Hat die Ukraine noch eine Zukunft, oder hat der Verteilungskampf schon begonnen?
Immer mehr Meldungen zeigen, dass der Kampf um die „Reste der Ukraine“ hinter den Kulissen wohl schon begonnen hat. Das zeigen Meldungen aus Polen, Rumänien und Moldawien.
von Anti-Spiegel (d.i. Thomas Röper)
Erstveröffentlichung am 28.03.2023 auf anti-spiegel.ru
Bisher redet noch niemand in der EU offen darüber, dass die Tage der Ukraine gezählt sind, aber anscheinend hat hinter den Kulissen schon der Kampf um die „Reste der Ukraine“ begonnen. Ich will das vor allem Beispiel Rumänien und Moldawien aufzeigen, wo die Lage besonders kompliziert ist. Anschließend kommen wir auch noch auf Polen zu sprechen.
Vereinigung mit Rumänien?
Die moldawische Regierung unter der pro-westlichen Präsidentin Sandu fördert eine weitere Eskalation in dem Gebiet. Es gab einen versuchten Terroranschlag in Transnistrien und Proteste und Gegenproteste in Moldawien zur Frage eines Anschlusses an Rumänien.
Die Lage in dem kleinen Land Moldawien eskaliert weiter. Moldawien ist ein kleiner Vielvölkerstaat, in dem es nach dem Bürgerkrieg Anfang der 90er Jahre ruhig war. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion hat sich das mehrheitlich russisch besiedelte Transnistrien von Moldawien abgetrennt, was zu dem kurzen Bürgerkrieg geführt hat, den die russische Armee seinerzeit beendet hat. Seitdem stehen auf Grund eines Abkommens aller Beteiligten russische Friedenstruppen in Transnistrien und patrouillieren die Kontaktlinie gemeinsam mit moldawischen Soldaten.
Der Grund für den Bürgerkrieg waren nationalistische Tendenzen in Moldawien, wo Nationalisten einen Anschluss des Landes an Rumänien gefordert haben, was die Bevölkerung Transnistriens nicht wollte. Zu der Vereinigung ist es (bisher) nicht gekommen, aber die Spaltung der moldawischen Gesellschaft bleibt bestehen.
Der Wunsch nach einer Vereinigung von Moldawien und Rumänien wird am häufigsten von rumänischen Politikern geäußert, wo fast 68 Prozent der Bevölkerung die Idee unterstützen. In Moldawien befürwortet Umfragen zufolge nicht mehr als ein Drittel der Einwohner die Idee einer Vereinigung mit dem Nachbarland. Gleichzeitig befürwortet laut denselben Umfragen die Mehrheit der Moldawier die Beibehaltung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zu Russland. Außerdem ist die Mehrheit der Moldawier dafür, dass das Land – wie in seiner Verfassung festgeschrieben – neutral bleibt und sich nicht der NATO anschließt, was die Regierung unter Präsidentin Sandu aber tun möchte.
Sandu hat gerade in einem verfassungsrechtlich sehr umstrittenen Verfahren durchgesetzt, dass die Staatssprache in der Verfassung Moldawiens von „Moldawisch“ in „Rumänisch“ umbenannt wird, was zu Protesten geführt hat. Sandu sagt es nicht offen, weil es im Land unpopulär ist, aber ihre Politik hat eindeutig Kurs auf eine Vereinigung mit Rumänien genommen. Dabei würde sie – quasi nebenbei – auch ihre Hauptziele, nämlich den Beitritt des Landes zu NATO und EU erreichen.
Am Sonntag ist es in Moldawiens Hauptstadt zu Protesten und Gegenprotesten gekommen, nachdem Sandu die Umbenennung der Staatssprache durchgesetzt hatte. Die Unionisten, wie die Befürworter der Vereinigung mit Rumänien genannt werden, kamen mit rumänischen Fahnen und Plakaten, die zur Vereinigung aufriefen. Sie skandierten Slogans wie „Großrumänien!“ und „Bessarabien ist ein rumänisches Land“. Die Kundgebung verlief nicht ohne Provokation, als einige Demonstranten die Fahne des ukrainischen Neonazi-Bataillons „Asow“ entrollten.
Die Demonstration gegen die Unionisten wurde von Aktivisten der moldawischen Hayduk-Bewegung organisiert. Sie traten mit Parolen zur Unterstützung der moldawischen Staatlichkeit und zur Verteidigung der moldawischen Sprache auf. „Wir gehen auf die Straße, um unser Land zu verteidigen. Die rumänischen Separatisten wollen die Vereinigung mit Rumänien, was die Abschaffung der moldawischen Staatlichkeit bedeutet“, sagte der Anführer der Bewegung, Adrian Domentiuc, vor Journalisten. Er verurteilte die Entscheidung der Regierungspartei, die seiner Meinung nach Aufrufe nach der Auflösung des Staates unterstützt, was von der überwältigenden Mehrheit des Landes abgelehnt wird.
Die Polizei musste die beiden Demonstrationen trennen, um Zusammenstöße zu verhindern.
Transnistrien als Auslöser
Sandu hat inzwischen mehrmals den Abzug der russischen Friedenstruppen aus Transnistrien gefordert. Beobachter fürchten jedoch, dass das zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges führen würde. Die Kontaktlinie ist die ruhigste ihrer Art auf der Welt, es hat dort seit Jahrzehnten keine Vorfälle mehr gegeben.
Im Falle eines russischen Abzuges ist zu erwarten, dass Sandu versuchen könnte, Transnistrien gewaltsam wieder in Moldawien einzugliedern. Die Bevölkerung in Transnistrien, die mehrheitlich aus ethnischen Russen besteht, will das jedoch nicht. Hinzu kommt, dass es in Transnistrien keine nationalistischen Tendenzen gibt, die man in Moldawien beobachten kann. In Transnistrien gibt es mehrere Amtssprachen und die ethnischen Gruppen (Russen, Ukrainer, Rumänen) leben, anders als in Moldawien, wo die Regierungspolitik die Gräben gerade vertieft, friedlich zusammen.
Wer an einer Eskalation der Situation interessiert ist, hat potenziell leichtes Spiel. Man müsste nur den Streit um Transnistrien eskalieren, denn die russischen Friedenstruppen haben dort zwar das größte Munitionslager Europas, sind von Russland aber abgeschnitten. Würden ukrainische und moldawische Kräfte Grenzzwischenfälle provozieren, könnte sich der Krieg dort wieder anfachen lassen, wofür man in der heutigen Zeit medial problemlos Russland die Schuld geben kann.
Provokationen
Die ukrainische Armee hat gemeldet, dass sie in der Grenzregion zu Transnistrien bereits Befestigungen ausbaut. Dass die Ukraine, deren großer Hunger nach Munition allgemein bekannt ist, ein Auge auf das riesige Munitionslager in Transnistrien geworfen hat, ist nicht überraschend.
Für den 8. März war ein großer Terroranschlag in der Hauptstadt von Transnistrien geplant, der jedoch vom Geheimdienst verhindert wurde. Ein Täter wurde festgenommen und hat ausgesagt. Der Plan war es, einen Geländewagen mit Sprengstoff zu füllen und zur Explosion zu bringen, wenn der transnistrische Regierungschef an dem Fahrzeug vorbeifährt. Offensichtlich war geplant, bei dem Anschlag auch eine Delegation der OSZE zu treffen.
Zusätzlich zum Sprengstoff sollten auch Nägel und Schrauben in dem Sprengsatz sein, um möglichst viele Menschen zu verletzen. Der Radius der möglichen Explosion, deren Kraft mit 14 Kilogramm TNT angegeben wird, wird auf 400 Meter geschätzt. Im belebten Stadtzentrum hätte es also viele Opfer gegeben.
Laut Aussagen des Verhafteten steckte der ukrainische Geheimdienst SBU hinter den Plänen. Der Täter ist demnach zunächst nach Moldawien gereist und hat die Grenze zu Transnistrien heimlich mit dem Sprengstoff überquert. Für seine Teilnahme an dem Anschlag habe er 2.500 Dollar bekommen. Seine Komplizen sind flüchtig.
Da in der OSZE-Delegation auch eine US-Amerikanerin vertreten ist, hat die Regierung von Transnistrien dem FBI angeboten, es in die Ermittlungen einzubeziehen. Eine Reaktion aus den USA ist nicht bekannt.
Der aufgeflogene Anschlag wurde von westlichen Medien ignoriert. Wäre es zu der Explosion gekommen und wäre dabei auch die OSZE-Delegation zu Schaden gekommen, wäre wahrscheinlich breit berichtet worden und wir dürfen dreimal raten, wen die westlichen Medien beschuldigt hätten.
In jedem Fall hätte der Anschlag im Erfolgsfalle schwere politische Auswirkungen gehabt und hätte als Startschuss dafür dienen können, die Transnistrienfrage militärisch zu klären, wenn man Russland des Anschlages beschuldigt hätte. Das wäre nebenbei auch eine willkommene Ablenkung von der Täterschaft der USA bei den Nord Streams gewesen, wenn man Russland eines schweren Terroranschlages hätte beschuldigen können und das die Schlagzeilen beherrscht hätte.
Die Landkarte neu zeichnen
Das offizielle Rumänien hält sich mit Gebietsforderungen zurück, aber die Angliederung von Moldawien (inklusive Transnistriens) ist ein mehr oder weniger heimlicher Wunsch der rumänischen Politik. Hinzu kommt, dass es in der Ukraine eine rumänische Minderheit gibt, die von Kiew unterdrückt und diskriminiert wird, wogegen das offizielle Rumänien immer wieder protestiert.
Vor einigen Tagen hat eine Hinterbänklerin im rumänischen Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Aufhebung des Grenzvertrages mit der Ukraine und die Wiedereingliederung rumänisch bewohnter ukrainischer Gebiete in den rumänischen Staat fordert. Konkret geht es um die nördliche Bukowina, die Regionen Hertza, Bujak (Cahul, Bolgrad, Izmail), die historische Maramures und die Schlangeninsel.
Das wird das rumänische Parlament derzeit kaum offiziell beschließen, aber es zeigt, dass es bereits Überlegungen gibt, die Landkarte neu zu zeichnen. Und wer auf die Landkarte schaut, der stellt fest, dass Moldawien und Transnistrien danach praktisch von Rumänien umschlossen wären, weshalb man nicht viel Fantasie braucht, um zu verstehen, welche Pläne man in Rumänien wohl für Moldawien haben könnte.
Die Reste aufteilen
Dass auch Polen Gebietsansprüche an die Ukraine hat, ist ein offenes Geheimnis. Die polnische Regierung, ebenfalls eine klar nationalistisch orientierte Regierung, träumt recht offen davon, die Grenzen zu verschieben und mindestens die polnischen Grenzen von vor dem Zweiten Weltkrieg wiederherzustellen, als Teile der heutigen Westukraine zu Polen gehörten.
Polen ist dabei bisher sehr geschickt vorgegangen, denn es hat eine Reihe von Abkommen mit Kiew geschlossen, die Polen bereits weitgehende Sonderrechte in der Ukraine einräumen. Außerdem spielt sich Polen in der EU als der wichtigste Helfer der Ukraine auf, und möchte auch beim „Wiederaufbau“ der Ukraine die Führungsrolle übernehmen.
Seit Beginn der Eskalation des seit 2014 andauernden Ukraine-Krieges vor einem Jahr, testet Polen immer wieder die Entsendung von „Friedenstruppen“ in die Westukraine aus, was faktisch deren Besetzung durch Polen bedeuten würde. Bisher schreckt Polen vor diesem Schritt zurück, weil die USA deutlich zu verstehen geben, dass daraus resultierende militärische Zusammenstöße mit der russischen Armee kein Fall für die NATO wären, Polen also alleine gegen Russland bestehen müsste.
Polen hat sich mit seinen Bemühungen trotzdem in eine fast perfekte Position manövriert, wenn die Ukraine als Folge des Krieges auseinanderfallen sollte. Polens eigener Anspruch, eine Art Schutzmacht der Ukraine zu sein, wäre ein guter Vorwand, Teile der Ukraine im Falle ihres Auseinanderfallens – quasi zum „Schutz“ der Menschen dort – zu übernehmen.
Aktuell hat der polnische Botschafter in Frankreich in einem Interview gesagt:
„Wenn die Ukraine ihre Unabhängigkeit nicht verteidigt, haben wir keine andere Wahl, als in den Konflikt einzugreifen.“
Die Aussage hat Wirbel gemacht und die polnische Regierung versuchte, die Aussage damit zu begründen, dass Russland nach einem Sieg in der Ukraine weiter nach Europa marschieren werde. Aber vor dem Hintergrund dessen, was ich hier ausgeführt habe, dürfte klar sein, was der Botschafter meinte: Sollte Russland gewinnen, muss Polen sich „seine“ ukrainischen Gebiete notfalls mit Gewalt von den Russen zurückholen.
Der Kampf bis zum letzten Ukrainer
Wie gesehen, kann man auch die rumänische Position so ähnlich interpretieren, wie die polnische. Auch Rumänien macht sich unauffällig bereit, im Falle eines Falles zumindest die Teile der Ukraine zu übernehmen, die früher mal rumänisch waren und wo es rumänische Bevölkerungsgruppen gibt. Im Falle Rumäniens könnte der Funke dafür in Transnistrien zünden, jedenfalls bereitet die moldawische Präsidentin, die selbst für einen Anschluss Moldawiens an Rumänien ist, dafür den Weg.
Dass derzeit Spezialeinheiten der NATO in Moldawien Übungen abhalten, passt perfekt ins Bild. Die gemeinsamen Militärübungen von Spezialeinheiten der britischen, moldawischen, rumänischen und US-amerikanischen Streitkräfte in Moldawien tragen den schönen Namen Joint Combined Exchange Training und dauern bis zum 7. April, wie das moldawische Verteidigungsministerium mitteilte.
Kiew kämpft derweil bis zum letzten Ukrainer gegen Russland und wird dabei von denen angefeuert, die selbst recht offen Appetit auf Teile der Ukraine haben. Daher ist die Frage, die russische Analysten oft stellen, nämlich, ob es in zwei oder drei Jahren überhaupt noch einen ukrainischen Staat geben wird, nicht unberechtigt.
Thomas Röper, geboren 1971, lebt seit über 15 Jahren in Russland. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
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