Der Erbfeind im Osten
von Stefan Siegert
„Am Morgen vorgelesen“ hieß die NDR-Sendung schon in meiner Schulzeit vor mehr als 60 Jahren. Die Auffassung davon, was Literatur ist, scheint sich seit Hanjo Kestings legendären Zeiten in Richtung einer nicht mehr klaren Unterscheidung zwischen Literatur, Belletristik, schreibendem Auto-Screening u.ä. verändert zu haben, aber die Sendung gibt es immer noch. Und es findet sich nach wie vor in der Literatur Bemerkenswertes. Beim Surfen in den Links der Beiträge anlässlich Thomas Manns 70. Todestags stieß ich auf zwei Sätze:
„Einst zogen deutsche Ritter in weite Fernen, um für das Ideal ihres Glaubens zu streiten. Heute kämpfen unsere Soldaten in der Unendlichkeit des Ostens, um Europa vor der Vernichtung zu bewahren.“
Der Ton wäre zu pathetisch heute. Aber der Kerngedanke – auch wenn deutsche Soldaten nunmehr auch wieder 2025 ff. nimmermehr in die Unendlichkeit des Ostens vordringen werden – ist hochaktuell: der Feind steht wieder im Osten! Er bedroht uns. Und irgendwann müssen wir um 5 Uhr 45 zurückschießen und Bombe (auf die Ukraine) mit Bombe (auf den neuen Erbfeind) vergelten, um Europa vor Russland zu retten. Eine skurrile Konstellation. Das Zitat oben stammt aus Joseph Goebbels‘ berüchtigter Sportpalastrede vom 18. Februar 1943, es war der Versuch des Reichspropagandaministers, sich gegen die tiefenmoralischen Folgen der soeben erfolgten katastrophalen Niederlage des deutschen Militarismus in Stalingrad zu stemmen.
Stefan Siegert ist Autor mit Schwerpunkt Musik und politisches Feuilleton
Bild oben: Kolonne von Motorrad-Gespannen der Wehrmacht in der Sowjetunion, Aufnahme von 1942
Foto: Bundesarchiv, Bild 101I-078-3076-16A / Fischer, CC BY-SA 3.0 de
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5475819
