Für ein Ende des Genozids in Gaza
von Bernhard Taureck
Töte nicht und töte!
Im Dekalog des Alten Testaments steht die Forderung
Töte nicht! (5. Buch Mose,16)
Seit es Staaten gibt, galt und gilt seither diese Forderung. Wer gegen sie verstößt, wird mittels des Rechts wegen Tötung bestraft. Dennoch befehlen Staaten im Krieg, Feinde zu liquidieren.
Charles Chaplin kommentierte diesen Widerspruch zwischen Tötungsverbot und Tötungsbejahung sarkastisch mit der Bemerkung:
Wer Menschen tötet, ist ein Verbrecher. Wer Hunderte und mehr Personen liquidiert, der gilt als Held. Denn es sei die Anzahl der Getöteten, welche diese Taten heiligt.
Etwas stimmt in dieser Argumentation nicht. Der Sarkasmus Chaplins, der selbst ein Jude war, hebt den Widerspruch unmissverständlich hervor. Das allgemeingültige Tötungsverbot kann nicht durch Feindtötung sinnwidrig ergänzt werden.
Viele mögen an das moderne Völkerrecht erinnern. Denn es fordert, dass kein Staat das Recht habe, Kriege zu führen. Vormals hatten alle Staaten das Recht, Kriege zu beginnen. Jeder Staat war insofern souverän, als er ein ius ad bellum besaß. Dieses Recht wurde den Staaten nunmehr international genommen.
Doch die Staaten urteilten: Wenn ihnen untersagt wird, Kriege führen zu dürfen, dann bleibt ihnen das Recht zur Verteidigung. Wenn Angriffskriege untersagt sind, so bleiben Kriege der Verteidigung. Verteidigungskriege dienen dem Schutz der eigenen Bevölkerung. Der Angriff geht von den anderen aus.
Antisemitismus?
Insbesondere sind diejenigen Staaten in einer misslichen Lage, die seit langem fremden Angriffen ausgesetzt sind wie Staaten im Fernen und im Nahen Osten. Michael Lüders hat neuerdings dargelegt, dass Israel seit seiner Gründung 1948 der Vernichtungsorgie des Drittens Reiches gegen die europäischen Juden, dann den Angriffen arabischer Staaten, der Hisbollah, des Iran und dem Angriff der Hamas ausgesetzt war. Israel setzt den Angriffen der anderen eine Verteidigung entgegen. Aus der Sicht der israelischen Regierung vermag nur ein erweitertes Großisrael auf Kosten der Westbank und Teilen Jordaniens im Osten dem Staat Israel Schutz vor Angriffen zu garantieren. Aus der Sicht arabischer Nachbarn wird aus dem Opferstaat Israel ein angriffslustiger Täterstaat. Gruppen aus Israel warnen vor dieser Entwicklung und weisen auf die vertanen Chancen einer friedlichen Kooperation zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung hin, die Israel und die Palästinenser zu beiderseitigem Vorteil hätten nutzen können. Die bedeutenden Juden Albert Einstein und Martin Buber votierten ständig für eine Kooperation zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung Israels.
Um sich international zu wehren, beruft man sich seitens jüdischer und mit dem Anliegen des Staates Israel sympathisierender Gruppierungen in Europa und Nordamerika auf Antisemitismus. Antisemitismus bezeichnet Judenfeindschaft. Das Wort ist ungeschickt gewählt, denn Semiten sind Juden und Araber gleichermaßen. Auf der arabischen Seite gibt es keine Kampfvokabel als Gegenteil zu Antisemitismus. Man könnte von Panarabismus sprechen, eine kulturelle Gesamtvorstellung arabischer Staaten, die allerdings keinen Hass ausdrückt wie Antisemitismus.
Ausgeschlossen ist allerdings in einer mit Überraschungen geschwängerten Zukunftslage nicht, dass im Nahen Osten zweites Gespenst lauert. Wie zu erfahren ist, droht der israelischen Regierung und ihrer törichten Bombardierung Katars inzwischen die erste internationale Kollision: Pakistan verbündet sich näher mit Saudi-Arabien. Ohnehin befinden sich bereits einige pakistanische Soldaten in Saudi-Arabien.
Lessings Ringparabel
Wie man es auch wendet, das alte Übel des tödlichen Widerspruchs zwischen Tötungsverbot und Tötungsbejahung wird weder im Nahen Osten noch sonst auf dem Globus gelöst. Das altisraelische Tötungsverbot erzeugt eine militärische Tötungsbejahung. In den 800 Jahren arabischer Herrschaft in Spanien gab es einst einen dauerhaften kulturellen Austausch zwischen arabischer und jüdischer Kultur. Auf diesen Geist der friedfertigen Akzeptanz zwischen jüdischer und arabisch-muslimischer Lebensgestaltung beruft sich, zurückdatiert in die Zeit der Kreuzzüge, 1779 Lessings Drama Nathan der Weise in seiner Parabel von den drei Ringen, die als jüdischer, christlicher und muslimischer Monotheismus erscheinen. Es soll der Sultan dazu bewegt werden, die Parabel anzuhören. Nathan ist deshalb wohlberaten und weise, weil er einen Richter erfindet, der über den exklusiven Anspruch auf Geltung der drei Ansprüche entscheiden soll. Der Richter spricht bei Lessing:
Der echte Ring
vermutlich ging verloren. Den Verlust
zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater
die drei für einen machen.
Um die Konkurrenz über die Echtheit der Ringe nicht als Grund für Krieg, Tötung, Zerstörung und Vernichtung werden zu lassen, rät der Richter in Lessings Parabel das Folgende:
Es eifere jeder seiner unbestochnen
von Vorurteilen feien Liebe nach!
Jeder solle sich dabei bemühen um Sanftmut, um herzliche Verträglichkeit, um Wohltun und um innigste Ergebenheit in Gott.
Wie reagiert der Sultan? Er ist begeistert.
Man vernimmt hierbei, dass es den mörderischen Widerspruch zwischen Tötungsverbot und Tötungsbejahung nicht geben müsse. Wohltuende, religiös motivierte Sanftmut könnte an die Stelle des Widerspruchs treten. Lessings Vorschlag zielt auf religiöse Friedfertigkeit in einer Welt, die durch Vernichtungskampf bestimmt ist. Sie entzieht den Kämpfenden mit den Mitteln einer lehrhaften Parabel ihre innerste Motivation.
So weit Lessing und seine Konfliktbeilegung im Namen theologisch-eschatologischer Friedfertigkeit. Dieser Vorschlag sollte uns Menschen zu keiner Zeit verlassen. Auch wenn er utopisch bleibt, so behält er einen magischen Magnetismus der Zukunftsorientierung für alle künftigen Menschen.
Für einen internationalen Ausgleich
Wie jedoch sieht es auf internationaler und politischer Ebene aus? Wenn man Stimmen seitens der israelischen Regierung oder Stimmen arabischer Länder vernimmt, so lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass es auf der Erde einzig zwei Feinde gibt, Israel und die Araber. Es gibt in diesem Fall nur diese beiden Kontrahenten. Es gibt nicht 190 andere Staaten.
Teilt man diese Ausblendung, so obliegt es diesen beiden Kontrahenten, den Widerspruch zwischen Tötungsverbot und Tötungsermunterung zu lösen. Folgt man den militanten Bestrebungen, so gewinnt der ideologisch und der militärisch Stärkere. Der andere verliert. Wer der Kriegsgewalt nicht nachgibt, der wird zerstört. Kein Problem, denn die anderen Staaten spielen keine Rolle. Der Stärkere schaltet den Schwächeren aus. Wenn der Feind eliminiert ist, erst dann bleibt das Tötungsverbot übrig.
Jeder mit Fragen der internationalen Politik Beschäftigte weiß, dass die Beschränkung auf zwei Akteure ebenso irrational ist wie sie kindliche Vorstellungen der Kontrahenten spiegelt. Die Kontrahenten sind nicht isoliert. Es existieren 190 Staaten, die diesen Konflikt beobachten und die ihn bewerten. Die Staaten haben eigene Interessen. Sie mögen teilweise pro-israelisch, teilweise pro-arabisch sein. Doch es gibt auch andere Interessen. Sie sind weder pro-israelisch noch pro-arabisch. Beides scheint deshalb zu riskant, weil Pro und Contra die gefährliche Kontradiktion zwischen Tötungsverbot und Tötungsermunterung nicht auflösen. Das regionale Pro und Contra soll nicht in einen Konflikt mutieren, der am Ende den Einsatz von Atomwaffen erfordert. Daher gibt es ein großes Interesse, diesen Konflikt zu entschärfen, bevor er die Voraussetzungen eines Globalkonfliktes erfüllt. Die Erwartung dieser Entschärfung sollte das internationale Staatshandeln ebenso erfüllen wie der utopische Impuls, den der weise Jude Nathan bei Lessing bestimmt.
Bernhard H. F. Taureck ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes Rheinland-Pfalz / Saarland
Bild oben: Nathan der Weise, Skulptur von Adolf Jahn, Alabaster
Foto: W.pseudon, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44312470
