Ein neues Paradigma zur Umbewertung der antiken Tragödie
von Bernhard H. F. Taureck
Tragödien, enden sie nicht mit dem Untergang und der physischen Vernichtung ihrer Protagonisten? Kommt es jedoch vor, dass die Handelnden gerettet werden, sind dann die entsprechenden Tragödien im Grunde nichts als Tragikomödien? So jedenfalls lautet der Chor der Experten seit langer Zeit. Das Wort Tragödie ist dabei ohne Belang. Es bedeutet Bocksgesang. Alle Versuche, diesen Sprachgebrauch zu erklären, sind bisher gescheitert.
Es handelt sich bei der Tragödie nicht um ein kulturelles Randphänomen. Die Tragödie bildet seit den drei überragenden Tragikern Aischylos, Sophokles und Euripides die unbestritten höchste Form dessen, wozu Dichtung und wozu überhaupt Kunst und Kultur fähig sind. In der griechischen und nachfolgend römischen Antike und deren Imperium Romanum waren die Tragödien der Bezugspunkt, den alle antiken Zuschauer vernehmen konnten, ob sie in Syrien, Nordafrika, in Gallien, in Griechenland, in Italien lebten. In allen Regionen des Imperiums wurden Tragödien aufgeführt. Diese Stücke sagten etwas über den Sinn und die Sinnbestimmung des Menschenlebens aus. Die Tragödie zeigt, dass die Conditio humana, dass die Lebensumstände des Menschen vom Einsturz und vom Abgrund bedroht ist. Daher kam sie auch seit der Zeit der Weltkriege nicht zum Erliegen, sondern in den USA, in Großbritannien, in Italien, in Frankreich, in Russland, in Skandinavien und Deutschland kam es zu neuer Blüte ihrer Problemstellungen.
Im Chorlied seiner Antigone-Tragödie schrieb der Dichter Sophokles:
Viel Ungeheuerliches ist,
doch das Ungeheuerlichste ist der Mensch.
Der Mensch, fährt das Chorlied fort, bringt sich selbst Sprache, den luftigen Hauch der Gedanken, bei. Er treibt erfolgreich Viehzucht, weiß das Meer zu nutzen und Krankheiten zu heilen. Doch vor dem Tode weiß er sich kein Entrinnen. Auch neigen die Menschen dazu zu einem riskanten Verhalten: Er möchte apolis sein, er möchte frei von Gesetzen leben. Diesen Wunsch jedoch missbilligt der Chor nachdrücklich.
In Aischylos`Tragödie, in der der aus Troja heimkehrende Agamemnon von seiner Frau und deren Geliebten ermordet wird, als er ein Bad nehmen will, bekennt sich der Chor zu
Aus Leid lernen.
Wenn das menschliche Leben leidvoll ist, so sind wir dem Leid nicht schutzlos ausgeliefert. Wir oder unsere Nachkommen besitzen die Möglichkeit, aus der Leiderfahrung Schlüsse zu ziehen, um ein Leben mit weniger Leiderfahrung anzustreben.
In Euripides‘ Tragödie über eine sich an der Untreue ihres Mannes Jason rächenden Medea spricht der Chor ganz am Ende folgende Zeilen
Über vieles waltet Zeus im Olymp.
Vieles vollenden wider Erwarten die Götter.
Und was man erhofft, das erfüllte sich nicht.
Jedoch für das niemals Erhoffte fand Gott einen Weg.
Unsere menschlichen Erwartungen koinzidieren nicht mit den Absichten der unsterblichen Götter. Allzu schwach ist jene Hoffnung, die als letzte in der Dose der Pandora übrig blieb, als alle Laster in der Luft umherschwirrten. Die Götter erfüllen unsere hoffenden Erwartungen nicht. Erst, was jenseits der Hoffnung auftritt, das vermag die Menschen zu retten.
An jene traditionelle Deutung der Tragödien, die mit Missgeschick und Untergang der Handelnden enden, hat man sich gewöhnt. Daher wird bei Unfällen aller Art, auch bei Erdbeben und bei Überschwemmungen, bei Stürmen mit dem Prädikat tragisch nicht gespart. Jeder Unfall, jedes Erdbeben, jede Überschwemmung, jeder Sturm gilt im Fall von Todesopfern sofort als tragisch und als Tragödie. Der Sprachgebrauch dehnte sich vom Theatergebrauch auf alles tödlich Bedrohliche aus, was Menschen zustößt.
Wie aber verhielte es sich, wenn die Tragödien nicht notwendig jene traditionelle Wertung bestätigen? Wenn Tragödien nicht ausschließlich mit Vernichtung, sondern auch mit Rettung und Schonung enden? 2025 erschien eine umfassende Studie des vergleichenden Literaturwissenschaftlers Arata Takeda. Sie trägt den Titel Die verkannte Tragödie. Theoriebildung und Wissenswandel zwischen Antike und Neuzeit. Arata Takeda gebührt das Verdienst, die Grundlage der traditionellen Bewertung der Tragödie als verengtes Urteil nachgewiesen zu haben. Tragödie endet nicht unweigerlich mit Untergang und Vernichtung. Takeda erweitert das verengte Urteil zu einem Sowohl-Als auch. Sie konnte Untergang, sie konnte ebenso Schonung und Rettung besagen. Was vormals als glücklich endende Tragödie geschah, wurde als Tragikomödie herabgestuft. Nunmehr ist die mit Rettung und Verschonung endende Tragödie nichts anderes als eine Tragödie zweiten Rangs.
Jedem, der sich an den Ausgang der Aischylos-Tragödie Die Eumeniden erinnert, wird eines sofort einleuchten: Aus den verbitterten Rachegöttinnen, den Erinnyen, werden dort Wohlmeinende, werden Eumeniden, welche den Stadtstaat Athen und seine Gesetze beschützen. Die Eumeniden enden mit dem Vers des Chores:
Jubelt nun zu Tanz und Musik!
Wendung und Umschwung in einer Handlung, darauf weist auch Takeda hin, heißt im Griechischen Katastrophe. Katastrophe verwandten die Griechen im Allgemeinen nicht als Absturz, sondern als Bezeichnung eines Umschwungs. Ein Umschwung konnte, musste aber nicht zu einem Absturz werden. Inzwischen hat im deutschen und internationalen Sprachgebrauch Katastrophe nur noch den bedeutungsverengten Sinn von Absturz. Wir verwenden das Fremdwort Katastrophe in einem radikal bedeutungsverengten Sinn. Die Griechen könnten uns im Hinblick auf Katastrophe eine Sprachbesinnung lehren. Auch in der Schrift Über die Dichtkunst von Aristoteles kommt die Bezeichnung Katastrophe gar nicht vor. Aristoteles spricht von Peripetie, vom Glückswechsel. Auch definiert Aristoteles die Tragödie nicht etwa durch ihr Ende, sondern durch ihre Struktur. Tragödie bedeutet bei Aristoteles eine nachbildende Darstellung eines ethisch relevanten Handlungsgeschehens […] die bei den Zuschauern innige Anteilnahme und Furcht auslöst und auf diese Weise das Zuschauerbewusstsein von diesen Affekten befreit. Das bedeutet, dass in einer Tragödie Handlungen von ihrer alltäglichen Banalität befreit werden und zu Konflikten führen, die der Alltag in dieser Zuspitzung nicht kennt. Aus diesem Grund werden die Zuschauer durch das Bühnengeschehen außergewöhnlich angezogen und fürchten um das Wohlergehen der Akteure. Unklar bleibt allerdings bis heute, wie jene Befreiung von den Affekten vorzustellen ist. Dazu fehlt uns ein erläuternder Text des Aristoteles. Die Beschäftigung mit der griechischen Tragödie war durch die Jahrhunderte hindurch begleitet von einer Bemühung, Aristoteles‘ Schrift Über die Dichtkunst zu verstehen und auf das Verständnis der Tragödien anzuwenden. Aristoteles selbst zog den Ausgang bei Tragödien vor, der Schonung und Rettung bringt.
Der vergleichende Literaturwissenschaftler Arata Takeda zeigt mit minutiöser Gelehrsamkeit Wege, Umwege und Abwege der Tragödienbewertung auf. Am Ende folgt seine Umbewertung: Tragödie mündete bei den Griechen in die Zweideutigkeit von Untergang und rettender Verschonung. Takedas Ergebnis hat zwei immense Konsequenzen. Er selbst geht, um seine Studie nicht ausufern zu lassen, diesen Konsequenzen nicht nach. Doch seine Überlegungen bilden die Voraussetzungen für weitere Überlegungen, die in dem Maße unausweichlich werden, als die Tragödie noch immer die höchste Form von Kunst und Kultur darstellt, welche Sinn und Sinngrenzen des Menschen testen.
Ein umbewertetes Tragödienverständnis besitzt zwei Folgerungen. Sie betreffen einerseits das Verständnis von Dramen und der literarischen Darstellungen von Leiderfahrung. Andererseits betreffen sie das Verständnis der politischen Zukunft der gesamten Menschheit. Im Bereich des Dramenverständnisses endet Takedas Studie mit folgender Umbewertung der Tragödie König Ödipus von Sophokles: Folgt man der üblichen Tragödienbewertung, so endet dieses Stück mit der Vernichtung des Ödipus. Als die Wahrheit ans Licht kommt, erhängt sich seine Frau, die in Wirklichkeit seine Mutter war, und Ödipus sticht sich mit einer Brosche der Erhängten die Augen aus. Gibt es überhaupt Zweifel, dass diese Tragödie nicht in vollständigem Unglück endet? Takeda beschreibt dieses Ende anders. Ödipus überlebt als Geblendeter. Er endet nicht im Freitod. Sein Leben bleibt erhalten. Er zieht, begleitet von seiner Tochter Antigone, in die Ferne und wird später in Kolonos von den Göttern geheimnisvoll in ihre eigene Welt entrückt. Im Alter von Neunzig Jahren hat Sophokles diesen glücklichen Ausgang in der Tragödie Ödipus auf Kolonos zu Wort kommen lassen. Im 20. Jahrhundert griff allein Thomas Stearns Eliot in seinem Drama The Elder Statesman 1959 diesen versöhnlichen Schluss wieder auf. Takeda schließt sein Buch mit dem Satz: Wir dürfen uns Ödipus als einen geretteten Menschen vorstellen. Damit spielt er auf die Bemerkung von Camus an, dass wir uns Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen können. Denn auch Sisyphus war ohne Zeitbegrenzung der Strafe der Götter ausgesetzt und musste einen Felsen auf einen Berg rollen und erleben, dass dieser stets erneut in das Tal zurückrollte.
Takedas Umbewertung der Ödipustragödie sollte als Anlass benutzt werden, um auch andere Dichtungen, die von extremen Leiderfahrungen handeln, anders zu verstehen. An dieser Stelle seien lediglich drei Hinweise erlaubt: Auf Shakespeares Hamlet, auf das Ende von Faust Zwei von Goethe und auf den verstörenden Kurzroman The Road des US-Autors Cormac McCarthy von 2006.
Hamlet endet zwar mit dem Tod des Protagonisten, der, obwohl vergiftet, seinen Racheauftrag an seinem schurkischen Onkel vollzieht. Doch das Stück endet mit dem Auftrag an Hamlets Vertrauten Horatio, eine Aufklärung über die Ereignisse zu geben, die zu diesem Ende führten. Die Hamlet-Tragödie schließt selbstbezüglich als Aufklärungsversprechen und insofern nicht als blinde Vernichtung.
Die Faust-Zwei-Tragödie Goethes lässt sich als Tod des zu einem Verbrecher gewordenen Faust deuten. Faust stirbt und wird ausgelöscht. Doch das Ende findet in einer Himmelswelt statt, in der nicht mehr eine männliche Gottheit das All beherrscht, sondern eine Frau. In dieser gewandelten Welt aller bisherigen Bezüge ereignet sich das Unzulängliche und das Unbeschreibliche wird getan. Faust wird in dieser Welt weiterleben. Die kosmische Macht der Liebe garantiert, dass Faust seinen Tod überlebt.
Mit dem Kurzroman The Road von Cormac McCarthy, der oft Partizipien von Verben benutzt, um einen Erstarrungsprozess auszusagen, wird eine postapokalyptische Szenerie beschworen. Die USA scheinen vermutlich nach einem Atomkrieg dem sozialen Chaos ausgeliefert zu sein. Der Himmel ist ständig verdunkelt, und die Temperaturen steigen kaum über Null Grad. Ein lungenkranker Arzt versucht auf seinem Motorrad zusammen mit seinem Sohn eine Küste zu erreichen. Der Hunger hat inzwischen die Bevölkerung zu Kannibalen werden lassen. Der Vater stirbt. Der Sohn begegnet Menschen, die sich nicht als Kannibalen verhalten und erscheint am Ende von der Gewalt verschont und gerettet zu sein. Auch dieser als Tragödie angelegte kurze Roman endet als Schonung und Rettung wie die Eumeniden oder König Ödipus und Ödipus auf Kolonos.
Dass Tragödien ambivalent auf Schonung und Rettung oder Vernichtung hinauslaufen, macht es möglich, unsere inzwischen von der Drohung verschiedener thermonuklearer Kriege bedrohte Zukunft anders als notwendig apokalyptisch zu bewerten. Thermonukleare Kriege erscheinen als Beendigung menschlicher Zukunft. In der Folge von Atomkriegen würden große Teile der Bevölkerung getötet, es entstehen Brände, die sich nicht mehr löschen lassen, der durch Gesetzte bestimmte gesellschaftliche Zusammenhang erodiert, ein nuklearer Winter zieht herauf. Das postapokalyptische Szenar von The Road droht real zu werden. In den USA neigt man vielfach zu der Bewertung, dass auf diese Weise das Jüngste Gericht keine lange Zeit mehr benötigt, um zu geschehen. Der ansonsten theologisch seröse Bischof Dibelius urteilte in den 50ger Jahren, ein Atomkrieg bringe uns Gott näher. Der politische Realist Mathew Kroenig befürwortete neuerdings sogar Atomkriege, denn sie lassen sich seitens der USA gewinnen. Man könne den Tod von 50 Millionen Toten hinnehmen, denn man werde dauerhaft Gewinner. Die radiotoxische Verstrahlung des Globus, die nicht mehr löschbaren Brände und die soziale Desintegration mit Hungerfolgen scheint er auf abenteuerliche Weise von einem Atomkrieg subtrahieren zu wollen.
Was besagt die Umbewertung der Tragödie, die nunmehr auch Schonung und Rettung besagen kann? Kann diese Umbewertung der uns vor dem Entsetzlichen retten, jener Befleckung und Kontamination, vor der einst Aristoteles unter dem Namen des miarón warnte? Das ist nicht möglich. Die Wirklichkeit kann entsetzlich werden, und die Tragödie vermag uns Menschen nicht zu verschonen. Vor dem Entsetzlichen einer thermonuklearen Selbstauslöschung kann uns keine Umbewertung der Tragödie bewahren.
Doch etwas anderes kann geschehen. Eine Umbewertung der Tragödie kann uns zu einer kollektiven Besinnung führen. Wenn die höchste Sinnbestimmung des Menschen in der Gestalt der griechischen Tragödie nicht notwendig in dessen Vernichtung besteht, so scheint das Schicksal uns noch eine Frist zur Besinnung zu geben. Die griechische Tragödie bestätigt nicht den unvermeidlichen Untergang des Menschengeschlechts. Laut der Tragödie könnten wir vor der restlosen Vernichtung verschont werden.
Es war Karl Marx, der an einer Stelle uns zur Bewahrung unserer Zukunft ermahnte:
Vom Standpunkt einer höheren ökonomischen Gesellschaftsform wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an anderen Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni partes familias [erfolgreiche Familienväter] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.
Marx war ein Kenner der Antike. Dass wir Menschen nicht Eigentümer von etwas sind, sondern lediglich seine Besitzer, stammt von dem römischen Denker Lukrez, über den Marx seine Doktorarbeit schrieb.
Erneut mögen uns in diesem Kontext die zuvor zitierten Zeilen des Sophokles im Ohr klingen:
Viel Ungeheuerliches ist,
doch das Ungeheuerlichste ist der Mensch.
Eine Textvariante schlägt für das Ungeheuerliche (deinós) das Adjektiv deilós vor. Deilos jedoch besagt: erbärmlich, feige, unwürdig. Daher besitzen die beiden Zeilen des Sophokles für die Zukunft unserer Zivilisation folgende warnende Bedeutung:
Viel Erbärmliches ist,
doch das Erbärmlichste ist der Mensch.
Unser Grundgesetz mit der Betonung der unantastbaren Würde Menschen könnte eines Kommentars bedürfen. Er wurde bisher noch nicht verfasst und könnte wie folgt lauten:
Die Feigheit des Menschen ist unantastbar.
Bernhard H. F. Taureck ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes Rheinland-Pfalz / Saarland
© taureck. Der Redaktion per Mail zugestellt am 26. August 2025 mit ausdrücklicher Genehmigung zur Weiterverbreitung
Bild oben: Euripides sitzend in der Mitte bekommt von einer Frau eine Theatermaske gereicht. Rechts der Gott Dionysos. Datierung: zwischen dem 1. Jahrhundert v.u.Z. und dem 1. Jahrhundert u.Z. Flachrelief aus Marmor, aus der Misthos-Sammlung, aufbewahrt im Archäologischen Museum Istanbul (Türkei).
Foto: John-Grégoire, CC0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=121739024
