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Schmerzhafter Abschied von der Illusion Israel

Die Deutsch-Israelin Nirit Sommerfeld hat einen eindrucksvollen und sehr aktuellen Roman geschrieben

Rezension von Arn Strohmeyer

Die deutsch-israelische Schauspielerin, Sängerin und Schriftstellerin Nirit Sommerfeld setzt sich seit Jahren als politische Aktivistin Vorträge haltend, singend und schreibend für eine gerechte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ein. Das heißt für sie vor allem, dass auch die Palästinenser einen Anspruch auf Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung haben. Wer diese Frau einmal auf der Bühne erlebt hat, wird diesen Auftritt nicht vergessen.

Diese vielseitige Künstlerin hat nun einen Roman mit dem geheimnisvollen Titel „Beduinenmilch“ vorgelegt. Sie schildert in diesem Werk den Entwicklungsweg einer jungen Deutsch-Israelin, die als überzeugte und begeisterte Zionistin von Berlin nach Israel reist, um „ihrem Land zu dienen“, das heißt, dort Wehrdienst zu leisten. Die israelische Wirklichkeit, der sie dort begegnet (Besatzung, Unterdrückung, die rassistische Verachtung der Palästinenser, permanente Gewalt und Krieg) erschüttert sie zutiefst und lässt sie einen ganz anderen Weg einschlagen. Nirit Sommerfelds Romanheldin Talia, die sicher autobiographische Züge trägt, ändert aber in Israel nicht nur ihr politisches Weltbild, sie findet in der Auseinandersetzung mit der furchtbaren Realität dort zu eigener Kraft und Stärke und damit zu sich selbst.

Damit hat der Schreiber dieser Zeilen eigentlich schon zu viel vom Inhalt und der Handlung des Romans verraten, was ja die Gefahr in sich birgt, dass potenzielle Leser gar nicht mehr zu dem Buch greifen, weil die Rezension ihnen schon alles Wichtige über das Werk mitgeteilt hat. Das wäre sehr schade und gar nicht die Absicht des Rezensenten, der diesen großartigen Roman unbedingt zur Lektüre empfehlen möchte. Denn die Erlebnisse Talias in Israel geben einen tiefen Einblick in die sehr widersprüchliche israelische Realität – die gegenwärtige und die vergangene. Da ist auf der einen Seite der grausame Besatzungs- und Apartheid-Staat mit all seinen widerwärtigen Auswüchsen, und da sind auf der anderen Seite viele liebenswerte Menschen aus Talias näherer Umgebung – Verwandte, Freunde und Friedensaktivisten, die sie kennenlernt. Und auch die Landschaften Palästinas bzw. Israels liebt sie über alles, besonders die Gegend um Eilat, wo sie aufgewachsen ist.

Aber auch mit der immer noch tabuisierten Vergangenheit des zionistischen Staates wird Talia konfrontiert. Der inzwischen verstorbene Großvater, den sie über alles geliebt hat, hinterlässt ihr ein Tagebuch, aus dem sie erfährt, dass dieser Mann an führender Stelle in den zionistischen Milizen Palmach und Hagana 1948 an der Nakba teilgenommen hat, auch und gerade an furchtbaren Massakern wie in Tantura. Dieser Großvater war sicher kein Unmensch, er ermahnt seine Soldaten immer wieder, die Gebote der Menschlichkeit einzuhalten. Aber es bleibt der schreckliche Zwiespalt: Kann man an einer ethnischen Säuberung teilnehmen und dabei anständig und moralisch sauber bleiben? Und so gerät Talia immer mehr in einen tiefen, fast ausweglosen Gewissenskonflikt: Israel ist ihr Land und doch nicht ihr Land!

Sie muss für sich vor allem das offizielle israelische Bild von den Palästinensern korrigieren, die die zionistische Propaganda ausschließlich als „Tiere“ oder „Terroristen“ diffamiert. Sie wird in den „Gebieten“, wie sie in Israel offiziell heißen, von den Menschen dort sehr freundlich und warmherzig aufgenommen. Es gibt keine Vorurteile und keinen Hass gegen sie als Jüdin, sondern eine große Zuwendung und Gastfreundschaft.

Ein Schlüsselerlebnis hat sie, als sie an einem Protest von Aktivisten gegen die Zerstörung eines Beduinendorfes teilnimmt. Sie sieht, wie die Bulldozer die einfachen Behausungen dieser Wüstenbewohner aus Wellblech und Zeltplanen plattmachen. Gegen die unerwünschten Zeugen dieses Vorganges setzen Polizei und Armee Tränengas ein, Talia verliert das Bewusstsein. Sie wacht in einem noch nicht zerstörten Zelt wieder auf und die Beduinen geben ihr einen Trunk aus Schafsmilch mit Kräutern, also „Beduinenmilch“, die ihr die Lebenskräfte wiedergibt. Ein Beduine, der sich gegen die Zerstörung seines Hauses und Dorfes auflehnt, wird von den israelischen „Ordnungshütern“ erschossen. Zuvor hatte er Talia, als sie mutig gegen einen Soldaten vorgegangen war, noch zugerufen: „Du hast die Seele einer Beduinin, das ist gut. Lass Dich nicht unterkriegen!“ Dieser Satz wird für sie zu einem Leitmotiv für ihr Leben.

Dieser Roman hat mehrere Ebenen. Er erzählt einerseits die Geschichte einer mutigen jungen Frau, die einen Lernprozess durchmacht und schließlich gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit kämpft, daran wächst und so zu sich selbst findet. Talia steht so gesehen für das große Problem des gegenwärtigen Judentums überhaupt: die Spaltung in stammesbezogenen gewalttätigen Nationalismus (Zionismus) einerseits und in Universalismus und Kosmopolitismus mit dem Vorrang von Menschenrechten und Völkerrecht andererseits. Auch wenn die Menschen in Israel in ihrer Umgebung ihr noch so oft versichern, dass es zum zionistischen Weg der Gewalt gegenüber den Palästinensern keine Alternative gebe, sie lässt sich „nicht unterkriegen“, wie der Beduine ihr geraten hat, und kann nur den universalistischen Weg einschlagen.

Man kann dem Roman noch eine Ebene entnehmen, von der man aber nicht behaupten kann, dass die Autorin sie beabsichtigt hat. Das Buch vermittelt auch die Einsicht, die vielen Deutschen und besonders der deutschen Politik so schwerfällt: Israel ist ganz anders! Es ist nicht in erster Linie der Staat der Holocaust-Überlebenden, der permanent von seinen Nachbarn bedroht wird und sich wehren muss. Israel ist in Wirklichkeit ein siedlerkolonialistischer, aggressiver “Kriegerstaat“, der unfähig ist, mit seinen Nachbarn in Frieden zu leben und nur ein Gesetz kennt: das der Gewalt.

Insofern hat die Handlung von Nirit Sommerfelds Roman gleichnishaften Charakter: Die Entwicklung, die die Heldin des Buches durchmacht, steht der deutschen Politik noch bevor. Nach dem Genozid in Gaza gilt es, Abschied zu nehmen von dem illusionären Wunsch-Israel, das die deutsche Politik so lange beherrscht hat und ein neues und auf den Realitäten beruhendes Verhältnis zu diesem Staat zu finden. Dass der Universalismus und nicht die Identifizierung mit dem chauvinistischen Zionismus dabei das maßgebende Prinzip sein muss, steht außer Frage.

Der Roman hält den Deutschen so gesehen einen Spiegel vor, der zu ihrer Selbsterkenntnis beitragen kann. Dem Buch ist weiteste Verbreitung zu wünschen. Es liest sich spannend wie ein Krimi und ist dabei gleichzeitig politische Aufklärung im besten Sinne!

Arn Strohmeyer lebt und arbeitet als Journalist und freier Schriftsteller in Bremen. Zuletzt schrieb er im  „FREIDENKER“ Nr. 4-24 den Beitrag „Israel begeht Völkermord im Gazastreifen und Deutschland ist Mittäter

Nirit Sommerfeld: 
Beduinenmilch
344 S., Hardcover
Cadolzburg: ars vivendi Verlag, 2025
ISBN 978-3-7472-0716-1
22 Euro


Bild oben: Titelansicht des Buches von Nirit Sommerfeld
© ars vivendi Verlag