Den Frieden gewinnen – nicht den Krieg!
Rede anlässlich der Kundgebung der „Friedenskoordination Berlin – Netzwerk gegen den Krieg“ am Brandenburger Tor am 24. Februar 2023
von Jürgen Rose
Sehr geehrte Versammelte, liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!
Es ehrt Sie sehr, dass Sie heute, an jenem Tag, an dem vor einem Jahr das große Schlachten in der Ukraine seinen Lauf nahm, hier so zahlreich erschienen sind, um ein Zeichen zu setzen für den Frieden auf der Welt und gegen jenes barbarische Gemetzel. Denn es braucht durchaus Mut, um in diesen Zeiten allgegenwärtigen und allumfassenden Kriegs- und Sieggetrommels aufzustehen und die Stimme zu erheben gegen das massenhafte Morden auf den Schlachtfeldern im Osten Europas.
Heute übersteigt die Zahl der willigen Koalitionäre, die sich unter Federführung der USA im Kampf gegen Russland zusammengeschlossen haben, den Umfang der Anti-Hitler-Allianz im Widerstand gegen Nazi-Deutschland. Damals nannte man dies einen Weltkrieg, nämlich den Zweiten Weltkrieg – womit also haben wir es heutzutage im Hinblick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine zu tun? Befinden wir uns nicht längst in einem Dritten Weltkrieg, den die gesamte NATO im Verein mit zahlreichen willigen Helfershelfern unter ebenso zynischer wie menschenverachtender Ausbeutung von Selbstbehauptungswillen und Opferbereitschaft der ukrainischen Männer und Frauen führt, gemäß der von der amtierenden Außenministerin Deutschlands propagierten, widerwärtigen Parole: „Wir werden Russland ruinieren“? Und laufen diejenigen, die auf beiden Seiten der Front diesen mörderischen Krieg immer weiter eskalieren, nicht erhebliche Gefahr, dass dieser zuletzt in einer unkontrollierbaren nuklearen Konfrontation endet?
Gemäß der dem Publikum von Politik und Massenmedien pausenlos eingehämmerten Darstellung handelt es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen glasklaren Angriffskrieg. Und ein solcher stellt laut dem Urteilsspruch des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals von 1946 „das größte internationale Verbrechen [dar], das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft“. Im Hinblick auf dieses Narrativ scheint mir äußerst bedeutsam, was ein höchst renommierter US-amerikanischer Historiker, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler zur Problematik der Entscheidung darüber, wer in einem Krieg denn jeweils als Angreifer und als Verteidiger zu gelten habe, geschrieben hat. Der Mann hieß Stefan T. Possony, war als österreichischer Jude nur knapp den Gestapo-Schergen Adolf Hitlers entkommen und diente nach einer spektakulären akademischen Karriere an US-amerikanischen Spitzenuniversitäten dem US-Präsidenten Ronald Reagan als Berater in Sachen Strategische Raketenabwehr (SDI) – ein knallharter erzkonservativer Falke und folglich keinesfalls ein „linker Pazifistenspinner“. Jener Professor Possony also merkte zur Problematik von Angriff und Verteidigung folgendes an:
„Bei der strategisch-politischen Beurteilung einer konkreten Situation ist es oft schwierig, Angriff von Verteidigung zu unterscheiden. … Der Befehl, einen vorliegenden Offensivplan durchzuführen, mag militärisch einen Angriff darstellen, die Offensive, selbst wenn es sich um einen bewaffneten Einzelfall handelt, mag jedoch strategisch-politisch rein defensiven Motiven entspringen. … Trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten, die eine klare und rechtsverbindliche Definition ausschließen – es hängt eben alles von den Umständen ab –, lässt sich, theoretisch gesprochen, jene Regierung oder konspirative Gruppe als Angreifer kennzeichnen, die die Entscheidung trifft, Krieg zu führen, um die internationale Machtverteilung zugunsten der eigenen Seite zu verändern. Hingegen lässt sich die Regierung, die einen Krieg führt, um die eigene Schwächung oder Zerstörung oder eine wesentliche Veränderung der gegebenen internationalen Machtlage zu verhindern, als Verteidiger bezeichnen.“
Ganz ähnlich muss das vor mehr als fünfhundert Jahren schon einer der Gründerväter der Politischen Theorie, der italienische Philosoph und Machttheoretiker Niccolò Machiavelli gesehen haben, als er konstatierte:
„Nicht wer zuerst zu den Waffen greift, ist der Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.“
Wer in der Ukraine zuerst zu den Waffen gegriffen hat, steht scheinbar fest, obwohl die OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), die Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, vor einem Jahr gänzlich Anderes aus dem Donbass zu berichten hatte: Acht Tage vor dem Beginn des russischen Einmarsches hatten die ukrainischen Streitkräfte nämlich eine großangelegte Artillerieoffensive gegen die abtrünnigen Volksrepubliken begonnen, um diese mittels militärischer Gewalt zurückzuerobern, ganz so wie Präsident Selenskyj dies im März des Vorjahres bereits angeordnet hatte – unter grober Missachtung des durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für völkerrechtlich verbindlich erklärten Minsker Abkommens, in dem unter anderem eine Autonomieregelung für den Donbass vereinbart worden war. Dem durch militärische Gewaltanwendung verschuldeten Völkerrechtsbruch Russlands ging der ebenso qua militärischer Gewaltanwendung verübte Völkerrechtsbruch der Ukraine voraus! Diesen höchst bedeutsamen Umstand verschweigen freilich unsere NATO-treuen Mainstream-Propagandamedien geflissentlich bis heute.
Wer also sind jene Anstifter des Unheils, die zum Krieg in der Ukraine genötigt haben? Denn folgt man Machiavellis Erkenntnis, dann begeht nicht nur, wer einen Angriffskrieg beginnt, dieses laut Urteil von Nürnberg „größte internationale Verbrechen“, sondern auch derjenige, welcher einem derartigen Verbrechen dadurch Vorschub leistet, dass er es unterlässt, alles Menschenmögliche zur Erhaltung des Friedens, also zur Verhinderung jenes Völkerrechtsverbrechen, zu tun. Auch friedensstörende Handlungen, die einen politischen Akteur zu einer kriegerischen Aggression zu provozieren geeignet sind, wie beispielsweise die skrupellose Ausdehnung eines Militärbündnisses unter ignoranter Vernachlässigung von Sicherheitsinteressen anderer Staaten, die einseitige Aufkündigung essentieller Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, die völkerrechtswidrige Intervention in die von der Satzung der Vereinten Nationen geschützten inneren Angelegenheiten souveräner Staaten oder sicherheitsdestabilisierende, maßlose Aufrüstungsmaßnahmen konstituieren (regierungs-)kriminelle Akte.
Um uns der Beantwortung der Frage nach den Anstiftern des Unheils in der Ukraine anzunähern, werden wir, um dem Vorwurf vorzubeugen, wir wären „Russland-“ oder – horribile dictu – gar „Putin-Versteher“, nachfolgend ausschließlich Kronzeugen heranziehen, die über einen derartigen Verdacht vollkommen erhaben sind.
Als ersten solchen Kronzeugen rufe ich den ehemaligen US-Botschafter in der Sowjetunion und Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat der USA, Jack F. Matlock, auf. Dieser konstatiert im Hinblick auf die vielbeschworene „regelbasierte Weltordnung“:
„Aber es war der Westen, der damit begonnen hat, dieselben internationalen Regeln zu brechen, als die Nato wegen Kosovo Serbien bombardiert hat. Unsere zweite Verletzung der Schlussakte von Helsinki – wonach Grenzen nur veränderbar sind, wenn beide Seiten zustimmen – war, als wir die Unabhängigkeit von Kosovo akzeptiert haben. Putin sagt: Ihr habt den Präzedenzfall geschaffen. Jetzt verletze ich die Regeln. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über Legalität reden. So zu tun, als ob Russland etwas Einzigartiges täte und Russland zu einem besonderen Ausgestoßenen zu machen, ist unfair.“ Und weiterhin führt Matlock aus: „2008 entschied die Nato, die Ukraine auf eine Spur zur Mitgliedschaft zu setzen. Ein in seinem Inneren tief gespaltenes Land, direkt vor Russlands Türe. Das alles waren sehr dumme Schachzüge des Westens. Heute haben wir die Reaktion darauf. Wenn China anfangen würde, eine Militärallianz mit Kanada und Mexiko zu organisieren, würden die USA das nicht tolerieren. Wir würden uns auch nicht auf abstrakte Prinzipien von internationalem Recht beschränken lassen. Wir würden das verhindern. Mit jedem Mittel, das wir haben. Jedes Land, das die Macht dazu hat, würde das tun. (…) Putin handelt so, wie jeder russische politische Verantwortliche unter diesen Umständen handeln würde.“
Bei meinem zweiten Kronzeugen handelt es sich um den ehemaligen Verteidigungsminister und Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt. Der in der Wolle gefärbte Transatlantiker, der wegen seines unbeirrten Festhaltens am Beschluss der NATO zur nuklearen Nachrüstung sein Amt verloren hatte, gab im August 1993 zu Protokoll:
„Wenn ich ein sowjetischer Marschall wäre oder ein Oberst, würde ich die Ausdehnung der Nato-Grenzen, erst von der Elbe bis an die Oder und dann über die Weichsel hinaus bis an die polnische Ostgrenze, für eine Provokation und eine Bedrohung des Heiligen Russland halten. Und dagegen würde ich mich wehren. Und wenn ich mich heute dagegen nicht wehren kann, werde ich mir vornehmen, diese morgen zu Fall zu bringen.“
Mir scheint, dass Helmut Schmidt seinen Possony gelesen hatte.
Als letzten in meiner Reihe von Kronzeugen möchte ich Papst Franziskus zu Wort kommen lassen, der sich in einem Interview zum Ukrainekrieg geäußert hat. Dort sagte er:
„Um diese Frage [nach dem Angriffskrieg] zu beantworten, müssen wir uns von dem üblichen Schema des „Rotkäppchens“ lösen: Rotkäppchen war gut, und der Wolf war der Bösewicht. Hier gibt es keine metaphysisch Guten und Bösen auf abstrakte Art und Weise. … Die NATO-Staaten bellen vor den Toren Russlands und sie verstehen nicht, dass die Russen imperial sind und keiner fremden Macht erlauben, sich ihnen zu nähern … Die Situation könnte zu einem Krieg führen. … Aber die Gefahr ist, dass wir nur das sehen, was ungeheuerlich ist, und nicht das ganze Drama sehen, das sich hinter diesem Krieg abspielt, der vielleicht in gewisser Weise entweder provoziert oder nicht verhindert wurde. Und ich registriere das Interesse am Testen und Verkaufen von Waffen. Das ist sehr traurig, aber darum geht es ja offensichtlich. …Ich bin einfach dagegen, die Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zu reduzieren, ohne über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr komplex sind.“
Da an dieser Stelle nunmehr Klarheit darüber besteht, wer das Unheil in der Ukraine angestiftet hat, steht zugleich fest, an wen sich die Forderung nach einer umgehenden Beendigung des Krieges und einer Friedensregelung auf diplomatischem Wege zu richten hat: nämlich zuvörderst an die NATO-Kriegstreiber in Washington, Brüssel, London und Warschau.
Genau dies hat jüngst Deutschlands berühmtester lebender Philosoph, Jürgen Habermas, getan, als er erklärte:
„Mir geht es um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen.“
Für derartige diplomatische Initiativen liegen ernsthafte und ernstzunehmende Vorschläge schon längst auf dem Tisch. So hat beispielsweise schon im Sommer letzten Jahres die UN-Studiengruppe „Wissenschaft und Ethik des Glücks“ in ihrer „Erklärung Frieden und Gerechtigkeit“ eine Reihe von „Eckpunkten für einen Waffenstillstand und ein positives Friedensabkommen“ formuliert. Diese lauten:
(1) Neutralität der Ukraine, d.h. Verzicht auf die nationalen Ambitionen, der NATO beizutreten, bei gleichzeitiger Anerkennung der Freiheit der Ukraine, Abkommen mit der Europäischen Union und anderen zu schließen;
(2) Sicherheitsgarantien für die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine, die von den P-5-Mitgliedern der Vereinten Nationen (China, Frankreich, Russland, Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten) sowie der Europäischen Union und der Türkei gegeben werden, was militärische Transparenz und Beschränkungen der militärischen Stationierung und groß angelegter Übungen in Grenzgebieten unter internationaler Beobachtung in Verbindung mit der Aufhebung von Wirtschaftssanktionen beinhalten könnte;
(3) Russische De-facto-Kontrolle der Krim für einen Zeitraum von mehreren Jahren, nach dem die Parteien auf diplomatischem Wege eine dauerhafte De-jure-Regelung anstreben würden, die einen erleichterten Zugang der lokalen Gemeinschaften sowohl zur Ukraine als auch zu Russland, eine liberale Grenzübergangspolitik für Personen und Handel, die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte und finanzielle Entschädigungen umfassen könnte;
(4) Autonomie der Regionen Lugansk und Donezk innerhalb der Ukraine, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Aspekte umfassen könnte, die innerhalb kurzer Zeit näher zu bestimmen sind;
(5) Garantierter kommerzieller Zugang sowohl der Ukraine als auch Russlands zu den Schwarzmeerhäfen der beiden Länder;
(6) Die schrittweise Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland in Verbindung mit dem Rückzug des russischen Militärs gemäß der Vereinbarung;
(7) Ein multilateraler Fonds für den Wiederaufbau und die Entwicklung der vom Krieg zerstörten Regionen der Ukraine – an dem sich auch Russland beteiligt – und sofortiger Zugang für humanitäre Hilfe;
(8) eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Schaffung internationaler Überwachungsmechanismen zur Unterstützung des Friedensabkommens (…).
Leider geben jedoch die ebenso verantwortungslosen wie hanebüchenen Begründungen zu uferlosen Waffen- und Munitionslieferungen im Verlauf des NATO-Warlord-Treffens in München am letzten Wochenende keinerlei Anlass zu irgendwelchen Hoffnungen auf Umsetzung einer derartigen Friedensregelung, denn die Kriegstreiber und -hetzer der NATO lassen keinerlei Bereitschaft erkennen, mit der russischen Regierung überhaupt nur zu reden, während sie Russland im selben Atemzug fehlende Verhandlungsbereitschaft vorhalten – so funktioniert Kriegspropaganda.
Angesichts dieser fatalen Lage steht umso mehr eine breite zivilgesellschaftliche Friedensbewegung in der Pflicht, ihren Protest gegen die bellizistische Enthemmung zu artikulieren. Wie schon zu Zeiten des verbrecherischen Krieges der USA in Vietnam und wie in Zeiten einer maßlosen nuklearen Hochrüstung in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts muss es wieder heißen:
„Aufstehen für den Frieden“, „Schwerter zu Pflugscharen“ und „Frieden schaffen mit weniger – oder besser noch – ganz ohne Waffen!“
Oberstleutnant a.D. Jürgen Rose ist Vorsitzender des Arbeitskreises „Darmstädter Signal“ und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bilder von der Kundgebung am 24.02.2023 findet ihr hier: https://www.flickr.com/photos/frikoberlin/albums/72177720306280941/with/52712181696/
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Einladung zu einer Veranstaltung mit Jürgen Rose am Vorabend der Kundgebung (PDF-Dokument, ca. 2,1 MB)
Bild oben: Jürgen Rose während seiner Rede auf der Kundgebung am 24.02.2023 am Brandenburger Tor in Berlin
Foto: Friko Berlin
Quelle: https://www.flickr.com/photos/frikoberlin/52712181696/in/album-72177720306280941/