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Vorwärts, und nicht vergessen!

Gedanken zur Leninschen Imperialismus-Theorie und zur Gegenwart

von Anton Latzo

Vortrag, gehalten auf einer Bildungsveranstaltung am 13.12.2025

In den Kreisen der Antikommunisten und des Reformismus nimmt die Gegenüberstellung von Leninismus und Marxismus breiten Raum ein. In Wirklichkeit war Lenin nicht nur ein Kenner der Arbeiten von Marx und Engels. Die Erkenntnisse von Marx und Engels waren stets der Ausgangspunkt und der theoretische Richtpunkt für Lenins wissenschaftliche und praktische Arbeit im Dienste der Revolution. Das Werk „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ ist ein Beispiel dafür.

Im „Kommunistischen Manifest“ wird z. B. festgestellt: „Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen.“ Dann fragt Marx: „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte.“

Hier wird schon Wesentliches verdeutlicht, was den Imperialismus ausmacht. Und auf die Frage, wodurch das geschieht, antwortet Marx: “Dadurch, dass sie allseitiger und gewaltigere vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert“.

Lenins Schrift „Imperialismus als höchste Stadium des Kapitalismus“ knüpft an diese Gedankengänge an und erarbeitet eine umfassende Analyse der ökonomischen und politischen Prozesse des Kapitalismus im Imperialismus.

Er schrieb sie mitten im 1. Weltkrieg und vor der Oktoberevolution von 1917, um damit – wie er selbst sagte – „das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren Wechselbeziehungen“ am Beginn des ersten imperialistischen Weltkrieges zu zeigen.

Weltweit war es eine kapitalistische bzw. kapitalistisch kontrollierte Welt, eine Welt, in der die in ihr wirkenden Triebkräfte und die materiellen Hintergründe der Politik vom puren Klassenegoismus des Kapitals geprägt wurden. Es waren Bedingungen des den Erdball umspannenden und beherrschenden kapitalistischen Weltsystems.

Lenin begründete den Charakter der neuen Epoche theoretisch, indem er nachwies, dass der Imperialismus zwar den Kapitalismus der freien Konkurrenz beseitigt hat, aber nicht den Klassencharakter der kapitalistischen Gesellschaft. Alles blieb Kapitalismus!

Die Entwicklung des Kapitalismus bzw. das Verhältnis zwischen den Staaten, den Großmächten und Kolonien wurden nach den gleichen Gesetzen und auf gleichen Grundlagen gestaltet!

Lenin hat nachgewiesen, dass die ökonomische Grundlage des in sein imperialistisches Stadium hinüber gewachsenen Kapitalismus im Monopol besteht.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden in den am meisten entwickelten kapitalistischen Ländern als Folge der Konzentration der Produktion Monopolvereinigungen und große Konzerne, das enorm angewachsene Industrie- und Handelskapital verschmolz zum Finanzkapital, und zugleich gewann der mächtiger gewordene Staat größeren Einfluss  auf die Wirtschaft.

Die Epoche der freien Konkurrenz wurde beendet. Es begann die des monopolistischen Kapitalismus oder Imperialismus.

Das Monopol wurde als das bestimmende Produktionsverhältnis identifiziert.  Seine Erscheinungsformen und zugleich Entwicklungsstufen sind in den bekannten fünf ökonomischen Merkmalen des Imperialismus formuliert. Die Monopole und das Finanzkapital waren das „Neue“ auf ökonomischem Gebiet.

Während aber der Imperialismus zu einer nahezu allseitigen Vergesellschaftung der Produktion führte, blieben die gesellschaftlichen Produktionsmittel Privateigentum einer kleinen Anzahl von Kapitalisten. Das musste zu einer Verschärfung des Grundwiderspruchs des Kapitalismus führen.

„Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das typische für die ‚jüngste Entwicklung des Kapitalismus‘, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger Monopole unvermeidlich hervorgehen musste und hervorgegangen ist“, stellte Lenin fest. Die Entwicklung der Banken aus bloßen Vermittlern von Geldgeschäften zu gewaltigen Finanzmonopolen nannte Lenin „einen der Grundprozesse des Hirnüberwachsens des Kapitalismus in den kapitalistischen Imperialismus“.

Große Bedeutung räumte Lenin der Untersuchung des für den Monopolkapitalismus im Unterschied zum Kapitalismus der freien Konkurrenz charakteristischen Kapitalexport ein. „Welch solide Basis“, schrieb er, „für die imperialistische Unterdrückung und Ausbeutung der meisten Nationen und Länder der Welt, für den kapitalistischen Parasitismus einiger reicher Staaten“.

Auch die Theoretiker der Zweiten Internationale haben erkannt, dass der Kapitalismus der freien Konkurrenz dem Monopolkapitalismus gewichen war. Hilferding, Kautsky, Vandervelde u.a. haben erkannt, dass der Kapitalismus der freien Konkurrenz dem Monopolkapitalismus gewichen war.

Sie vermochten es aber nicht, diese als neue soziale (gesellschaftliche) Wirklichkeit zu verarbeiten. Sie registrierten die (äußeren, organisatorischen) Erscheinungen des Monopolkapitals.

Das führte sie zu der Idee, dass die kapitalistische Gesellschaft zu einem weltweit organisierten einheitlichen Trust werde. Damit, mit der Negation des Sozialen, des Klassenmäßigen taten sie im Vergleich zur wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus, die Marx vorgenommen hat, mehr als einen Schritt zurück!

Und wenn man es mit der heutigen Wirklichkeit, mit den Positionen ihrer Nachfolger vergleicht, dann sind es mindestens zwei Schritte, eine ganze Welt!

Das politische Wesen des Imperialismus wurde von W.I. Lenin mit der Feststellung gekennzeichnet: „Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überall hin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen. Reaktion auf der ganzen Linie, gleichviel unter welchem politischen System, äußerste Zuspitzung der Gegensätze auch auf diesem Gebiet – das ist das Ergebnis dieser Tendenzen. Insbesondere verschärfen sich auch die nationale Unterdrückung und der Drang nach Annexionen, d.h. auch Verletzung der nationalen Unabhängigkeit (denn Annexion ist ja nichts anderes als Verletzung der Selbstbestimmung der Nationen)“.

Aus dem Wesen des Monopols leitete Lenin den Abbau der Demokratie und des Rechts im Imperialismus ab. Das Monopol braucht die absolute Herrschaft, die Herrschaft über die ganze Gesellschaft, um seine ökonomische Herrschaft zu erhalten und auszubauen. „Der politische

Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus … ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion.“

Die Theoretiker der Zweiten Internationale ließen auch die vom Imperialismus verursachte Wende zur politischen Reaktion nicht unbeachtet. Sie registrierten, dass das ernste Wandlungen im Schicksal der bürgerlichen Demokratie bedeutete. Zuweilen haben sie auch darauf hingewiesen. Sie haben auch Betrug, Gewalt, Korruption bedauert.

Aber auch in dieser Fage haben sie darauf verzichtet, das Klassenwesen jeder Demokratie einzuschätzen. Verzicht auf Klassenwesen war auch bei der Einschätzung des Inhalts der politischen Organisation der Gesellschaft charakteristisch. Man versuchte, Antworten auf die durch die Entwicklung der Gesellschaft aufgeworfenen Fragen zu finden, indem man sich einzig und allein auf die Formen dieser Gesellschaft (parlamentarische Form) bezog.

Die Gefolgsleute von Bernstein bestanden darauf, die revolutionäre Arbeiterbewegung zu einer trade-unionistischen, zu einer Gewerkschaftsbewegung zu transformieren. Als Folge dessen taten sie alles, um die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse und ihrer Partei als Vorhut auf die Teilnahme an Wahlkämpfen zu reduzieren. Deutlich wurde das Wesen ihrer Haltung in dem geflügelten Wort von Eduard Bernstein, wonach ihm das sozialistische Endziel nichts, aber die Bewegung alles sei, zum Ausdruck gebracht.

Der Opportunismus bedeutet also nicht so sehr eine Leugnung des theoretischen Buchstabens wie des revolutionären Wesens des Marxismus!

Die Opportunisten sahen auch die vom Imperialismus heraufbeschworene Gefahr eines Weltkrieges, sie warnten vor den Gefahren und legten Proteste bei den Regierungen ein. Als aber der Krieg ausbrach, rutschten sie auf den Standpunkt des Sozialchauvinismus ab und begannen offen nach „theoretischen Argumenten“ zur Rechtfertigung des imperialistischen Vorgehens zu suchen.

Sie wandten sich zum Beispiel offen gegen die Positionen der revolutionären Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Kolonialismus. Eduard Bernstein behauptete 1900 in den „Sozialistischen Monatsheften“ (Nr. 9/1900), dass sich die Partei der Kolonialpolitik nicht „rein negierend“ entgegenstellen könne, da sie „heute tatsächlich unvermeidlich“ sei.

Damit entsprach man den Kalkulationen der damaligen politischen Obrigkeit. Bernhard von Bülow, am 16. Oktober 1900 zum Reichskanzler geworden, ging ebenso wie der Kaiser zum Beispiel davon aus, „dass deutsche Weltpolitik auf die Dauer nur zu treiben ist, wenn die Masse des arbeitenden Volkes ihr zum mindesten nicht feindlich gegenübersteht, wenn der Abgrund zwischen den Arbeitern und dem Staat nicht künstlich erweitert wird“, schrieb die damalige bürgerliche „Tägliche Rundschau“.

Man war also sowohl innen- als auch außenpolitisch im opportunistischen und revisionistischen Sumpf gelandet. Eine wichtige Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung formulierte W.I. Lenin in „Der Imperialismus …“ (Bd. 22, S. 307) wie folgt: „Am gefährlichsten sind in dieser Hinsicht Leute, die nicht verstehen wollen, das der Kampf gegen den Imperialismus ein hohle, verlogene Phrase ist, wenn er nicht verknüpft ist mit dem Kampf gegen den Opportunismus“.

Von großer Bedeutung für die Bestimmung von Strategie und Taktik waren – und sind es auch heute noch – Lenins Erkenntnisse zum Problemkreis der ungleichmäßigen Entwicklung im Kapitalismus.

Schon die junge Sowjetunion musste ihre Außenpolitik, die Verwirklichung des Dekrets über den Frieden, unter schwierigsten inneren und internationalen Bedingungen gestalten.

Die Entwicklung der Produktivkräfte, die Ausbreitung des Marktes und des Konkurrenzkampfes über Ländergrenzen hinweg führten zu einer wachsenden Internationalisierung des Wirtschaftslebens, verschärften gleichzeitig zahlreiche Widersprüche ökonomischer, sozialer und politischer Art.

Dies alles zusammen bedeutete einen großen geschichtlichen Einschnitt in die Entwicklung des Kapitalismus. Die Epoche des Kapitalismus der freien Konkurrenz (der „freien“ und nicht der „Konkurrenz“!) war beendet. Es begann die Epoche des monopolistischen Kapitalismus oder Imperialismus!

Der Imperialismus bleibt aber Kapitalismus! Von den grundlegenden ökonomischen Veränderungen und über die sozialen, politischen und ideologischen Auswirkungen – überall Kapitalismus. Aber muss deshalb auch Imperialismus überall sein?

Zum Ende des 1. Weltkrieges waren zwar wichtige reaktionäre Herrschaftszentren von der Weltbühne verbannt worden. Der 1. Weltkrieg führte zum Ende der vier größten Monarchien der Welt, der Hohenzollern, Habsburger, Romanows und Osmanen.

Über Europa begannen die USA ihren Marsch zur Hegemonie. Deutschland wollte noch immer „aufholen“. Die anderen wollten nicht zurückbleiben. Der Imperialismus ist also geblieben – nicht mehr weltumspannend, aber mit allen seinen inneren und zwischenstaatlichen Widersprüchen. Aber: gegen Sowjetrussland waren sich alle einig.

Zugleich ist aber festzuhalten: Im Verlauf des ersten Weltkrieges verschmolz die Macht der Monopole mit der des Staates zu einem Machtapparat. Das reichte bis zur personellen Verflechtung.

Der Unterschied zu früher bestand darin, dass früher die ökonomischen Maßnahmen des Staates mehr den Anschein der „Einmischung“ des Staates von außen trugen. Die Entwicklung hat dazu geführt, dass die staatliche Tätigkeit ein organisches Element der ökonomischen Prozesse geworden ist.

Der Zweck bestand – und besteht – vor allem und immer mehr in der Erhaltung und Festigung der Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Lenin wies darauf hin, dass „bei der heutigen Weltlage, nach dem imperialistischen Krieg, die gegenseitigen Beziehungen der Völker, das ganze Weltsystem der Staaten bestimmt wird durch den Kampf einer kleinen Gruppe imperialistischer Nationen gegen die Sowjetregierung und die Sowjetstaaten… Nur von diesem Standpunkt aus können die kommunistischen Parteien sowohl der zivilisierten als auch der zurückgebliebenen Länder die politischen Fragen richtigstellen und lösen“.

In Deutschland haben die SPD-Führung, Hilferding & Co die Jahre der relativen Stabilisierung, die Jahre der Entwicklung großer Monopole als Entwicklung einer „Wirtschaftsdemokratie“ eingestuft. Auf dem Magdeburger Parteitag (1929) verstieg man sich sogar zur Behauptung, dass die Zeit der relativen Stabilisierung dazu angetan sei, „die Bahn frei zu machen für den Sozialismus“.

In Wirklichkeit waren es Jahre, in denen die aggressiven Kräfte des Monopolkapitals in engem Zusammenwirken mit dem Staatsapparat die reaktionären Kräfte, vor allem die Faschisten, unterstützten, die den Kampf gegen die revolutionären Arbeiter und ihre Organisationen am aggressivsten führten.

In Deutschland wurde diese Entwicklung ursprünglich durch die erneute Vorbereitung auf den Kampf um die Neuaufteilung der Welt mit Hilfe eines Krieges verstärkt. Dies führte zu einer besonders aggressiven Außenpolitik, zum Anwachsen des Militarismus.

Wie auch in anderen Staaten zeigte sich auch in Deutschland, dass mit der Aggressivität des Imperialismus ein Anwachsen, eine Ausdehnung des Militarismus verbunden ist.

Die Gesamtheit der Prozesse veränderte die internationale Kräftekonstellation. Zu den Quellen imperialistischer Aggressivität kam das Ziel hinzu, das erste sozialistische Land zu vernichten. Gleiche Ziele bestimmten die Politik des Imperialismus gegenüber weiteren sozialistischen bzw. nationalen Befreiungsbewegungen.

Die internationalen Beziehungen der imperialistischen Mächte wurden zwar nach wie vor um die Verwirklichung der als national-staatlich bezeichnete Interessen und um die ökonomischen Interessen der Großkonzerne gestaltet. Diese wurden durchdrungen bzw. überlagert von dem Grundinteresse an der Sicherung der Existenz des gesellschaftlichen Systems des Privateigentums.

Nach der Oktoberrevolution von 1917 in Russland begann eine neue geschichtliche Ära. Die Größe dieser Revolution liegt in ihrem grundsätzlichen Unterschied zu allen vorangegangenen Revolutionen, in denen es immer darum ging, eine Ausbeuter-Ordnung durch eine andere Ausbeuter-Ordnung zu ersetzen.

Mit der Oktoberrevolution hörte der Kapitalismus auf, das allein herrschende Gesellschaftssystem auf der Welt zu sein. Ihm trat in Gestalt der Sowjetunion das sozialistische Gesellschaftssystem gegenüber. Die Anzahl der Staaten, die nach dem 2. Weltkrieg in Europa und Asien den Weg des Sozialismus beschritten haben, ist größer geworden. Die internationale kommunistische und Arbeiterbewegung ist breiter und reifer geworden. Der Zerfall des Kolonialsystems bewirkte eine weitere Schwächung des Imperialismus. Es erweiterte die Reihen der antiimperialistischen Kräfte.

Die Welt war zunehmend in zwei Systeme gespalten. Das ist sie auch heute noch. Die internationalen Beziehungen werden nicht nur vom Konkurrenzkampf und vom Kampf um die Neuaufteilung der Einflusssphären bestimmt. Der Klassenkampf entfaltete sich in all seinen Hauptformen auf internationaler Ebene.

Das Verhältnis der zwei Systeme zueinander wurde durch den Antagonismus der Klasseninteressen und -ziele der in ihnen herrschenden Klassen charakterisiert. Der Kampf zwischen ihnen bildete von nun an den Hauptinhalt der Weltgeschichte.

Die historische Entwicklung zeigt aber auch, dass die dem Kapitalismus eigenen Widersprüche sich ständig so reproduzieren, dass sie immer intensiver und spannungsgeladener wurden. In dem Streben, es nicht zu einer revolutionären Lösung der sich vertiefenden Widersprüche kommen zu lassen, schaffen die Monopole und ihr Staat Bedingungen, die eine Mobilisierung der sozialen und politischen Reaktion ermöglichen.

Bertolt Brecht wies darauf hin, dass es in einem Aufruf gegen den Faschismus keine Aufrichtigkeit liegen kann, wenn die gesellschaftlichen Zustände, die ihn mit Naturnotwendigkeit erzeugen, nicht angetastet werden. Wer den Privatbesitz an Produktionsmitteln nicht preisgeben will, der wird den Faschismus nicht loswerden, sondern ihn brauchen. Die Polizei verbiete die Wahrheit, und die Zeitungen bezahlen die Lüge.

Anfang der 1960er Jahre wurde klar, dass der Frontalangriff gegen die sozialistischen Staaten gescheitert war (Sicherung der DDR-Grenze und Scheitern der Kuba-Invasion). Im Rahmen der Globalstrategie zielten die von Präsident John F. Kennedy begonnene Politik des „Brückenschlags“ und ihrer Bonner Variante, die sogenannte neue Ostpolitik, nunmehr darauf ab, die sozialistischen Staaten durch ideologische und ökonomische Diversion von innen her zu zersetzen, sie vor allem in Gegensatz zur Sowjetunion zu bringen. Die psychologische Kriegsführung wurde zumindest gleichrangig mit dem ökonomischen, politischen und militärischen Kampf eingestuft und ausgebaut.

J.F. Kennedy stellte in seinem Buch „Strategie des Friedens“ fest, dass „die Politik der Befreiung“ sich als „Irrtum erwiesen hat“. Er forderte, an die sozialistischen Staaten „differenziert heranzugehen“. Er rief zum „Austausch von Ideen und Menschen“ auf, um – wie er sagte – „die Samenkörner der Freiheit in beliebige Risse des Eisernen Vorhangs zu säen“ und zwischen die sozialistischen Länder „Keile zu treiben“.

Ziel dieser subversiven Politik war die Umwandlung der Gesellschaft unbequemer Staaten im Sinne des Imperialismus, die dazu notwendige Umgestaltung des Massenbewusstseins, die Ausschaltung der Bereitschaft der Menschen zum Widerstand und zur Selbstorganisation, Formierung einer Gesellschaft mit gelöschtem Erinnerungsvermögen, eine Art Cyborg-Gesellschaft, die sich aus funktionierenden Geschöpfen und nicht aus denkenden und fühlenden Menschen zusammensetzt.

Im Einzelnen hieß das:

A: Demoralisierung

  1. Ziel ist es, die Gesellschaft zu demoralisieren, indem ihre moralischen, Bildungs- und kulturellen Grundlagen untergraben werden, sodass die Menschen Bedrohungen nicht mehr erkennen oder sich dagegen verteidigen können.
  2. Bildungssysteme auf allen Ebenen sind Hauptziele. Schulen werden in Indoktrinationszentren verwandelt, die Relativismus über historische Wahrheit und kritisches Denken stellen.
  3. Medieninfiltration schafft Verwirrung indem spaltende Narrative verstärkt und objektive Wahrheit diskreditiert werden.
  4. Familienstrukturen werden geschwächt durch Förderung von Individualismus und sogenannten alternativen Lebensstilen, die den sozialen Zusammenhalt fragmentieren.
  5. Moralischer Relativismus verwischt Recht und Unrecht, führt zu Apathie und Unfähigkeit, sich gegen die Feinde der Gesellschaft zu vereinen.
  6. Geschichte wird umgeschrieben, um Vorbilder und Traditionen zu verunglimpfen, wodurch Selbstzweifel entstehen sollen.

B: Destabilisierung

  1. Destabilisierung der Wirtschaft, Außenpolitik und Verteidigung.
  2. Wirtschaftssabotage, die Spaltungen vergrößert.
  3. Die Außenpolitik wird manipuliert, um das Land zu isolieren, Allianzen zu schwächen und Gegner zu ermutigen.
  4. Die Krisenphase kontrolliert fördern und zur Not auch Gewalt einsetzen, wenn sich radikale Lösungen abzeichnen.

C: Normalisierung

  1. Subversiven Veränderungen werden zum „neuen Normalzustand“. Dieser wird institutionalisiert und irreversibel gestaltet – durch vorbereitetes Personal.

Das war die Plattform für das Verhalten der USA und der EU-Mächte gegenüber Russland, China und den anderen sozialistischen Staaten.

Das ist der Hintergrund für alles, was heute passiert – auch für die Verkündung der neuesten Sicherheitsstrategie der USA.

Zugleich haben wir die Aussage von Tulsi Gabbard, Direktorin des Nationalen Sicherheitsdienstes der USA vom 31. Oktober 2025, es sei nun Schluss mit einer Außenpolitik, die Jahrzehnte lang darin bestanden habe, „Regime zu stürzen, anderen unser Regierungssystem aufzuzwingen und in Konflikten zu intervenieren, die wir kaum verstanden, und die uns am Ende mehr Feinde als Verbündete einbrachten.“

Ich würde sagen: Die Töne hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!

Damit wird von ofizieller Stelle bestätigt, dass die USA eine aggressive imperialistische Politik betrieben haben, die gegen Frieden und Sicherheit, aber auch gegen die Souveränität der Staaten gerichtet war.

Diese Politik bestätigt die wissenschaftlich begründete Auffassung vom Imperialismus.

Gabbard bestätigt, dass die USA und die EU-Mächte in der Ukraine eine antirussische, bedrohliche Politik verfolgen.

Gabbard sagt selbst, dass die USA sogar in der Zeit nach der Zerschlagung der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten in Europa allein in den Jahren 1991 bis 2022 mindestens 251 militärische Interventionen durchgeführt haben. Zur Begründung hieß es immer, die USA müssten Terrorismus bekämpfen und den Völkern Freiheit und Demokratie bringen.

Aber auch heute wird durch Präsident Trump Nigeria mit Krieg gedroht, Flugzeugträger werden vor die Küste Venezuelas geschickt, Boote mit Menschen an Bord werden versenkt.

Es sollte nicht ungesehen bleiben, dass die USA zwar eine neue Sicherheitsstrategie verkündet haben.

Aber das lässt sich nicht vereinbaren mit der weiteren Aufrechterhaltung einer übermäßig hochgerüsteten Armee und mit Beibehaltung von etwa 1000 Militärstützpunkten in der ganzen Welt.

Und warum? Man sollte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass Samuel Huntington, Wissenschaftler und Regierungsberater 1981 sagte: „Die Architekten der Macht in den Vereinigten Staaten müssen eine Kraft schaffen, die man spüren, aber nicht sehen kann. Macht bleibt stark, wenn sie im Dunkeln bleibt.“ Und er führte weiter aus, dass „man (Interventionen und andere militärische Aktionen) vielleicht so verkaufen muss, dass der falsche Eindruck entsteht, es sei die Sowjetunion, die man deshalb bekämpft. Das sei es, was die Vereinigten Staaten schon seit der Truman-Doktrin tun“.

Also: Die neue Doktrin der USA ist eine Realität, mit der die anderen Akteure auf der Bühne der Weltpolitik rechnen müssen. Denn sie ist zugleich die Verkündung des Anspruchs der USA auf alles, woran sie interessiert sind. Sie steht im Einklang mit der MAGA-Politik der USA!

Und: Diese Strategie ist eine staatliche Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie ist keine persönliche Entscheidung von Donald Trump!

Sie widerspiegelt die Lage des USA-Imperialismus und daraus hervorgehende Erfordernisse. Liefert aber keine Gewissheiten. Imperialismus, Antikommunismus und Russo- und Sinophobie lassen eher Skepsis aufkommen.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass bereits vor ungefähr zwei Jahren der USA-General Ben Hodges, Befehlshaber der USA-Streitkräfte in Europa vor den Mitgliedern des EU-Parlaments erklärt hat, dass die EU noch zwei bis drei Jahren hat, um eine eigene Armee aufzubauen, da die USA nicht bleiben werden. Die Bedeutung wird jetzt bestätigt, nicht primär hinsichtlich des Termins, aber hinsichtlich des Inhalts, da von einer Partnerschaft gesprochen wird, die auf Interessen beruht, und nicht ohne Bedingungen, nicht voraussetzungs- und bedingungslos ist.

Offensichtlich bewegt sich die USA-Politik in Richtung der Suche nach punktueller Interessenübereinstimmung! Die westliche Hemisphäre wird in der Strategie als erste und wichtigste Region für die USA bezeichnet. „Nach langen Jahren des Vergessens werden die Vereinigten Staaten die Monroe-Doktrin bekräftigen und anwenden, um die amerikanische Vorherrschaft in der westlichen Hemisphäre wiederherzustellen und unser Heimatland sowie unseren Zugang zu wichtigen geographischen Standorten in der gesamten Region zu schützen. Wir werden Konkurrenten außerhalb der Hemisphäre die Möglichkeit verwehren, Truppen zu stationieren oder andere bedrohliche Fähigkeiten zu demonstrieren, sowie strategisch wichtige Vermögenswerte in unserer Hemisphäre zu besitzen oder zu kontrollieren.“ (Hervorhebung Autor)

Es geht also um Führungsrolle der USA, Expansionismus, Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, also Imperialismus! Und so geht es weiter.

Die Monroe-Doktrin selbst hatte ihren Anfang als Machtpolitik gemacht. 1904 ermächtigte Präsident Theodore Roosevelt die USA pauschal zur Ausübung einer „internationalen

Polizeigewalt“ und zur kompromisslosen Durchsetzung wirtschaftlicher und strategischer Interessen. Er plädierte für eine Politik nach dem Spruch: „Sprich sanft und trage einen großen Knüppel, dann wirst du weit kommen“.

An zweiter Stelle der Strategie steht Asien, wo die USA beabsichtigen, „mit Gewalt zu führen“.

Die Region ist bereits und wird weiterhin eines der wichtigsten wirtschaftlichen und geopolitischen Schlachtfelder im nächsten Jahrhundert bleiben“, lautet die USA-Position.

Es scheint, dass die USA-Entscheidung zum amerikanischen Rückzug aus Europa keine temporäre politische Option darstellt, sondern eine Notwendigkeit folgt, die sich aus objektiven Bedingungen ergibt. (Manche „Experten“ vergleichen die jetzigen Schritte  der USA mit – wenn sie tatsächlich ausgeführt werden – den Entscheidungen des Gorbatschow-Kreises nach 1989 (ökonomische Probleme im Inneren und bei der Gestaltung des internationalen Kräfteverhältnisses).

Wir sind gut beraten, wenn wir uns nicht von derartigen Spekulationen leiten lassen. Die heutige Politik USA ist Fortführung der Politik gegenüber der Sowjetunion – mit anderen Mitteln. Warum diese Überlegungen nicht über Bord geworfen werden, sagt uns der Intimkenner und Stratege der USA, George Friedmann.

„Für die Vereinigten Staaten ist die Hauptsorge, dass … deutsches Kapital und deutsche Technologie sich mit russischen Rohstoffressourcen und russischer Arbeitskraft zu einer einzigartigen Kombination verbinden, was die USA seit einem Jahrhundert zu verhindern suchen. Also wie kann man das erreichen, dass diese deutsch-russische Kombination verhindert wird? Die USA sind bereit, mit ihrer Karte, diese Kombination zu schlagen. Das ist die Linie zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer. Der Punkt bei der ganzen Sache ist, dass die USA einen ‚Cordon sanitaire‘, einen Sicherheitsgürtel, um Russland herum aufbauen.“

Daran wird seit über 200 Jahren gebaut. Dazu gehört das Verhalten der USA im 2. Weltkrieg, dazu gehört die Sprengung der Pipelines, die Errichtung von Militärstützpunkten der USA in Osteuropa, dazu gehören die „bunten Revolutionen, die Aggression gegen Jugoslawien und auch der Krieg in der Ukraine.

Die USA haben sich zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten in Osteuropa, vom Baltikum bis ins Schwarze Meer, ein ganzes Netz von Militärstützpunkten aufgebaut, in den Staaten politische Regime eingerichtet, Raketenabschussrampen in Polen und Rumänien aufgebaut, die Rohstoffpipelines sprengen lassen, die Beziehungen zwischen den ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten und Russland unterbunden. Bunte Revolutionen von Georgien bis Kiewer Maidan wurden organisiert. Mit den osteuropäischen Staaten haben sie Strategische Verträge über Partnerschaft abgeschlossen, die ausschließlich bilateral und unabhängig von NATO und EU verwirklicht werden können.

Sie sind geeignet, auch nach Schwächung oder gar Auflösung der multilateralen Bündnissee wie NATO oder EU, einen völkerrechtlichen Rahmen für die Weiterführung der Beziehungen der USA zu dienen – von  ökonomischen Beziehungen über militär-strategische Beziehungen bis zur kulturellen Einwirkungen und diversionistischen Tätigkeiten.

In diesem Kontext gehört auch die Äußerung von Henry Kissinger vom 2. Februar 2014, wonach das Regime Change in Kiew sozusagen die Generalprobe für das sein, „was wir in Moskau tun würden“.

Die Sicherheitsstrategie der USA 2025 verstärkt den Blick auf eine Außenpolitik, die der Berücksichtigung der „nationalen“ Interessen, womit die Interessen der Herrschenden gemeint sind, größere Bedeutung einräumt, als das in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist. Einen beträchtlichen nimmt die militärische Stärke ein. Sie enthält eine bemerkenswert kritische Haltung gegenüber der EU und ihren Hauptmächten, aber fördert deren antirussische und China feindliche Politik. Sie bekämpft jede antiimperialistische Politik anderer Staaten.

Sie ist nicht gleichzusetzen mit Isolationismus! Sie ist Durchsetzung imperialistischer Ziele mit angepassten Mitteln! Sie bleibt reaktionär und aggressiv.

Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bild oben: Wladimir Lenin hält nach seiner Rückkehr nach Petrograd eine Rede (April 1917)
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