Vor 100 Jahren erschien: Der Freidenker, Nummer 1
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 3-25, September 2025, S. 3-5, 84. Jahrgang
1925 erschien unser Verbandsorgan zum ersten Mal. Damals hieß es „Zentralorgan“ und der herausgebende Verband hieß noch Verein der Freidenker für Feuerbestattung. Er wurde 1905 gegründet, 1922 wurde Max Sievers sein Sekretär und Geschäftsführer. Er profilierte den Verband als eine politisch-weltanschauliche Kulturorganisation und bereitete damit den Zusammenschluss mit der Gemeinschaft proletarischer Freidenker 1927 vor. Der vereinigte Verband wählte Max Sievers zu seinem Vorsitzenden. Der Name des Verbandes war zunächst Verband der Freidenker für Feuerbestattung, 1930 benannte er sich in Deutscher Freidenker-Verband um.
Diese Entwicklung zu einem vereinigten Verband mit politisch-weltanschaulicher Ausrichtung wurde maßgeblich durch die seit 1925 erscheinende Zeitung „Der Freidenker“ vorbereitet und gefördert, die sich die „rein kulturelle Aufklärung im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus“ auf die Fahnen geschrieben hatte.
Wir dokumentieren Auszüge aus dem Editorial von Carl Rückert, dem vom Vorstand bestimmten Herausgeber, und anschließend den Leitartikel von Max Sievers „Um des Geistes Freiheit“.
Redaktion FREIDENKER

An unsere Mitglieder!
Schon seit langem beschäftigt uns die Frage, wie wir unser Vereinsorgan inhaltlich besser ausgestalten können. (…) Nach vielen Erwägungen haben wir nun den Beschluß gefaßt, unserer Vereinszeitung von jetzt ab den Namen „Der Freidenker“ zu geben. (…)
Wer auf dem Boden der sozialistischen Weltanschauung freigeistige Ziele verfolgt und freigeistige Arbeit leisten will, dem stehen die Spalten unseres Blattes offen. (…)
Die Zeitung wird gratis an unsere Mitglieder verabfolgt. Außer den hierfür notwendigen Exemplaren werden wir jeder Ortsgruppe eine ganze Anzahl weiterer Nummern zusenden, die als Werbematerial Verwendung finden können. (…)
Wir hoffen zuversichtlich, zu diesem Schritt die Zustimmung der Mitglieder zu erhalten und richten nochmals an alle den Appell, uns tatkräftig zu unterstützen.
Berlin, im Januar 1925
Der Vorstand. I. A.: Carl Rücker
Um des Geistes Freiheit
Von Max Sievers
Erstveröffentlichung in „Der Freidenker“, Jahrgang 1, Nummer 1 (1925)
Was ist das Heiligste?
Das was heute und ewig die Geister
tiefer und tiefer gefühlt
immer nur einiger macht.
(Goethe)
Ein Wirbelsturm ungeheuren Erlebens braust über die Menschheit unserer Tage dahin. In unaufhörlicher Reihenfolge schlagen die Wellen wirtschaftlicher und politischer Krisen über uns hinweg. Krisen waren das Erleben der letzten Jahre, Krisen sind das beherrschende Moment der Gegenwart, Krisen die einzig sichere Perspektive der nächsten Zukunft.
Von Zweifel und Aengsten, von Hunger und Elend gepeinigt, stehen Millionen unterdrückter Menschen im Wirbel dieser Ereignisse. In ihrer geistigen Blindheit sind sie gänzlich der Fähigkeit beraubt, an ein Entrinnen aus diesem Chaos durch ihre eigene Kraft zu glauben. Sie begreifen nicht, daß- eine auf die Spitze ihrer Macht getriebene kapitalistische Wirtschaftsordnung, um der ihr innewohnenden Gesetze halber sie in den Weltkrieg hineinschleuderte und daß eben dieselbe Wirtschaftsordnung in diesem Kriege von dem Höhepunkt ihres schöpferischen Wirkens hinabglitt auf die Bahn des langsamen aber ständigen Niederganges. Schwer, nur allzuschwer dringt die Erkenntnis zu ihnen, daß sie kämpfen müssen um die Befreiung von ihrem Sklavenjoch, daß sie gemeinsam mit ihren Unterdrückern den Untergang erleiden werden.
Sie fühlen den Boden unter ihren Füßen wanken und suchen vergebens nach einem festen Halt. Kein anderes Gefühl herrscht mehr in ihnen denn der Hunger. Sie schreien nach neuer Fron, betteln um Arbeit, um Nahrung und sind außerstande zu begreifen, daß sie jemals anders denn aus der Hand des Kapitalisten Nahrung erhalten könnten. Sie sind blind und taub für die Erkenntnis, daß die Krise der kapitalistischen Unterdrückungsmaschine ihre Fesseln lockert. Sie fürchten vielleicht mehr noch als den Unterdrücker selbst — die Befreiung von ihm.
Gewohnheit, Erziehung, die gänzliche Wesenslosigkeit ihres Sklavendaseins hat sie vollends des Glaubens an ihre eigene Kraft, des Gefühls für ihre Menschenwürde beraubt. Nicht nur ihr Körper, ihr ganzes Fühlen und Denken ist mit tausend Fesseln an den Unterdrücker gekettet. Wenn sie überhaupt noch einen Wunsch außer dem nach Stillung des nagenden Hungers empfinden, so ist es der, selbst einmal – Kapitalist sein dürfen, selbst einmal Ausbeuter zu werden, selbst einmal die Macht ausüben zu dürfen, deren Objekt sie jetzt sind.
Und so erwachsen aus Not, Elend und hemmungsloser Verzweiflung alte Abarten wilder egoistischer Instinkte, überschwemmt uns eine Flut verbrecherischer Triebe, herrschen Korruption und Demoralisation allenthalben, wohin wir blicken, bilden sie das Signum unserer Gegenwart.
In diesem Augenblick haben wir niemals zu vergessen, daß dieses zur entsetzlichen Fratze verzerrte Gesicht der Menschheit unserer Tage das eigentliche Gesicht des Kapitalismus ist. Niemals dürfen uns alle Begleiterscheinungen der Gegenwart die Ueberzeugung rauben, daß einen Ausweg aus all dem Chaos nur die unermüdliche, täglich von neuem beginnende Arbeit am Sozialismus bahnen kann. Fest und unbeirrbar lebt die Erkenntnis in uns, daß der Weltkrieg den Anfang zu einer Weltenwende schuf. Es wird letzten Endes als einzige Besiegte aus dem Weltkrieg die herrschende Gesellschaftsordnung hervorgehen und ihr Ende wird der Anfang der Herrschaft des Sozialismus sein.
Ja, aber können diese armseligen Menschen der Gegenwart jemals sich zu freien, denkenden, selbstbewußt handelnden Sozialisten entwickeln? Ja und abermals ja! Freudig bejahen wir diese Frage und fügen hinzu:
So wie heute die Sklaven des Kapitalismus entsetzt und fassungslos den hereinbrechenden Ereignissen gegenüberstehen, so hat einst in grauen Vorzeiten der Urmensch sich in fassungslosem Entsetzen zusammengeduckt, wenn Donner und Blitz als ihm unbekannte Gewalten seine Sinne betörten. In unaufhörlicher Entwicklung erst erklomm er die Stufe der Erkenntnis, die ihn lehrte, das Walten der Elemente in der Natur zu begreifen, sich vor ihren Ausbrüchen zu schützen und schließlich – sie zu beherrschen.
Von seiner tierischen Existenz im Urwalde entwickelte sich der Mensch zur Höhe der heutigen modernen Zivilisation. Er wurde zum Schöpfer wunderbarer Werke der Technik, er brachte die Wissenschaft auf ihre heutige Höhe. Ihm gelang es, mittels der Wissenschaft und der Technik die Völker aller Erdteile miteinander in Berührung zu bringen, er ist auf dem Wege, die Sitten, Gebräuche, Sprachen, Erkenntnis, Lebensbedingungen aller Menschen der Welt immer mehr zueinander in Einklang zu bringen, er schuf und schafft somit die Voraussetzungen für die kommende große Lebensgemeinschaft aller Menschen in der ganzen Welt.
Weichen unendlich langen Weg der Entwicklung vollbrachte der Mensch und welcher winzig kleine Schritt bleibt ihm zu tun nur noch übrig, um die Schwelle des Sozialismus zu überschreiten. Er sollte jetzt plötzlich versagen, da die Produkte seines Geistes und Schaffens planmäßig dem Wohle aller dienstbar gemacht werden sollen? Er mußte dem Kapitalismus erliegen, da auch dieser in einer bestimmten Epoche bedingt war. Es naht der Tag, da er auch diese Entwicklungsstufe überwinden und – frei sein wird.
Und desto eher wird dieser Tag hereinbrechen, je tatkräftiger alle, die den Kampf gegen Stumpfsinn, Resignation und geistige Blindheit aufnehmen, die beseelt von innerer Erkenntnis stark und in froher Zuversicht den Massen den Weg in die Zukunft zu bahnen haben. Es ist das Banner des Freidenkertums, das gerade jetzt, inmitten der Zerrissenheit unserer Gegenwart mit aller Kraft und weithin sichtbar aufgepflanzt werden muß. Es ist der Begriff des Freidenkertums, den wir hier in erster Linie zu definieren haben.
Freidenker nennt sich mancher, der um innerer Erholung halber in den Kreis freidenkender Menschen trat, um bei ihnen Anregung und Ausfüllung seiner Mußestunden zu suchen. Freidenker ist aber nur der, wer sein ganzes Wissen und Können als Rüstzeug im Kampfe für die Erlösung der Menschheit aus geistiger Knechtschaft benutzt. Freidenker sein heißt Kämpfer sein.
Wir gehen noch einen Schritt weiter, wir identifizieren die Weltanschauung des wahren Freidenkertums mit der Idee des Sozialismus. Wir können uns als einen Freidenker nur einen Menschen vorstellen, der sein ganzes Sein, sein Denken und Fühlen eingestellt hat auf den Kampf für den Aufstieg der Menschheit zur höchsten Stufe der Entwicklung. Dieser Aufstieg ist aber solange gehemmt, als die Menschheit selbst sich in Klassen teilt, eine Klasse die andere beherrscht, denn jede Klassenherrschaft setzt eine in geistiger Unwissenheit dahinlebende unfreie Menschheit voraus. Die Notwendigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bejahen und gleichzeitig vorgeben, den Menschen zur geistigen Freiheit erziehen zu wollen, ist ein Beginnen, das am unlösbaren inneren Widerspruch zugrunde gehen muß.
So steht als dringendstes Gebot der Stunde vor den Freidenkern unserer Gegenwart die Notwendigkeit, sich zusammenzuschließen zum gemeinsamen Handeln auf der Basis der sozialistischen Weltanschauung.
Nicht unberührt vom Kampfe der politischen Parteien, aber abseits von ihnen haben wir unsere Arbeit zu verrichten. Die Freidenkerbewegung kann und darf nicht dienstbar sein einer einzigen Partei, sie kann nur dienstbar sein der gesamten Klasse.
Max Sievers, geb. 11.07.1887, war von 1922 bis 1927 Geschäftsführer des Vereins der Freidenker für Feuerbestattung und nach der Vereinigung mit der Gemeinschaft proletarischer Freidenker im Jahre 1927 Vorsitzender des neuen Verbandes für Freidenkertum und Feuerbestattung (1930 umbenannt in Deutscher Freidenker-Verband). Er war Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und wurde am 17.01.1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil hingerichtet.
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Vor 100 Jahren erschien: Der Freidenker, Nummer 1 (mit Leitartikel von Max Sievers) (Auszug aus FREIDENKER 3-25, ca. 351 KB)
Bild oben: Collage von Ralf Lux unter Verwendung von:
- Faksimile der ersten Ausgabe des Verbandsorgans FREIDENKER aus dem Jahr 1925 (Archiv Michael Velten)
- Foto (Feuer) von skeeze (pixabay.com)
- Portrait von Max Sievers (Archiv)
