Das Erbe der Herrenvolkdemokratien
von Andreas Wehr
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-25, Dezember 2025, S. 15-22, 84. Jahrgang
Herrenvolkdemokratien – die Herrschaft Weißer in kolonisierten Ländern – zeichnen sich durch besonders brutale Formen der Unterdrückung der Indigenen aus. Domenico Losurdo hat sich mit diesem Phänomen im Rahmen seiner Liberalismus-Studien intensiv auseinandergesetzt.
Sowohl die Niederländische und die Englische als auch die Amerikanische Revolution haben der Entwicklung der Freiheit, der politischen Gleichheit und der Demokratie entscheidende Impulse gegeben. Doch das alles galt nur für die Weißen, für die Bevölkerungen der westlichen, kolonisierenden Länder und auch lange Zeit nur für die wenigen Besitzenden dort. In den Kolonien erkämpften sich europäische Einwanderer Freiheitsrechte und verlangten nach staatlicher Unabhängigkeit.
Nach Losurdo kann man ohne die Sklaverei (und die darauffolgende Rassentrennung) „die ‚amerikanische Freiheit‘ nicht verstehen: sie wachsen, sich gegenseitig stützend, gemeinsam heran. (…) Die fast vollständige Streichung der Zensusdiskriminierungen innerhalb der weißen Gemeinschaft geht einher mit der beschleunigten Deportation der Indianer und mit der Tendenz zum Ressentiment und zur Gewalt gegen die Schwarzen. (…)
Die scharfe Grenzlinie zwischen Weißen einerseits und Schwarzen und Indianern andererseits begünstigt die Gleichheitstendenz innerhalb der weißen Gemeinschaft. Die Mitglieder einer Klassen- und Hautfarbearistokratie neigen dazu, sich selber als ‚Pairs‘ zu werten: die den Ausgeschlossenen aufgezwungene Ungleichheit ist die Kehrseite des Gleichheitsverhältnisses, das sich unter denen durchsetzt, die die Macht haben, die ‚Niedrigeren‘ auszuschließen. (…)“ [1] Im Ergebnis entsteht einen Herrenvolk democracy.
Nach Domenico Losurdo kann „die Kategorie Herrenvolk democracy zur Erklärung der gesamten Geschichte des Westens herangezogen werden. Zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts geht in Europa die Ausweitung des Wahlrechts Hand in Hand mit dem Kolonisationsprozess, der für die unterworfenen Völker den Zwang zu sklavischer oder halbsklavischer Arbeit mit sich brachte. Die Rechtsstaatlichkeit in der kapitalistischen Metropole ist eng verknüpft mit der Gewalt, der bürokratischen und Polizeiwillkür und mit dem Belagerungszustand in den Kolonien. Letztendlich ist es das gleiche Phänomen, das in den Vereinigten Staaten auftritt, nur erscheint es im Fall Europas nicht so offensichtlich, weil die Kolonialbevölkerungen nicht in der kapitalistischen Metropole leben, sondern von ihr durch den Ozean getrennt sind.“ [2]
Die Herrenvolk democracy der USA
Es ist Hannah Arendt, die 1967 – inzwischen ist sie US-Bürgerin – eine Beurteilung der beiden Revolutionen, der Amerikanischen sowie der Französischen, vornimmt: „Die Französische Revolution mündete in eine Katastrophe und wurde zu einem Wendepunkt der Weltgeschichte; die Amerikanische Revolution war ein triumphaler Erfolg und blieb eine lokale Angelegenheit (…).“[3]
Doch kommt auch sie nicht umhin einzugestehen, dass dieser „triumphale Erfolg“ nur für Weiße galt, für Schwarze und Indianer verhieß die Amerikanische Revolution hingegen nichts Gutes: Die Revolution verdankte – nach Arendt – „ihren Erfolg zu einem Gutteil dem Fehlen verzweifelter Armut unter den Freien und der Unsichtbarkeit der Sklaven in den Kolonien der Neuen Welt.
Natürlich gab es Armut und Elend in Amerika, die durchaus mit der Lage der ‚laboring poor‘ in Europa vergleichbar waren. Mochte Amerika in der Tat ‚a good poor Man´s country‘ sein, wie William Penn meinte, ein gutes Land für arme Männer, und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für die Verarmten Europas der Traum vom gelobten Land bleiben, so ist nicht weniger wahr, dass diese ‚Gutheit‘ zu einem beträchtlichen Maß vom Elend der Schwarzen abhing. (…)
Der Unterschied bestand somit darin, dass die Amerikanische Revolution aufgrund der Institution der Sklaverei und wegen der Überzeugung, Sklaven würden einer anderen ‚Rasse‘ angehören, die Existenz der Elenden übersah und damit die beachtliche Aufgabe aus dem Blick verlor, diejenigen zu befreien, die weniger durch politische Unterdrückung als durch die einfachsten Grundbedürfnisse des Lebens gefesselt waren. Les malheureux, die Unglücklichen, die im Verlauf der Französischen Revolution eine so gewichtige Rolle spielen und von ihr le peuple gleichgesetzt wurden, existieren in Amerika entweder nicht oder blieben völlig im Verborgenen.“ [4]
Ganz ähnlich, in seiner Wortwahl nur deutlich schärfer, beschreibt Losurdo den Liberalismus der USA: „Wir haben es (hier) mit einem Rassenstaat zu tun, der sich, der ausdrücklichen Erklärung seiner Theoretiker und Apologeten im Süden zufolge, in ‚drei Kasten, die freien Weißen, die freien Farbigen, die farbigen Sklaven‘ gliedert.“[5]
Und somit spielt die Rassendiskriminierung „in den Vereinigten Staaten eine entscheidende Rolle im nationalen Maßstab (…), so empfiehlt es sich von einer Herrenvolk democracy zu sprechen.“ Heutige amerikanische Historiker verwenden dabei bewusst die deutsche Formulierung Herrenvolk, um die enge Verwandtschaft zwischen dem US-amerikanischen Rassismus und der rassistischen Ideologie des deutschen NS-Staats zu betonen.[6]
Und diese Herrenvolk democracy verschwindet auch nicht mit dem Ende der Sklaverei nach dem Sieg der Union über den abtrünnigen Süden im amerikanischen Bürgerkrieg: „Die formelle Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten im Jahre 1865, dreissig Jahre nach der entsprechenden Maßnahme in den englischen Kolonien und mit einer noch größeren Verspätung im Vergleich zu den Ländern, die die Unabhängigkeit von Spanien erobert hatten, setzt diesem Rassenstaat keineswegs ein Ende. Wir sehen ein Regime der white supremacy am Werk, das die Rassentrennung in den Schulen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Aufzügen und auf dem Friedhof und in jedem Aspekt des sozialen Lebens sanktioniert und die sexuellen Beziehungen und Eheverbindungen zwischen den Rassen verbietet und wie ein Verbrechen behandelt.“[7]
Die Praxis der Rassentrennung bringt befremdliche Blüten hervor: „In Florida werden sogar verschiedene Galgen für Schwarze und Weiße Todeskandidaten verwendet.“[8] Diese Zweiteilung wird als Segregation bezeichnet. Es ist ein Begriff, den die Gesetzgeber in den Südstaaten selbst verwenden, bevor er Eingang in die Geschichtswissenschaft fand.
Was die Geschichte der Vereinigten Staaten angeht, so kann „eine ähnliche Betrachtung (…) hinsichtlich der sogenannten ‚Progressive Era‘ angestellt werden, welche die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts umfasst; sicher zeichnet sie sich durch zahlreiche demokratische Reformen aus (die Direktwahl des Senats, das Wahlgeheimnis, die Einführung der Primärwahlen und des Instituts des Referendums usw. werden gewährleistet), stellt aber gleichzeitig für die Indianer (die ihrer letzten Ländereien beraubt und einem unerbittlichen Anpassungsprozess unterzogen werden, der ihnen sogar ihre kulturelle Identität aberkennen will) und für die Schwarzen (Zielscheibe des brutalen Terrors des Ku-Klux-Klan) eine besonders tragische Periode dar.“[9]
Im Verlauf der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts veränderte sich das Erscheinungsbild der Städte im Süden der USA durch die Errichtung von Mauern und Trennwänden, Schilder mit den Aufschriften ‚Whites only‘ und ‚Colored only‘ wurden aufgehängt, etwa an Trinkbrunnen oder Wartesälen. In öffentlichen Gebäuden und privaten Geschäften gab es doppelte Eingangstüren.“[10]
Das südafrikanische Apartheitssystem kopiert dieses System der Rassentrennung. In Nazideutschland wird es dann auf die Diskriminierung der Juden angewandt: So werden Parkbänke als „Nur für Arier“ benutzbar erklärt. Die wenigen für Juden vorgesehenen werden gelb angestrichen. In verschiedenen Landesteilen wird selbst der Wald zum deutschen Wald erklärt, zu dem Juden keinen Zutritt haben.[11]
Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ist im Süden der USA auch die furchtbare Praxis des Lynchens Farbiger verbreitet. In seinem 2017 erschienenen Buch „Il marxismo occidentale, Come nacque, come mori, come può rinascere“ auf Deutsch 2021 veröffentlicht unter dem Titel „Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte“, gibt Losurdo eine vom jungen Ho Chi Minh, dem Befreier Vietnams, beobachtete grausame Szene wieder: „Als er 1924 auf der Suche nach Arbeit in die Vereinigten Staaten kommt, wird er voller Entsetzen Zeuge eines Lynchmordes, der langsamen und endlosen Qualen eines Schwarzen, denen eine amüsierte und feiernde Menge von Weißen beiwohnt. Wir übergehen die einzelnen Grausamkeiten, um uns auf die politische Zusammenfassung zu konzentrieren: ‚Auf dem Boden, umgeben von Dreck aus Fett und Rauch, schneidet ein schwarzer Kopf, verstümmelt, geröstet, deformiert, eine schreckliche Grimasse und scheint die untergehende Sonne zu fragen: Und das ist Zivilisation?‘“[12]
Die Bilanz der Morde ist erschreckend: „Zwischen 1880 und 1900 wurden 2060 Afroamerikaner gelyncht. Einem Drittel von ihnen warf man sexuelle Übergriffe oder einfach unangemessenes Verhalten gegenüber weißen Frauen vor.“[13]
In seinem Artikel „Gleichheit, Allgemeinheit, Differenz“, veröffentlicht 1999 in der Aufsatzsammlung „Brecht – Eisler – Marcuse 100. Fragen kritischer Theorie heute“[14], beschreibt Losurdo das Vorgehen der Exponenten der white supremacy gegenüber allen nicht Dazugehörenden. Von Frauen, Besitzlosen und Nichtweißen wird verlangt, sich den Kulturen, Sitten und Sprachgewohnheiten der Herrschenden anzupassen. Dem dienen die „Politik der Homologisierung und die Parolen repressiven Egalitarismus und Individualismus“.[15]
Was das konkret hieß, zeigt er am Schicksal nordamerikanischer Indianer, die Opfer der Umerziehung wurden. Er zitiert Philanthropen „welche mit den besten Absichten darum bemüht sind, die Indianer durch Zivilisierung und Assimilation vor ihrem Verfall zu retten: Man muss entschlossen harte Strafen anwenden, um die Indianer zu zwingen, auch untereinander nur Englisch zu sprechen, auf ihre Tänze und fremdartige Kleidung zu verzichten, die Haare kurz zu tragen, d.h. sich wie gute Amerikaner und gute Weiße zu verhalten.“ Dieser Konformitätsdruck lastete nicht nur auf den Ureinwohnern Nordamerikas. Überall trat man so in den weißen, liberalen Gesellschaften Schwarzen, Juden, Angehörigen nationaler Minderheiten und anderen Unangepassten gegenüber.
Voraussetzung der Integration dieser Minderheiten war nicht allein die mehr oder weniger freiwillige Übernahme von Kultur und Werten der dominierenden weißen Gesellschaften, sondern auch die Bereitschaft, sich ganz als Individuum zu fühlen. Die Betroffenen sollen sich weder einem eigenen politischen Organismus angehörig fühlen, noch länger einen eigenen Stand bilden. Am besten ist es, wenn sie ihre eigene Geschichte und ihr Herkommen vergessen: „Die égalité wird hier Synonym für Homologisierung. Die Gleichheit fungiert hier gleichsam als Instrument einer ‚Gleichschaltung‘“.[16]
Die US-amerikanische Wissenschaftlerin und Aktivistin Angela Davis stellt daher die wichtige Frage: „Wie könnte die Kategorie Mensch neu definiert werden, sodass sie nicht nur AfrikanerInnen, Indigene und andere Nicht-EuropäerInnen einschließt, sondern den Menschen nicht nur als Individuum, sondern auch als kollektives Wesen begreift?“[17]
Trotz aller Erfolge der Bürgerrechtsbewegung sind die USA auch heute noch – mehr als 150 Jahre nach Aufhebung der formellen Sklaverei – von einer Überwindung des Rassismus weit entfernt: Vor allem Farbige erfahren weiterhin bittere Armut, sind häufiger als Weiße Opfer von Polizeigewalt, und ihr Anteil an Häftlingen ist weit überproportional. In einem Interview aus dem Jahr 2014 beschrieb Angela Davis die Situation: „Obwohl Schwarze in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Hierarchien aufgestiegen sind (das spektakulärste Bespiel war die Wahl von Barack Obama 2008), ist die überwältigende Mehrheit der Schwarzen weiterhin Rassismus ausgesetzt, in Wirtschaft und Bildung genauso wie in Gefängnissen, weit mehr als zur Zeit vor der Bürgerrechtsbewegung.“[18]
Seitdem hat sich die Situation nicht verbessert, im Gegenteil! Unter den Präsidentschaften von Trump hat der Rassismus in den USA einen neuen Aufschwung genommen. Nicht alleine nur Schwarze, sondern auch Latinos und Natives sind von vielfältigen neuen Repressionen und Diskriminierungen betroffen.
Losurdo ist aber weit davon entfernt, die USA deshalb des ewigen Rassismus zu beschuldigen und es etwa gegenüber den europäischen Kolonialländern Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Portugal und Spanien zurückzusetzen: „Das jahrhundertlange Andauern des Rassenstaats in den Vereinigten Staaten kann nicht mit einem mythischen, ewigen und einförmigen Amerika erklärt werden, sondern damit, dass sich in diesem Land die Kolonialvölker auf dem gleichen Territorium befinden, auf dem die herrschende Rasse lebte, und diese sah sich daher zu Maßnahmen gezwungen, die in Europa überflüssig waren.
Dort kam die herrschende weiße Rasse wegen der räumlichen Distanz, die sie von den ‚niederen‘ Rassen trennt, die jenseits der Meere angesiedelt sind, leichter ihre Reinheit bewahren.“[19]
Seit einiger Zeit sehen sich allerdings auch die alten europäischen Kolonialländer mit einer starken Zuwanderung vor allem aus ihren früheren Kolonien konfrontiert, die sie womöglich bald vor ähnliche Herausforderungen stellen werden, wie sie in den USA schon lange existieren.
Die Herrenvolkdemokratien Kanada, Australien und Neuseeland
Weiße Siedlerstaaten, vergleichbar den USA, entstanden als Ergebnis europäischer Eroberungen und Einwanderungen auch in Kanada, Australien, Neuseeland, in Algerien, Südafrika und in jüngster Vergangenheit mit Israel in Palästina. In seinem Buch „La lotta di classe – Una storia politica e filosofica“, erschienen 2013, auf Deutsch „Der Klassenkampf – oder die Wiederkehr des Verdrängten?“, stellt Domenico Losurdo die Kolonisierungspolitik in einen Zusammenhang mit den Klassenauseinandersetzungen in den europäischen Ländern: „Mit der Zuspitzung des gesellschaftlichen Konflikts in Europa wohnen wir dem Aufkommen von Theorien bei, in denen in expliziter Manier die Annexion des Bodens in den Kolonien gefordert wird, um diesen den Mittellosen in den kapitalistischen Metropolen zuzuweisen.
Im Jahr 1868 beklagte (der Historiker und Schriftsteller, A.W.) Ernest Renan in Frankreich, wo ein langer revolutionärer Zyklus letztlich eine sozialistische Bewegung hervorgebracht hatte, die Französische Revolution habe ‚die Entwicklung der Kolonien‘ blockiert und somit ‚den einzigen Ausweg versperrt, der den Staaten die Flucht vor den Problemen des Sozialismus ermöglicht‘. Diese These bekräftige er in den Monaten nach der Pariser Kommune: ‚Die Kolonisierung in großem Maßstab ist eine politische Notwendigkeit ersten Ranges. Eine Nation, die nicht kolonisiert, ist unwiderruflich zum Sozialismus, zum Krieg zwischen Armen und Reichen verdammt.‘“[20]
Losurdo erinnert in seinem Buch „La questione comunista. Storia e futoro di un‘ idea“ von 2021, auf Deutsch „Kommunismus. Geschichte, Erbe und Zukunft“, an die Schrift Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in der der britische Politiker und Premierminister der Kapkolonie, Cecil Rhodes, zu Wort kommt:
„‘(…) Meine große Idee ist die Lösung des sozialen Problems, d.h., um die vierzig Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschließen, um den Überschuss an Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzgebiete schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen. Das Empire, das habe ich stets gesagt, ist eine Magenfrage. Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.‘“[21]
Der deutsche Historiker Arthur Rosenberg beschreibt die „koloniale Demokratie“ als eine „Sonderform der bürgerlichen Demokratie in überseeischen Ländern, wo die weißen Einwohner riesige, entweder ganz leere oder nur dünn bevölkerte Räume zur Besiedlung vorfinden. Der Klassenkompromiss wird hier mit Hilfe des freien Landes möglich.“[22]
Wie in den USA wurden auch in den weißen britischen Kolonien Kanada, Australien und Neuseeland die einheimischen Bevölkerungen von den Eroberern verfolgt, dezimiert, in Reservate abgeschoben oder zur Assimilierung gezwungen, bei der regelmäßig verlangt wurde, sich der weißen herrschenden Kultur vollständig anzugleichen.
Im Unterschied aber zu den Bewohnern der Neuengland-Staaten, den späteren USA, haben „die weißen Siedler des britischen Empire keine großen Probleme, anerkannt zu werden. Die Regierung von London hat die Lektion der amerikanischen Revolution gelernt und entscheidet sich seither dafür, der Politik der ‚Versöhnung‘ zu folgen, die Burke seinerzeit für die Beziehung zu den Völkern vorgeschlagen hatte, ‚in deren Adern das Blut der Freiheit kreist‘.
Und so erhalten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kanada, Neuseeland, Australien, Süd-Afrika zunächst eine weitgehende Autonomie innerhalb des Commonwealth, um sich danach auf den Weg zur vollen Unabhängigkeit zu machen. Es ist ein gefestigter Grundsatz, bemerkt John S. Mill 1861, dass, zumindest auf der Ebene der Innenpolitik, die ‚Kolonien von europäischer Rasse‘ das volle Recht zur Selbstregierung haben.
Wie im Fall der Vereinigten Staaten kann die Selbstregierung der Siedler auch eine drastische Verschlechterung der Lage der Völker in den Kolonien oder kolonialer Herkunft mit sich bringen, die jetzt der ausschließlichen und ungehinderten Kontrolle ihrer direkten Unterdrücker unterworfen sind.“[23]
Eine besonders unrühmliche Rolle bei dieser Unterdrückung spielten von Beginn an die Kirchen, denen häufig die Aufgabe übertragen wurde, die Kinder der Indigenen von ihren Familien und damit zugleich von ihrer Kultur und Sprache zu entfremden und zu unauffälligen Mitgliedern der weißen Gesellschaft zu erziehen. Erst in jüngster Zeit wurden in Australien, Kanada und Neuseeland schwerste Fälle dieser menschenverachtenden Praktiken aufgedeckt.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete darüber:
„In Kamloops in der Westprovinz British Columbia konnten im Mai 2021 mittels Bodenradar die sterblichen Überreste von 215 Kindern identifiziert werden. Die Schule hatte von 1893 bis 1969 die katholische Ordensgemeinschaft der Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria betrieben. Nach der Untersuchung weiterer Schulen wuchs die Zahl der nachgewiesenen Kinderskelette auf mehr als tausend. Die jüngsten Opfer waren kaum vier Jahre alt. Mehr als 150.000 indigene Kinder im Alter zwischen vier und 16 Jahren – Angehörige der First Nations, der Inuit und der Métis – wurden von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Schließung der letzten Heimschule im Jahre 1997 in diesen Einrichtungen ‚umerzogen‘.
Sie wurden gezielt von ihren kulturellen und sprachlichen Wurzeln abgeschnitten und der ‚christlichen Zivilisation‘ zugeführt. Unterrichtet wurde auf Englisch und Französisch, der Gebrauch der jeweiligen Muttersprache war verboten.“[24]
Die in katholischen Einrichtungen begangenen Verbrechen waren so monströs, dass sogar Papst Franziskus bei seinem Besuch in Kanada 2022 sich bemüßigt fühlte, dafür im Namen der Kirche um Entschuldigung zu bitten.
Auch in Australien wurde die „Vernichtung der Ureinwohner“, die unter britischer Herrschaft „längst begonnen hatte (…) durch die Selbstregierung beschleunigt.“[25]
Öffentlich kaum bekannt sind die systematische Vertreibung, Entrechtung und die Tötung von Indigenen, den Aborigines: „In diesem Sinne haben wir es, wie ein englischer Liberaler mit einer entschieden abweichenden Position zu Anfang des 20. Jahrhunderts feststellt, nämlich John A. Hobson, mit einer Art von ‚privatem Massaker‘ zu tun, das von den Siedlern, die die Selbstregierung oder zumindest eine substantielle Handlungsfreiheit an sich gerissen haben, zu Ende geführt wird.“[26]
Und noch immer werden die australischen Ureinwohner diskriminiert. In einem Zeitungsbericht heißt es: „In Australien sind die 880. 000 Indigenen bis heute sozial und wirtschaftlich schlechter gestellt als die restliche Bevölkerung. Der Anteil der Aborigines, die in den Gefängnissen des Landes sitzen, ist im Vergleich zu ihrem Anteil in der Bevölkerung extrem hoch. Viele indigene Kinder wachsen immer noch außerhalb ihrer Familien auf.“ [27]
Ein Referendum für eine Verfassungsänderung, nach dem die australischen Ureinwohner mehr politische Mitspracherechte bekommen sollten, scheiterte 2023, da die für eine Änderung notwendige Mehrheit nicht zustande kam.
Was die Situation in Neuseeland im 19. Jahrhundert angeht, so zitiert Losurdo die „Times“, die 1864 über das Land schrieb, dass es „seit einigen Jahren über eine ‚verantwortliche Regierung‘ und das heißt letztlich eine Selbstregierung der weißen Gemeinschaft verfügt: ‚Wir haben die imperiale Kontrolle über diesen Teil des Empire völlig verloren und sind – demütig, aber nützlich – gezwungen, für die Kolonialversammlung Männer und Geld aufzutreiben zur Vernichtung [extermination] der Eingeborenen, mit denen wir keinen Streit haben.‘“[28]
Heute gilt Neuseeland als demokratisches Musterland und wirbt um Touristen mit der Exotik seiner indigenen Bevölkerung, den Maoris. Die Maoris werden aber seit der Eroberung des Landes durch Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts und anschließender Kolonisierung von weißen Regierungen diskriminiert und sozial ausgegrenzt:
„Die Arbeitslosenquote liegt unter ihnen doppelt so hoch. Drogen, Spielsucht und häusliche Gewalt sind vor allem in Maori-Familien stark verbreitet. Und die Selbstmordrate ist dreimal so hoch. 52 Prozent aller Gefängnisinsassen – und zwei Drittel der weiblichen Häftlinge – sind Maori, obwohl sie nur 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen.“[29]
Ihre Kinder verlassen die Schule doppelt so häufig ohne Abschluss wie andere Jugendliche und ihre Lebenserwartung liegt um durchschnittlich acht bis neun Jahre unter der aller Neuseeländer. Der 1840 zwischen den weißen Siedlern und den Maoris geschlossene Vertrag von Waitangi, der den Indigenen gewisse Rechte garantierte und deshalb als die eigentliche Gründungsurkunde Neuseelands gilt, wird von weißen konservativen Regierungen immer wieder in Frage gestellt.
Die beschriebenen Diskriminierungen lassen die auf den ersten Blick oft tadellos erscheinenden Menschenrechtsbilanzen solch liberaler Staaten wie Australien, Kanada und Neuseeland in einem anderen Licht erscheinen, handelt es sich doch bei ihnen von ihrer Entstehung her um klassische Herrenvolkdemokratien, die dieses Erbe bis heute nicht überwunden haben.
Andreas Wehr leitet gemeinsam mit Dr. Marianna Schauzu das Marx-Engels-Zentrum Berlin. Der Text ist ein Auszug aus der Veröffentlichung auf https://mez-berlin.de/positionen-detailansicht/das-erbe-der-herrenvolkdemokratien.html
Quellen und Anmerkungen
[1] Domenico Losurdo, Lenin, die Herrenvolk democracy und das Schwarzbuch des Kommunismus, in: Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 22, 2003, Napoli, S. 49
[2] Domenico Losurdo, Lenin, die Herrenvolk democracy und das Schwarzbuch des Kommunismus, a.a.O. S. 50
[3] Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, 14. Auflage 2023, München, S. 32
[4] Ebenda, S.24 f.
[5] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, Eine Gegengeschichte des Liberalismus, 2010, Köln, S. 136
[6] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 141
[7] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? Berlin 2010, S. 33
[8] Loïc Wacquant, Ein teuflisch penibles System, in: Le Monde diplomatique, März 2024, Berlin, S.13
[9] Domenico Losurdo, Fortschritt, Emanzipation und „Ernst des Negativen“. Zur Rehabilitierung einer heute verrufenen Idee, in: Das Argument 230, 41. Jahrgang Heft 2/3, 1999, S. 242
[10] Ebenda
[11] In seinen Tagebüchern zählt Victor Klemperer unzählige Beispiele solcher Diskriminierungen auf, die den Juden in Nazideutschland das Leben schwermachten, bevor man schließlich zu ihrer Ermordung überging. Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933-1945, 2 Bände, Berlin 1995
[12] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, Köln, 2021, S. 51
[13] Loïc Wacquant, Ein teuflisch penibles System, in: Le Monde diplomatique, a.a.O., S.13
[14] Domenico Losurdo, Gleichheit, Allgemeinheit, Differenz – Für einen konkreten Universalismus, in: Brecht – Eisler – Marcuse 100. Fragen kritischer Theorie heute. Institut für kritische Theorie, Argument Sonderband neue Folge 266, Berlin/Hamburg 1999
[15] Losurdo, Gleichheit, Allgemeinheit, Differenz – Für einen konkreten Universalismus, a.a.O., S.80
[16] Losurdo, Gleichheit, Allgemeinheit, Differenz – Für einen konkreten Universalismus, a.a.O., S. 81
[17] Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, Münster 2016, S. 108
[18] Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, a.a.O., S. 16
[19] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 36 f.
[20] Domenico Losurdo, Der Klassenkampf. Oder die Wiederkehr des Verdrängten? Köln 2016, S. 188 f.
[21] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Lenin-Werke, Band 22, S.261.
[22] Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, Frankfurt am Main 1967, S. 303
[23] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 283
[24] Wahrheit, Gerechtigkeit und Heilung. Schritt der Versöhnung: Der Papst entschuldigt sich bei Kanadas Indigenen, in: FAZ vom 20.04.2022
[25] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 284
[26] Ebenda
[27] Der Tag der Invasion. Australien blickt anders als früher auf seinen Nationalfeiertag, in: FAZ vom 27.01.2023
[28] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 283 f.
[29] Die Wut der Maori, in: Le Monde diplomatique, Oktober 2025, S. 20
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Bild oben: Innenraum der Kathedrale des Heiligen Herzens in Kamloops.
Foto: Jfvoll, CC BY-SA 4.0.
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