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Gorbatschows fragwürdige Verdienste

von Renato Lorenz

Ein sicherlich völlig unzureichendes soziales Gesellschaftssystem aufzugeben, das immerhin in der Lage war, den schlimmsten Feind der Menschheit, den Faschismus, zu vernichten, das dem übergroßen Feind der Menschheit, den nach globaler Herrschaft strebenden US-amerikanischen Imperialismus Schranken aufzuzeigen in der Lage war, das sein aggressives Vorgehen eindämmte, das in Abwesenheit von kapitalistischer Ausbeutung einen neuen Weg für die Menschheit suchte, dies und einiges mehr sind das historische Verdienst von Gorbatschow.

Tatsächlich passierte es, ohne dass ein Schuss gefallen ist. Wenn auf dem Schlachtfeld eine Seite in stabil ausgebauten aber in mangelhaften Strukturen ausgestalteten Schützengräben ausharrt, dann aber plötzlich auf Befehl des Herrschers die Stellungen dem Gegner überlässt, statt die Strukturen zu verbessern, also die Waffen niederstreckt und sich auflöst mit dem Ergebnis, dass der Gegner auch auf dieser Seite machen kann, was er will, wird eine solche Schlacht wohl nicht zum Ruhm dieses Herrschers gereichen. Dies hat zum Ende des „Kalten Kriegs“ geführt.

Ein solcher Herrscher hat die Welt nun verlassen. „Selbst ein Engel sündigt, wenn er mit einer Versuchung, wie die Macht es ist, in Berührung kommt und niemand auf ihn achtgibt.“ So wird von Valentin Falin, ehemaliger Berater von Gorbatschow, in seinen „Politischen Erinnerungen“ (Droemer Knaur Verlag, 1993, S. 504) Mieczyslaw Rakowski, ein späterer polnischer Regierungschef, im Interview mit Oriana Fallaci entschuldigend zitiert, nachdem Falin feststellte: „Unkontrollierte und unbeschränkte Macht haben Gorbatschow verdorben. Politisch, moralisch, ideell.“

Gorbatschow, als Politiker in der Nachkriegsgeschichte des II. Weltkrieges emporgekommen, ist nun auch physisch Geschichte. Seine Verdienste, Taten, mehr noch Unterlassungen, die heutzutage öffentlich und medial im übrig gebliebenen Westen meist wohlwollend eingeordnet werden, sind mehr als fragwürdig. Wirklich ohne einen einzigen Schuss zwischen den weltgrößten Militärgruppierungen, die sich in Europa gegenüberstanden, ist von Gorbatschow das Verschwinden der DDR, die Auflösung des Warschauer Vertrages und der hoffentlich nur vorläufige Niedergang der Sowjetunion „gehändelt“ worden. Das Hintergehen seiner Verbündeten im Ausland, auch mithilfe seines zwielichtigen sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse, und die per „Glasnost-Geschwätz“ (Falin) im Innern erzeugte Bindung der Umbauwilligen waren wichtige seiner Methoden, um dieses Ergebnis zustande zu bringen.

Wesentlich hinzu kommt, dass er den Umbau der Gesellschaft als Ziel (Perestroika) versprach. Aber „Jeden Sozialismus abzulehnen, um dem russischen auszuweichen (der aus dem deutschen hervorging) ist nichts anderes, als sich kastrieren zu lassen, um der Ausschweifung zu entgehen.“ (so zitiert Falin den Schriftsteller Dimitrij Mereschkowskij in diesem Zusammenhang – ebenda S. 506) Es ist zu konstatieren, dass ein Umbau weder konzipiert noch in Angriff genommen worden war. Stattdessen waren die berühmten Geister gerufen worden, die man nicht mehr loswurde. Sie kamen aus dem „demokratischen“ Westen und brachten schweres Unheil für die Völker der Sowjetunion und anderer Länder.

Dieses versuchen heute Menschen wie Putin irgendwie zu mildern und auch zu beseitigen, nach den überraschend genau übereinstimmenden, von Falin umrissenen Gedanken: „Das neue System muss seine Qualität bekunden, muss zeigen, wessen Interessen es spiegelt und wem es dient; es muss beweisen, dass die jetzige Demokratie besser ist als die der Perestroika. Der Marktwirtschaft obliegt es, ohne zu schlingern sich zurechtzufinden und mit aller Kraft zu arbeiten. Dafür sind die Voraussetzungen vorhanden, denn der Markt als solcher wird nicht bezweifelt. Diskussionen werden hauptsächlich um die Frage geführt, was für ein Markt, ein sozialer (vom Typ des schwedischen oder des deutschen) oder ein „freier“, den die Professoren aus Chicago predigen? …“

Nun kann man ja zustimmen und sich freuen, dass es so friedlich abging. Jeder Tote ist immer ein Toter zu viel. Doch wenn man von der historischen Momentaufnahme dieser Zeit den Blick erhebt und auf den Zeitraum und die globalen Ereignisse danach schaut und zudem Zukünftiges erahnt, kommt eine andere Bewertung zustande. Schüsse sind schon hinreichend in diesem Zusammenhang seitdem gefallen, nur eben zeitlich und teilweise örtlich versetzt, und sehr viel mehr, als zu befürchten war, und unabsehbar fallen sie weiter, soweit das Auge reicht. Ganze Länder sind defacto verschwunden und US-amerikanische Bomben, Stiefel (oder Drohnen) kennen keine Hindernisse auf der Welt, wohin sie auch fliegen oder marschieren wollen.

So gehört die Zerstörung von Jugoslawien zum Verdienst von Gorbatschow, denn er machte diese unmittelbar möglich. Sie war kausal damit verbunden, dass es keine Hemmung im Westen mehr gab, um den Machteinfluss auszuweiten. Die Schwächung der UNO und des Völkerrechts sind ebenso damit verbunden. Versprechen sind nichts wert, wie auch Verträge, da ein maßgebliches und im Westen wahrnehmbares Korrektiv weggefallen ist.

Die nationalistischen Verbrechen in den sich abspaltenden Unionsstaaten der nicht mehr existierenden Sowjetunion sind ebenfalls ein Ergebnis des „friedlichen Aufgebens“. Die Ausbreitung des aggressiven Nato-„Bündnisses“ auf Osteuropa und fast den gesamten Balkan stellt ein gefährliches Ergebnis der verfehlten Politik dar, die in Gorbatschows „Verdiensten“ einen Ausgangspunkt finden. Letztlich sind auch der westlich orchestrierte „Krieg gegen den Terror“, der in Kriegen gegen den Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien und anderswo eine kausale Folge aus dem Fehlen der Sowjetunion mündete. Der derzeitige Konflikt in der Ukraine und mit Russland sind ebenso eine direkte Folge aus der von Gorbatschow „gestalteten“ Lage, der historische Zusammenhang ist unverkennbar und deutlich sichtbar.

Ein Trugschluss scheint auch, dass Gorbatschow etwa die nukleare kriegerische Auseinandersetzung verhindert habe. In aller Munde, auch beim Autor, war die Rede von der „Unführbarkeit der Kriege“, weil sie nicht mehr wie bisher, die „Fortsetzung von Politik von Klassen mit anderen Mitteln“ (Lenin), sondern „das Ende jeder Politik“ (Gorbatschow) darstellen würden. Dies hat sich als falsch herausgestellt. Schon Hitler wusste im Übrigen, dass ihm der Einsatz chemischer Waffen keinen sicheren militärischen Erfolg bringen konnte und verzichtete weitgehend darauf. Die die Rolle von Hitler ausführenden Herrschenden der USA, die um die Weltherrschaft ringen, wissen auch, dass sie mit der Atombombe letztlich nichts erreichen können und halten immer nur den Finger über dem Knopf, während sie in herkömmlicher aber recht modern ausgestatteter Weise die vielen Kriege ausführen.

Falin sprach Gorbatschow eine der bei Staatsmännern seltensten Fähigkeiten in aller Entschiedenheit ab: „… der Wahrheit unentwegt ins Auge zu blicken, den anderen und sich selbst die Wahrheit zu sagen. Und nicht nur zu sagen, sondern nach der Wahrheit zu leben. Das heißt den Fakten entsprechend und rechtzeitig zu handeln.“ (ebenda S. 505)

„Glücklich der, der die Welt verlässt, bevor sie auf ihn verzichtet.“ (lt. Falin eine Inschrift am Eingang von Tamerlans Grabstätte – ebenda S. 506) Dieses Glück war Gorbatschow nicht beschieden.

Geschrieben am 01.09.2022


Bild: Michail Gorbatschow bei der Verleihung des Energy Globe Awards im Europäischen Parlament in Brüssel am 26. Mai 2008
Foto: European Parliament, CC BY-NC-ND 2.0
Quelle: https://www.flickr.com/photos/european_parliament/3388972427