Religions- & Kirchenkritik, Säkulare SzeneWeltanschauung & Philosophie

Wissenschaft und Glaube – der Neoatheismus und seine Grenzen

Aus: „Freidenker“ Nr. 1-09 März 2009     68. Jahrgang  – Thema, S. 23-26

Von Horst Pickert und Horst Schild

 

Dass die Religionen derzeit weltweit starken Zulauf haben, kann nicht übersehen werden. Ausnahmen bilden allenfalls West- und Mitteleuropa und Teile Osteuropas. Nicht einmal jeder Achte der Weltbevölkerung bekennt sich heute als Nichtgläubiger. In den USA glauben etwa 90 Prozent der Menschen an Gott und rund drei Viertel gar noch an die Hölle.1

Die Zuwächse Gläubiger sind vor allem in den ärmeren Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens zu verzeichnen. Und das ist keineswegs zufällig.

Zwischen Religiosität einerseits und sozialökonomischer und politisch-ideologischer Situation andererseits besteht ein Zusammenhang, der durch die veröffentlichte Meinung allzu oft verkleistert wird. Jedoch ist die krisenhafte globale Entwicklung mit ihrem derzeitigen Höhepunkt, die daraus resultierende Zunahme von Massenverelendung und auch von medienunterstützter geistiger Verunsicherung und Verdummung nicht zu übersehen. Nicht zu übersehen sind Kriege, Terror und andere militärische Auseinandersetzungen, Krankheiten bei völlig unzureichender medizinischer Versorgung in weiten Teilen der Welt und leider eine fehlende, real erscheinende gesellschaftliche Alternative. All das hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das „religiöse Elend“ als „Ausdruck des wirklichen Elends …, (als) Seufzer der bedrängten Kreatur (und als) Gemüt einer herzlosen Welt“ (Karl Marx) Aufschwung erhielt und erhält.

Hinzu kommt, dass sich Areligiosität und Atheismus in Lichte ihrer weltanschaulichen „Erfolge“ – von der Aufklärung bis zu Ludwig Feuerbach, über die Propagierung der Evolutionstheorie Darwins (u. a. durch Wilhelm Ostwald und Ernst Haeckel) bis zu den anderen herausragenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen des 19. und auch 20. Jahrhunderts – wohl etwas zu zeitig zurückgezogen haben. Die Fortdauer von Religionen wurde nicht als bedrohlich, weil nur noch als temporär empfunden. Diese Auffassung wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch von Teilen der Arbeiterbewegung geteilt.

Unstreitig hat die Naturwissenschaft dem religiösen Glauben manch tiefe Wunde geschlagen und ihn zu „Frontbegradigungen“ gezwungen. Sie tut es permanent noch heute. Aber daran ist er eben nicht gestorben. Und Gott ist auch längst nicht „tot“, wie Nietzsche meinte.

Ein neuer Atheismus?

In den letzten Jahren hat sich nun ein „neuer“ Atheismus mit viel Kämpfertum und teilweise auch aggressiver Wortwahl zurück gemeldet. Seine Vertreter sind vorwiegend Neurowissenschaftler und Evolutionsbiologen (z. B. Sam Harris, Richard Dawkins) aber auch Philosophen, (u. a. Daniel C. Dennett, Christopher Hitchens oder Michel Onfray mit seiner Atheologie; auch einige Exponenten der Giordano-Bruno-Stiftung in Deutschland wären hier zu nennen). Dieser Neoatheismus beansprucht und verficht, gestützt auf den Erkenntnisfortschritt der letzten Jahrzehnte, die Deutungshoheit über das (moderne) Menschenbild ebenso wie über die Welt generell. Dabei geht er in der Auseinandersetzung mit dem religiösen Glauben meist nicht zimperlich um. Religionen seien nicht nur irrational und destruktiv, als Erklärungsmodell antiquiert, gar untauglich und stünden dem Fortschritt der Menschheit diametral entgegen. Religionen führten nicht selten zu einem militanten, ja terroristischen Fundamentalismus. Der Glaube an Gott sei gar einer Geisteskrankheit vergleichbar, und eine Existenz Gottes widerspreche allen Regeln der Evolution und jeder wissenschaftlichen Erkenntnis (Dawkins).

Für Freidenker sind die meisten der vorgetragenen Argumente aus dem Herzen gesprochen und wegen ihres häufig erfrischenden Esprits äußerst lesenswert.

Obwohl sich der neue Atheismus wesentlich als unorganisiert darstellt und weitgehend auch eher marginal als massenbewegend wirkt, sich andererseits die Religionen samt ihrer Institutionen und Amtsträger in einer vergleichsweise komfortablen Lage wähnen können, haben sich schnell zahlreiche Apologeten (insbesondere Parteigänger der Papstkirche) gefunden, die es diesem Neoatheismus ,heimzuzahlen‘ versuchen.

„Es sind die Naturwissenschaften, die die vielleicht größte Schuld am immer weiter um sich greifenden Atheismus haben“, wettert z. B. Jörg Haupenthal. Aus wissenschaftlich nur weitgehender Halbkenntnis aktueller Forschungen, etwa zur Urknalltheorie, zum dialektischen Determinismuskonzept, zur Evolution oder zum sog. ,freien Willen‘, übrigens einer Säule religiöser Dogmatik, wird das Ende des Atheismus postuliert (Manfred Lütz).2 Andere Autoren, etwa Alexander Kissler, gehen in ihrer Polemik gegen die „neuen Atheisten“ gleich mit der ganzen Geschichte des Atheismus ins Gericht: von Descartes, Meslier, Voltaire, auch Lessing und Kant bis aktuell zu Dawkins.

Es ist sicher wenig hilfreich zu fragen, ob die Wissenschaft, speziell die Naturwissenschaft, den religiösen Glauben bestätige oder widerlege. Tatsächlich sind Wissenschaft und Religion disparate, also getrennte geistige Gebilde.

Die Wissenschaft zielt auf Welterkenntnis ab. Sie stellt sich in Form von Aussagen, inkl. Gesetzesaussagen, geschlossenen (nicht notwendig abgeschlossenen!) Aussagesystemen, widerspruchsfreien Theorien und dgl. dar. Ihre Methoden sind die des empirischen und/oder logischen Beweisens, des Widerlegens usw. Ihre zu repräsentierenden Objekte (deren Eigenschaften, Relationen und deren Entwicklung) entstammen dem Mikrokosmos genauso wie dem Makrokosmos. Auch abstrakte Objekte werden zu Gegenständen wissenschaftlicher Erkenntnis, etwa in der Mathematik. Wissenschaft vermag Erklärungen zu liefern wie auch Vorhersagen.

Die Religion hingegen zielt nicht auf Welterkenntnis ab. Sie verkündet Botschaften. Ihr Medium ist der Mythos, d. h. die Erzählung, die Legende. Ihre Erklärungsfunktion ist allenfalls rudimentär. Das Bekenntnis oder das Nichtbekenntnis zu einer Religion ist nicht das Ergebnis einer theoretischen Reflexion. Das schließt nicht aus, dass die wissenschaftliche Vernunft, wie im Katholizismus, in den Dienst eines Offenbarungsglaubens genommen wird, wofür z. B. die Enzyklika „Fides et ratio“ von Papst Johannes Paul II. steht. Die Wurzel des Bekenntnisses bzw. Nichtbekenntnisses zu einer Religion ist eine religiöse Grunderfahrung oder ihr Ausbleiben. Eine derartige Grunderfahrung liegt aber sui generis außerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnis.3

Weil die Welt mikroskopisch wie makroskopisch unendlich ist, ist sie auch unerschöpflich. Darum ist der (wissenschaftliche) Erkenntnisprozess ebenso unendlich wie aber unser Wissen über die Welt zu jedem Zeitpunkt endlich ist. Auch deswegen ist es problematisch zu behaupten, der Gottesglaube beruhe lediglich auf mangelnder Welterkenntnis. Welterkenntnis bis wohin oder wie weit?

Erkenntnisgewinn führt zwangsläufig zur Infragestellung bestimmter religiöser Dogmen, evtl. auch zu deren Korrektur oder Preisgabe. Aber er ist nur bedingt tauglich, gegen verinnerlichte religiöse Mythen und Legenden anzugehen. Genau das dürfte auch die Grenze sein, an die jeder lediglich auf (natur-)wissenschaftliche Indizien gründende Atheismus stößt. Im Lichte der Wissenschaft wird es kein letztes, dann aufzudeckendes ,Schlupfloch‘ für Gott geben, für den Glauben aber kann – zugespitzt formuliert – immer wieder noch eins gefunden werden.

Von der Kritik des Himmels zur Kritik der Erde

Karl Marx hat sich selber in all seinen Werken an keiner Stelle als Atheisten bezeichnet. Natürlich ist es irrig, daraus zu folgern, Marx habe den Atheismus für unzutreffend gehalten. Er sah im Gegenteil im Wirken Ludwig Feuerbachs den Höhepunkt des bürgerlichen Atheismus. Er gab jedoch zu bedenken, dass dieser dort endet, wo sein eigener Neuansatz den originären Anfang nimmt. Das letzte Wort Feuerbachs ist die theoretische Kritik der Religion und die Postulierung eines abstrakten Humanismus. Marx hingegen war sich darüber klar, dass eine bloße theoretische Kritik nicht ausreicht, um die Emanzipation des Menschen herbeizuführen. Die Waffe der Kritik muss selbst hinsichtlich ihrer Wirkmöglichkeit kritisch durchschaut werden. Als Fazit ergibt sich: Materielle gesellschaftliche Verhältnisse sind nur durch die materielle Aktion veränderbar. So muss laut Marx von der Kritik des Himmels zur Kritik der Erde, von der Kritik der Religion zur Kritik der Politik übergegangen werden.

Man gibt den Marx’schen Standpunkt nicht adäquat wider, wenn man ihn schlechthin verkürzt als „Atheismus“ bezeichnet und es dabei bewenden lässt. Vielmehr ist der Marxismus hier sowohl der Fortsetzer als auch der Kritiker des Atheismus in einem. Er stellt die dialektische Negation des Atheismus dar.

Interessant ist die Reaktion der modernen protestantischen Theologie in ausgewählten Konzeptionen auf die Feuerbach‘sche und Marx‘sche Religionskritik. Auf den ersten Blick ist es ein frappanter Sachverhalt, dass solche prominenten Theologen wie Emil Fuchs und Karl Barth ihr nicht widersprechen, ja ihr sogar beipflichten. Für Fuchs, der vehement für den Sozialismus Partei ergriff und den Marxismus und das Christentum miteinander zu verbinden trachtete, war das eigentliche Ziel der Marx’schen Religionskritik gar nicht der christliche Glaube in seiner authentischen Gestalt, sondern einer Art „Gewohnheitsreligion“, die nicht mit dem wahren, dem „prophetischen“ Glauben verwechselt werden dürfe.

Barth, Verfasser der berühmten Barmer Theologischen Erklärung von 1934, hält die Marx’sche Religionskritik für durchaus zutreffend, merkt aber sogleich an, dass diese nicht den christlichen Glauben beträfe – da derselbe gar keine (!) Religion sei. Er und seine Schüler heben hervor, dass das Gegenteil des Atheismus der Theismus ist – ein Standpunkt, dem man durchaus zustimmen kann. Sie werfen die Frage auf, ob es berechtigt ist, den christlichen Glauben als einen Theismus zu kennzeichnen. Ihre Antwort ist verneinend. Theismus und Atheismus gäben, so argumentieren sie, entgegengesetzte Antworten auf die Frage, ob Gott existiert oder nicht. Beide verbinde derselbe Fehler: Sie reflektieren beide über Gott, als ob dieser ein „innerweltliches Ding“ wäre, das sich – ontologisch gesehen – im Status der „Vorhandenheit“ befände. Der gläubige Christ frage nicht, ob es einen Gott gibt, sondern er erfahre, dass Gott sich ihm gibt. Und das weitgehend unabhängig vom wissenschaftlichen Erkenntnisstand. In diesem Sinne ist die Kontroverse Theismus-Atheismus für Barth und seine Schüler ohne Belang. Beide seien Philosophien, Weltanschauungen und Ideologien. Der christliche Glaube hingegen sei keines von diesen dreien. Er sei auch keine Religion, da diese Unglaube, folglich „Sünde“ wäre. Sie ist deshalb „Sünde“, weil in ihr mittels Gebeten, Opfer und dergleichen versucht werde, auf Gott Einfluss zu nehmen. Darin aber bekunde sich menschlicher Hochmut, der ein Merkmal der Sünde ist.4

Keine Vertröstung auf ein Jenseits

Jede einseitige Orientierung des religiösen Glaubens auf ein Jenseits, auf eine Erwartung eines ‚ewigen Lebens‘, muss zwangsläufig zur Lähmung in der Auseinandersetzung und der progressiven Veränderung der diesseitigen Welt führen. Geradezu reaktionär etwa die Auffassung von Thomas Lüken: „Wenn man darauf vertraut, dass das Beste erst nach dem Tod kommt – wozu braucht man dann vor dem  Tod noch … Verlustängste? Wieso soll ich Dinge begehren, die nur ein matter schattenhafter Abglanz dessen sind, was mich erwartet? … Ich will keine 70 Jahre relativer Behaglichkeit, sondern ewiges Leben.“ Auch bei Manfred Lütz wird der ideale (katholische) Christ als ein in der Kirche betendes altes, armes Mütterchen dargestellt – die seufzende, sich in ihr Schicksal fügende Kreatur mit der Aussicht auf ewige Glückseligkeit.

Doch orientiert sich Religion wirklich nur einseitig auf das Jenseits? Nach Marx ist sie nicht nur Ausdruck des wirklichen Elends und Opium des Volks, sondern zugleich auch Protestation gegen dieses Elend. „Auch religiös inspirierte Bewegungen können die illusorische und zugleich lähmende Eigenschaft religiösen Opiums überwinden, wenn es ihnen gelingt, den ‚Seufzer der bedrängten Kreatur‘ mit fundierter Kapitalismuskritik … zu verbinden“, schreibt Jan Rehmann. Hieraus resultiert die reale Möglichkeit, auch mit gläubigen Menschen manche Wegstücke im antiimperialistischen Kampf gemeinsam zu gehen. Auch sollten wir uns durch die Existenz religiösen Glaubens nicht mehr ,bedroht‘ fühlen, als es umgekehrt z. B. die Amtskirchen durch den Atheismus tun.

Fazit: Gott lässt sich nicht totschlagen, von wem auch immer und schon gar nicht mit den Ergebnissen der Wissenschaft allein. Gott und religiöser Glaube werden aber dann überflüssig sein, wenn die Menschen in solchen gesellschaftlichen Verhältnissen leben können, in denen sie ihrer nicht mehr bedürfen.

 

Prof. Dr. Horst Pickert ist Mitglied des DFV Leipzig,

Dr. Horst Schild ist amt. Vorsitzender des DFV Dresden

Anmerkungen:

1 Die Bürger der USA würden wahrscheinlich eher einen Transvestiten zum Präsidenten wählen als jemanden, der sich offen als Atheist bekennt.

2 Nicht zufällig ist für Lütz nicht etwa Feuerbach der herausragende atheistische Denker der Vergangenheit, sondern Nietzsche. An diesem kann man ja auch schön demonstrieren, wie der Atheismus jegliche Moral infrage stellt. Haben etwa nur die Sollsätze der mosaischen Zehn Gebote als ethisches Konzept einen ewigen Alleinvertretungsanspruch? Ist es nicht vielmehr schon seit der Antike bewiesen, dass der Verzicht auf eine außerweltliche, überweltliche Sicherung ihrer moralischen Normen die Menschen dazu zwingt, die Verantwortung für Moral selbst zu übernehmen? (vgl. H. Markl)

3 Das dargestellte Verhältnis von Wissenschaft und Religion zueinander kann auch eine zufrieden stellende Erklärung dafür sein, dass Wissenschaftler, darunter namhafte Naturwissenschaftler, zugleich gläubige Christen sind. Würde man der landläufigen Vorstellung folgen, dass die Wissenschaft von selbst den religiösen Glauben destruiere, ließe sich das eben genannte Phänomen schwerlich erklären.

4 Hier kann gefragt werden, ob es notwendig ist, dass wir uns als Freidenker auf Selbstverständigungsprozesse moderner protestantischer Theologie einlassen. Die Autoren verteidigen ihr Vorgehen. Sie lassen sich davon leiten, dass einige Sachkenntnis auch in Fragen der Religion von Vorteil ist, wenn es gilt, nichtreligiöse Antworten auf die Lebensfragen der Menschen zu finden.
Im Übrigen hat Karl Barth Recht, wenn er darauf besteht, dass der christliche Glaube nicht mit einer Philosophie in eins gesetzt werden darf. Tatsächlich verfehlt man das Wesen des christlichen Glaubens, wenn man in ihm nichts anderes als eine idealistische Philosophie erblickt, der man nur das theoretische Gewand abgestreift hat.

 

Verwendete Literatur:

Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik. Bd. I-IV. Zürich 1932 ff.

Dawkins, Richard: Der Gotteswahn. Berlin 2008

Haupenthal, Jörg: Und Gott sah, dass es gut war. Der moderne Atheismus: Erleuchtung oder Irrweg? Norderstedt 2006

Kissler, Alexander: Der aufgeklärte Gott. Wie die Religion zur Vernunft kam. München 2008

Lüken, Thomas: Lohnt sich Atheismus. Norderstedt 2007

Lütz, Manfred: Gott. Eine kleine Geschichte des Größten. München 2007

Markl, Hubert: Der Fluch der Wahrheitsanmaßung. In: Merkur. Berlin. Heft 2/2007

Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW.  Bd. 1. Berlin 1958

Müller, Burkhard: Das Konzept Gott – warum wir es nicht brauchen. In: Merkur. Berlin. Heft 2/2007

Onfray, Michel: Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss. München, Zürich 2006

Rehmann, Jan: Kritik des Jammertals. In: junge Welt v. 25. August 2008


Foto: Atheistische Buskampagne 2009 auf ihrer Station in Münster
Fotografiert von Bastian Greshake, Quelle: https://www.flickr.com/photos/gedankenstuecke/3591552983 (CC BY-SA 2.0)