moskau. 1939 wurde Ostgalizien (mit Zentrum Lemberg, das 1923 völkerrechtlich als Teil Polens anerkannt worden war) infolge des ‚Molotow-Ribbentrop-Pakts‘ in die sowjetische Ukraine eingegliedert. 1940 kamen Nordbukowina und Südbessarabien hinzu, wiederum im Einvernehmen mit Nazi-Deutschland. 1945 wurde Transkarpatien nach dem sowjetischen Sieg über Deutschland annektiert. Und 1954 übertrug der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow die Krim an die ukrainische Republik.“
Diese Geschichte lege ein „grundlegendes Problem offen“ führt der Autor weiter aus, ohne sich auf die eine oder andere Sichtweise festzulegen:
„Wenn bestehende Grenzen aus irgendeinem Grund nicht mehr zur Realität passen, gibt es keinen friedlichen internationalen Mechanismus, sie zu verändern (im Gegensatz zu einvernehmlichen innerstaatlichen Änderungen wie der Aufspaltung der Tschechoslowakei in Tschechien und Slowakei 1993).“
Einflusssphären und die Monroe-Doktrin
Das Prinzip der Unverletzlichkeit von Grenzen hängt laut Skidelsky eng zusammen mit dem der gleichberechtigten Souveränität – also der Idee, dass jeder Staat frei seine Außen- und Innenpolitik wählen darf. Das bedeute „eine Ablehnung alter Konzepte wie Pufferzonen, Einflusssphären oder erzwungener Neutralität“.
Diese These, dass jeder Staat seine Außen- und Innenpolitik frei wählen kann, wird besonders stark von USA/NATO/EU-Kreisen vertreten, um deren Expansion bis an die Grenzen Russlands zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang hält Skidelsky jedoch den USA und dem gesamten Westen ihre Doppelmoral vor Augen. Denn die USA hätten ihre „Monroe-Doktrin“ nie offiziell aufgegeben. Und jetzt habe die Trump-Regierung sie sogar wieder zum wesentlichen Teil ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom 4. Dezember 2025 gemacht und explizit neu formuliert.
Der „Trump-Zusatz“ vom 5. Dezember stellt klar, dass das amerikanische Volk – nicht „fremde Nationen oder globalistische Institutionen“ – Herr in der eigenen Hemisphäre sein müsse. Es dürfe daher nicht zulassen, dass seine Herrschaft (über die westliche Hemisphäre) durch äußere Mächte gefährdet wird. Das lässt den lateinamerikanischen Staaten gewiss nicht die Möglichkeit, ihre Außen- und Innenpolitik selbst frei zu wählen.
Für die Debatte um die Ukraine bedeutet das laut Skidelsky:
Wenn Washington sich das Recht vorbehält, selbst zu bestimmen, was in seiner strategischen Peripherie vor sich geht, fällt es schwerer, Moskaus Behauptung vom Tisch zu wischen, die NATO-Osterweiterung habe die nach dem Ende des Kalten Krieges getroffene Anerkennung von Einflusssphären (beispielsweise durch US-Außenminister Baker: die NATO wird keinen Zentimeter gen Osten expandieren) verletzt.
Militärischer Keynesianismus
In seinem letzten Kapitel schöpft Skidelsky aus seinem umfassenden Lebenswerk über den berühmten britischen Ökonomen Keynes und kommt dabei zu einer für viele sicherlich verblüffenden Aussage. Demnach hat der gigantische Schub zu militärischer Aufrüstung in den EU-Ländern versteckte Treiber beziehungsweise Motive, die „weit über die offiziell genannte Sicherheitsbegründung hinausgehen, Russland abzuwehren“. Denn in der europäischen Politikdebatte zeichne sich zunehmend eine Strömung ab, die den Aufrüstungsdrang mit einem zweiten, weniger offen zugegebenen Ziel verknüpft. Zwar wird ein Großteil der EU-Aufrüstungsagenda mit Sicherheitsargumenten gerechtfertigt; in der Praxis diene dies „jedoch dem Versuch, die schwache Produktivität Europas und die angeschlagene Industriestruktur wiederzubeleben“. Laut Skidelsky handelt es sich also um
„Industriepolitik, die sich als Verteidigungsnotwendigkeit tarnt, gewissermaßen eine Strategie des militärischen Keynesianismus nach Pandemie und Stagnation. Aus dieser Sicht ist die Betonung einer existentiellen russischen Bedrohung keine strategische Einschätzung, sondern nichts anderes als politische Tarnung für eine massive industrielle Mobilisierung, mit der EU-Spitzen die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Europas wiederherstellen wollen.“
Zwar stimme Skidelsky zu, dass Europa neue Wachstumsquellen braucht. Doch der Versuch, Industriepolitik unter dem Deckmantel einer Kriegsbereitschaft einzuschmuggeln – indem Angst geschürt und Bedrohungen übertrieben werden –, sei „weder ehrlich noch akzeptabel“. Eine kriegsähnliche Stimmung zu erzeugen, um wirtschaftliche Erneuerung zu legitimieren, mag politisch bequem sein, doch untergrabe sie die demokratische Debatte und drohe, Europa in eine dauerhafte Militarisierung zu treiben, die mit den tatsächlichen wirtschaftlichen Herausforderungen des Kontinents wenig zu tun hat.
Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Lord Robert Skidelsky, Portrait-Aufnahme von 2019
Foto: Roger Harris, https://members.parliament.uk/member/3120/portrait, CC BY 3.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=86685778
