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Erst das Urteil, dann die Geschworenen

Weshalb der Fall Joachim Paul (AfD) an Lewis Carroll „Alice im Wunderland“ erinnert

„Erst das Urtheil, der Ausspruch der Geschwornen nachher.“ – so lässt Lewis Carroll im zwölften Kapitel von Alice’s Abenteuer im Wunderland die Königin sprechen. Ein Verfahren wird zur Farce: Beweise werden hingebogen, Regeln im Moment erfunden, und am Ende steht das Urteil bereits fest, bevor irgendwer prüfen durfte. Wer die Entscheidung des Wahlausschusses Ludwigshafen samt nachfolgendem Beschluss des Verwaltungsgerichts (VG) Neustadt liest, reibt sich unwillkürlich die Augen: Haben wir – politisch motiviert – zuerst das Urteil – Verbot der Kandidatur – und dann irgendwann später das Verfahren – Wahlprüfung – bekommen?

Ein Meinungsbeitrag von Sabiene Jahn

Der Fall in Kürze zur Erinnerung: Der Wahlausschuss ließ Joachim Paul (AfD) nicht zur OB-Wahl zu – gestützt auf „Zweifel an der Verfassungstreue“ nach einem Schreiben des Verfassungsschutzes. Das Verwaltungsgericht Neustadt (Eilverfahren) wies den Antrag ab, erklärte ihn für unzulässig und verwies Paul auf die nachträgliche Wahlprüfung. Begründung: Die gebotene umfangreiche Prüfung der Verfassungstreue sei so kurz vor der Wahl nicht zu leisten, die Beständigkeit der Wahl gehe vor. Die praktische Folge: Der Kandidat ist draußen, die Stimmzettel werden gedruckt und die Klärung, ob der Ausschluss rechtmäßig war, wird ins Danach verlagert. Soweit so gut, aber….

Kern des Streits ist ausschließlich die Kompetenz eines kommunalen Wahlausschusses. Dessen Aufgabe ist traditionell formaler Natur: Fristen, Unterlagen, Wählbarkeitsvoraussetzungen wie Alter, Staatsangehörigkeit, Wohnsitz – keine politische Inhalts- oder Gesinnungsprüfung. Eine materielle Verfassungstreue-Prognose – ob jemand „jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintritt“- ist kein typischer Formalcheck, sondern ein tief eingreifender Wertungsakt – mit Beweisaufnahme, Abwägung, gegebenenfalls Gegenvortrag. Genau das sprengt eigentlich die schmale Verfahrensspur eines Wahlausschusses.

Pragmatismus-Manöver oder „Winkelzug“?

Das Verwaltungsgericht argumentiert, Zeitmangel und Wahlbeständigkeit und deshalb gelte kein Eilrechtsschutz, stattdessen Wahlprüfung nachher. Juristisch ist dieses Denken nicht aus der Luft gegriffen – die Wahlrechtsdogmatik kennt das Schutzgut der Stabilität und Beständigkeit. Doch der Eilrechtsschutz ist gerade dafür da, gegen vor der Wahl eintretende, irreparable Nachteile (Ausschluss vom Stimmzettel) rechtzeitig Abhilfe zu schaffen. Wird der Bewerber vorab ausgeschlossen, kann die spätere Wahlprüfung den Schaden faktisch nicht heilen, denn die Wahl ist gelaufen und ein späterer Erfolg käme einer politischen Wiedergutmachung auf dem Papier gleich. Das Gericht hätte – zumindest vertretbar – die Linie ziehen können: Kompetenzüberschreitung des Wahlausschusses liegt nahe, solange nur Formalien kontrolliert werden dürfen. Dann hätte es im Eilrechtsschutz die vorläufige Zulassung anordnen können, bis in der Hauptsache geklärt ist, ob eine materiell-politische Prüfung überhaupt zulässig war.

Das Verwaltungsgericht hat einen dogmatisch möglichen, aber demokratiepraktisch höchst problematischen Weg gewählt. „Winkelzug“? Juristen würden sagen: strenger Formalismus zugunsten der Wahlstabilität, auf Kosten effektiven Rechtsschutzes. Politisch wirkt es wie „erst das Urteil (Ausschluss), das Verfahren (Wahlprüfung) später“. Eine Vorverlagerung politischer Auseinandersetzung in Wahlausschüsse, gestützt auf verfassungsschutzliche Wertungen, entzieht den Wählerinnen und Wählern eine zentrale Auswahlentscheidung. Selbst wenn einzelne Vorwürfe schwer wiegen mögen. Der richtige Ort für die inhaltliche Bewertung eines Kandidaten ist der Wahlkampf und die Urne. Alles andere öffnet die Tür für Kontaktschuld, Anscheinsbeweise und präventive Disqualifikation.

Carroll als Spiegel

Damit zurück ins Wunderland. Der folgende Auszug aus Kapitel 12 illustriert das Motiv des umgekehrten Rechtsganges – erst die Sanktion, dann die Begründung: König: „Wenn du es nicht unterschrieben hast, so macht das die Sache nur schlimmer. Du mußt schlechte Absichten dabei gehabt haben, sonst hättest du wie ein ehrlicher Mann deinen Namen darunter gesetzt.“ (Beifall.) Königin: „Das beweist seine Schuld.“ Alice: „Es beweist durchaus gar nichts! Ihr wißt ja noch nicht einmal, worüber die Verse sind!“ […] König (zum x-ten Mal): „Die Geschwornen sollen ihren Ausspruch thun.“ Königin: „Nein, nein! Erst das Urtheil, der Ausspruch der Geschwornen nachher.“ Alice: „Dummer Unsinn! Was für ein Einfall, erst das Urtheil haben zu wollen!“ Königin: „Schlagt ihr den Kopf ab!“ (Carroll, Alice’s Abenteuer im Wunderland, Kap. 12, „Alice ist die Klügste“.)

Die Parallele zur Gegenwart liegt in der Reihenfolge: Erst der Ausschluss, dann irgendwann die Prüfung. Dass hier kein Strafprozess, sondern Wahlrecht betroffen ist, ändert nichts am Eindruck verkehrter Prozesslogik. Was jetzt zählt ist Transparenzpflicht, denn die genaue Rechtsgrundlage und Kompetenzabgrenzung des Wahlausschusses müssen offengelegt werden. Eilrechtsschutz mit Augenmaß: Wo irreparable Nachteile drohen, darf das Gericht nicht hinter Wahlstabilität per se zurücktreten. Eine vorläufige Zulassung bis zur Klärung in der Hauptsache ist ein milderes Mittel. Politische Mäßigung: Drohungen und Anfeindungen gegen Wahlorgane sind inakzeptabel, die Kritik am Beschluss bleibt jedoch legitim und sie ist allemal nötig.

Der Fall Joachim Paul ist moralisch und rechtspolitisch bedenklich. Juristisch ist der Weg des Verwaltungsgerichts zwar vertretbar, aber er unterminiert den effektiven Rechtsschutz in einem Bereich, in dem die politische Teilhabe auf dem Spiel steht. Wenn Wahlausschüsse über Gesinnung entscheiden und Gerichte sagen „prüfen wir später“, dann steht der Satz der Wunderland-Königin plötzlich erschreckend nüchtern im Raum. Am Oberverwaltungsgericht Koblenz wird die Klage für die nächste Instanz vom möglichen AfD-Oberbürgermeisterkandidaten Joachim Paul weiterverfolgt, so bestätigt er am Mittwoch.

Verwaltungsgericht Neustadt a. d. Weinstrasse wich aus

Das Verwaltungsgericht Neustadt hat den Kern des Streits nicht berührt. Pauls Antrag zielte im Eilverfahren auf eine schlichte Feststellung: Der Wahlausschuss durfte keine materielle Verfassungstreue-Prognose vornehmen, sondern nur Formalien prüfen. Das wäre eine klare Kompetenzfrage gewesen, schnell und ohne tiefe Beweisaufnahme lösbar. Doch das Gericht wich aus. Es erklärte den Antrag für unzulässig und verwies Paul auf das spätere Wahlprüfungsverfahren. Die Begründung, eine inhaltliche Klärung sei zu komplex, die Wahlbeständigkeit gehe vor. Damit hat das VG den Streit nicht entschieden, sondern vertagt – mit der faktischen Folge, dass der Bewerber am 21. September nicht auf dem Stimmzettel steht.

Genau das ist jedoch der Haken. Wer so verfährt, nimmt dem Eilverfahren seine eigentliche Funktion. Dieses Verfahren existiert gerade, um irreparablen Schaden zu verhindern – und nichts ist irreparabler, als von einer Wahl ausgeschlossen zu bleiben.

Richter zwischen Ernennung und Unabhängigkeit

Richter sollen unabhängig urteilen – das ist das A und O des Rechtsstaats. Doch auch sie werden in bestimmten politischen Zeiten ernannt, und diese Zeiten prägen Wahrnehmung und Erwartung. Prof. Dr. Lars Brocker, Jahrgang 1967, wurde 2012 – noch unter Ministerpräsident Kurt Beck und Justizminister Jochen Hartloff (beide SPD) – zum Präsidenten des Oberverwaltungsgerichtes Rheinland-Pfalz und des Verfassungsgerichtshofs berufen. Damals gab es die AfD noch nicht – ihr Gründungsdatum lag erst im Februar 2013. Eine explizite „Anti-AfD“-Strategie konnte bei dieser Ernennung also keine Rolle spielen. Gleichwohl, seit über zehn Jahren führt Brocker die höchste Verwaltungsgerichtsbarkeit des Landes – und das in einem Umfeld, in dem die AfD längst zu einem Hauptgegner der etablierten Parteien geworden ist. Auch wenn er seine Entscheidungen streng juristisch fällen mag, lebt er nicht im luftleeren Raum. Die politische Atmosphäre der letzten Dekade hat auch das Amt, das er verkörpert, unweigerlich gezeichnet. Anders ist der Fall Johannes Göbel, Jahrgang 1978. Er wurde 2025 – unter Ministerpräsident Alexander Schweitzer und Justizminister Herbert Mertin (FDP) – zum stellvertretenden Vorsitzenden am OVG ernannt. Da war die AfD längst fest im politischen Koordinatensystem verankert, und die Haltung der Landesregierung unmissverständlich, eine harte Linie gegen die Partei. Wer in diesem Klima aufsteigt, trägt zwangsläufig die Fußnote seiner Zeit mit, auch wenn er sie im Gerichtssaal von seiner Entscheidung trennen sollte.

Alles „dummer Unsinn“

Im Koblenzer Sitzungssaal sollte nicht über Verse aus Carrolls Wunderland verhandelt werden, sondern über Recht und Kompetenz – egal wie eine Landesregierung in RLP, der Verfassungsschutz oder die Wahlausschuss-Vorsitzende über den möglichen Oberbürgermeisterkandidaten denkt. Der Verdacht, dass auch hier „erst das Urteil, dann die Geschworenen“ droht, hängt im Raum. Die Richter können diesen Eindruck nur entkräften, indem sie die Dinge nüchtern auf die Füße stellen. Denn es geht um eine schlichte Frage: Durfte der Wahlausschuss das überhaupt? Ein Gremium, das normalerweise Strichlisten zählt und Geburtsdaten prüft, wagte sich an die Gesinnungsprüfung – und das Verwaltungsgericht ließ es geschehen. Doch Eilrechtsschutz existiert gerade, um irreparable Schäden zu verhindern. „Er darf nicht ins Leere laufen“, hat das Bundesverfassungsgericht unzählige Male betont. Wer einmal nicht auf dem Stimmzettel steht, kann dies durch ein späteres Hauptsacheurteil nicht mehr heilen. Genau deshalb liegt der Ball nun beim Oberverwaltungsgericht Koblenz. Bestätigt es die Linie des Verwaltungsgericht, wäre das nicht nur Formalismus, sondern die Fortschreibung eines politischen Machtspiels durch Verfahrensverschiebung. Stellt es den Fehler klar, könnte es den Schaden heilen – indem es Paul vorläufig zulässt. Andernfalls bliebe nur der Gang nach Karlsruhe. Dort aber gilt eine Logik, die Carrolls Königin nicht gefallen würde: erst prüfen, dann urteilen. Alles andere bleibt „dummer Unsinn“.

Sabiene Jahn, Trägerin des Kölner Karlspreises für Engagierte Literatur und Publizistik, ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes, LV Rheinland-Pfalz / Saarland

Quellen

1.) https://vgnw.justiz.rlp.de/presse-aktuelles/pressemitteilungen/detail/wahl-des-oberbuergermeisters-der-stadt-ludwigshafen-eilantrag-des-afd-kandidaten-bleibt-ohne-erfolg

2.) https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/vg-neustadt-vg3l88925nw-ludwigshafen-afd-kandidat-oberbuergermeisterwahl

3.) https://de.wikipedia.org/wiki/Lars_Brocker

4.) https://ovg.justiz.rlp.de/presse-aktuelles/pressemitteilungen/detail/johannes-goebel-zum-senatsvorsitzenden-am-oberverwaltungsgericht-ernannt

5.) https://www.vorwaerts.de/parteileben/malu-dreyer-afd-ist-grosse-gefahr-fur-offene-gesellschaft

6.) https://www.tagesspiegel.de/politik/wer-verdient-die-rote-robe-7555276.html

7.) https://merkurist.de/koblenz/ludwigshafen-gericht-bestaetigt-afd-kandidat-aus-koblenz-joachim-paul-darf-kein-ob-werden_bvnU/UL1c

8.) https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Paul_%28Politiker%2C_1970%29

9.) BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 – 2 BvR 413/84 (BVerfGE 69, 315): „Art. 19 Abs. 4 GG garantiert wirkungsvollen Rechtsschutz. Dieser wäre nicht gewährleistet, wenn das Gericht im Eilverfahren keine Abwägung vornähme und der Grundrechtsschutz damit leerlaufen könnte.“: BVerfG 2 BvR 413/84 https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv069315.html

10.) BVerfG, Beschluss vom 22.11.2001 – 2 BvR 2066/01: „Art. 19 Abs. 4 GG verlangt nicht nur die formale Eröffnung des Rechtswegs, sondern effektiven Rechtsschutz. Dieser ist nicht gewährleistet, wenn gerichtlicher Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht mehr rechtzeitig erlangt werden kann und einstweiliger Rechtsschutz gleichwohl versagt wird.“:BVerfG – 2 BvR 2066/01

11.) BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 – 2 BvR 42/76 (BVerfGE 46, 166, 179): „Die Gerichte müssen bei Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz eine Folgenabwägung vornehmen, die den Grundrechten Rechnung trägt.“: BVerfGE 46, 166 (NJW 1978, 827)

12.) BVerwG, Urteil vom 27.01.1994 – 4 C 3/93: „Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verpflichtet die Gerichte, in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, die eine spätere Korrektur vereiteln würden.“: BVerwG 4 C 3/93

13.) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/1998/04/rk19980421_1bvr231194.html

14.) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/01/rk20200129_2bvr069019.html

15.) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2001/12/rs20011205_2bvr052799.html

16.) https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Aktenzeichen=4+C+3.93&Datum=03.03.1994&Gericht=BVerwG

 


Bild oben: Illustration von John Tenniel von 1865 zu Lewis Carroll „Alice im Wunderland“ (Kapitel 12)
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Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3244225