Demokratie – Medien – Aufklärung

Für aufrechten, wahrheitsgemäßen Journalismus

Kölner Karlspreis für Engagierte Literatur und Publizistik verliehen an Eventmanagerin und Künstlerin Sabiene Jahn und WikiLeaks-Gründer Julian Assange

von NRhZ-Redaktion

In Kooperation mit Assange-Aktionsgruppen und dem Bundesverband Arbeiterfotografie hat die Neue Rheinische Zeitung (NRhZ) am 16. Oktober 2020 den Kölner Karlspreis für Engagierte Literatur und Publizistik an die Eventmanagerin und Künstlerin Sabiene Jahn und den WikiLeaks-Gründer Julian Assange verliehen. Stellvertretend für den inhaftierten Julian Assange hat sein Vater John Shipton den Preis entgegengenommen. Die Preisübergabe fand im Rahmen einer 55-stündigen Mahnwache für die Freilassung von Julian Assange statt – unmittelbar vor dem Kölner Dom. Die Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung zu Köln würdigen die Preisträgerin Sabiene Jahn und den Preisträger Julian Assange für herausragende Leistungen zur gelebten Demokratie, deren Voraussetzungen Informations- und Meinungsfreiheit sind. Der Zeitpunkt ist bewusst gewählt und in die kritische Phase des Auslieferungsverfahrens von Julian Assange an die USA gelegt, wo ihm 175 Jahre Haft oder gar die Todesstrafe drohen, während er in London seit über 555 Tagen unter Folterbedingungen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh „Ihrer Majestät“ der Königin von England bis zur Urteilsverkündung am 4. Januar 2021 gefangen gehalten wird.

Die Verleihung des Kölner Karlspreises für Engagierte Literatur und Publizistik am 16. Oktober 2020 war – erstmals unter freiem Himmel – eingebunden in die dreitägige Präsentation des Kunstwerkes „ANYTHINGTOSAY?“ des italienischen Bildhauers Davide Dormino, das die Leistung der Whistleblower Edward Snowden, Chelsea (Bradley) Manning und des Journalisten und WikiLeaks-Gründers Julian Assange zum Thema hat. Moderiert von Anneliese Fikentscher sprachen Davide Dormino (Bildhauer der Skulptur „ANYTHINGTOSAY?“), Patrick Bradatsch zusammen mit Claudia Daseking (Assange-Aktivisten vom Team „ANYTHINGTOSAY?“), John Shipton (Vater von Julian Assange), Annette Groth (ehem. menschenrechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE), Hermann Ploppa (Publizist und Buchautor u.a. „Die Macher hinter Kulissen“) und Dr. Ansgar Schneider (Mathematiker, Physiker und Autor von „Stigmatisierung statt Aufklärung“). Lutz Weber, Bijan und Guy Dawson bereicherten das Programm mit musikalischen Beiträgen. Der Ort auf dem Kölner Domvorplatz konnte prominenter nicht sein.

Dormino: „Wer, so wie ich, das Glück hatte, Julian persönlich zu begegnen und einige Stunden mit ihm zu verbringen, muss davon überzeugt sein, dass Julian Assange unser Held der Stunde ist. Er ist wie Prometheus, ein Titan, ein Held unserer Kultur, der den Göttern trotzt, indem er ihnen das Feuer stiehlt und es der Menschheit reicht.“ Handelt es sich um politische Kunst? „Kunst kann politisch sein. Ich glaube an Aktionen. Öffentliche Kunst hat die Macht, Menschen wachsen zu lassen und ihren Standpunkt zu ändern. …“

Assanges einziges Verbrechen heißt Journalismus

Ist Julian Assange ein politischer Gefangener? Gnadengesuche auch von deutschen Unterstützern an die Queen von England wurden mit der Antwort beschieden, die Königin greife „nicht in politische Verfahren“ ein. Was hat Julian Assange getan, dass er wie ein Schwerstverbrecher behandelt wird? Laudatorin Annette Groth (2009-2017 menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion DieLinke im Bundestag): „…er hat die Wahrheit über die US-Kriegsverbrechen im Afghanistan- und im Irakkrieg gesagt und dafür Beweise geliefert, das ist sein Verbrechen! Sein einziges Verbrechen heißt Journalismus. Will sich die Bundesregierung durch Schweigen nicht an Folter beteiligen und mitschuldig sein, muss sie alles tun, um Julian Assange freizukriegen und ihm Asyl anbieten… Wir dürfen Verletzungen und die Außerkraftsetzung der europäischen Menschenrechtskonvention und der Antifolterkonvention nicht zulassen, Menschenrechte sind unteilbar, sie gelten auch und insbesondere für Whistleblower wie Assange.“

Der Kölner Karlspreis wird erstmalig an zwei Preisträger verliehen, wobei der Preis nicht geteilt sondern verdoppelt wird. Das Aktionsfeld der Laureaten ist in der Sache verwandt, der Wirkungskreis ist global im Falle Julian Assange und lokal im Falle der Kommunikationswirtin und Künstlerin Sabiene Jahn. In ihrer Vortragsreihe „Koblenz:im Dialog“ bringt sie seit März 2018 Menschen zu einem parteiübergreifenden Austausch zusammen. Hochspezialisierte Referenten, Politologen, Sozialwissenschaftler, Wirtschaftsexperten, Buchautoren berichten zu brisanten Fragestellungen gesellschaftlicher Vorgänge und Entwicklungen rund um die Themen Frieden, Gerechtigkeit, gesellschaftliches Miteinander und Perspektiven. Ein großes Zeitfenster ist jeweils für anschließende Diskussion und Fragen vorgesehen. Dafür wurde Sabiene Jahn im Koblenzer Umfeld von politischen Gruppen und Einzelpersonen persönlich angegriffen, diffamiert und gestalkt. Der Mut, diesen Aggressionen mit Geduld, Gesprächsbereitschaft – wenn unvermeidlich aber mit juristischen Konsequenzen – zu begegnen, betrachten die NRhZ-Herausgeber ebenfalls als außergewöhnlich und daher preiswürdig. Am 30. September 2020 erwirkte sie einen Gerichtsentscheid, der einem Angeklagten unter Androhung von bis zu 250.000 Euro Strafe oder alternativ bis zu sechs Monaten Haft untersagt, seine diffamierenden Unterstellungen zu verbreiten.

Sabiene Jahn: Hoffnung fühlt sich kraftvoll an

Über die Veranstaltungsreihe „Koblenz: im Dialog“ hinaus ist die Geehrte aktive Teilnehmerin von Friedens- und Bürgerrechtsbewegungen, ist aktiv in der Unterstützung für die Freiheit von Julian Assange. „Ich habe an der Seite von John Shipton, dem Vater von Journalist und Wikileaks-Gründer Julian Assange gespürt, wie kraftvoll sich Hoffnung anfühlt. Rasch verblassen kleinere eigene Sorgen im Wissen darum, dass (s)ein Sohn in unserem Europa gefoltert wird.“

„Wenn wir uns zusammenschließen, werden wir gewinnen“, bedankte sich John Shipton, der eigens aus London angereiste Vater von Julian Assange, bei der Entgegennahme der Auszeichnung vor der Kölner Kathedrale und vor dem machtvollen Kunstwerk „ANYTHINGTOSAY?“. Im Interview mit Felicitas Rabe sagt er: „Julian hat sich sehr über die Auszeichnung gefreut. Er weiß, dass ich gerade in Köln bin und den Preis an seiner Stelle entgegennehme. Für ihn zählt jeder einzelne Mensch, der sich für einen aufrechten und wahrheitsgemäßen Journalismus einsetzt. Und für ihn zählt jede Stimme, die Öffentlichkeit für seine Situation herstellt und sich für ihn einsetzt. “

Genau der Typ Mensch, den wir brauchen

Mut machte den anwesenden TeilnehmerInnen der Laudator, Politikwissenschaftler, Journalist und Verleger Hermann Ploppa aus Marburg und sprach’s in die auf ihn gerichteten Kameras: „Ein Beweis, dass eine Solidaritätsbewegung, wie wir sie haben, zum Erfolg führen kann, ist Angela Davis. Sie wurde 1970 aus rassistisch niedrigsten Motiven ins Gefängnis gebracht und war massiv bedroht, auf dem elektrischen Stuhl zu enden. Und die internationale Solidaritätsbewegung hat das verhindert… Ein Zeichen, dass so etwas auch gut gehen kann.“ Ploppa würdigte beide Preisträger als „so tapfere Leute wie Julian Assange und Sabiene Jahn, das ist genau der Typ Mensch, den wir brauchen“. Und ans Publikum gerichtet: „Wenn ich mich hier umsehe, gibt es viele davon“. Die aus Aachen gekommenen über 80jährigen Friedensaktivisten Helene und Dr. Ansgar Klein trugen ein Schild mit der Aufschrift „Wir sind das Immunsystem der Demokratie“.

Als vorangegangene Kölner Karlspreisträger meldeten sich der Schriftsteller und Jurist Dr. Wolfgang Bittner sowie die Publizistin und Tochter des ersten Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Evelyn Hecht-Galinski, zu Wort.

Wolfgang Bittner, Karlspreisträger von 2010: „Was mit Julian Assange geschieht, ist eine Tragödie und ein schwerwiegender, dreister Angriff auf die Freiheit der Berichterstattung. Wollen wir hoffen, dass sein Martyrium bald ein Ende findet und er aus der Haft entlassen wird. Gut dass die Neue Rheinische Zeitung und auch Sabiene Jahn immer wieder auf dieses Verbrechen aufmerksam machen, das unter den Augen der dazu schweigenden westlichen so genannten Wertegemeinschaft geschieht.“

Evelyn Hecht-Galinski, Karlspreisträgerin von 2014: „Wir brauchen Menschen, die zu ihren Überzeugungen stehen, die kein Unrecht geschehen lassen wollen, erst recht, wenn’s schwierig wird. Mutige Menschen wie Sabiene Jahn und Julian Assange sind heute und in der Geschichte selten anzutreffen. Im deutschen Faschismus gab es WiderstandskämpferInnen. Hätte es mehr gegeben, wäre uns allen viel erspart geblieben. Ich freue mich über die Wahl der Karlspreisträger.“

Erstveröffentlichung in der NRhZ, Online-Flyer Nr. 755  vom 23.10.2020: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27065


Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird

Rede von Annette Groth auf der Kundgebung im Rahmen der Verleihung des Kölner Karlspreises an Sabiene Jahn und Julian Assange, Köln, 16.10.2020

Annette Groth vor der Skulptur ANYTHINGTOSAY? von Davide Dormino (Foto: arbeiterfotografie.com)

Lieber John, liebe Freunde und Freundinnen, Dank Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann, Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung, NRhZ, stehen wir hier, und schreien die Ungerechtigkeit, die Julian Assange erfährt, laut heraus. Peter Kleinert, der frühere Herausgeber der NRhZ, hat den Kölner Karlspreis für Engagierte Literatur und Publizistik ins Leben gerufen und heute erhalten Julian Assange und Sabiene Jahn, diesen Preis. Sabiene Jahn ist eine mutige, aufrechte Künstlerin und Kämpferin für Menschenrechte und Demokratie, herzlichen Glückwunsch, liebe Sabiene! Es ist mir eine große Ehre, die Laudatio auf Julian Assange zu halten, und ich danke nochmals Anneliese und Andreas für ihr außerordentliches Engagement und für die Organisation dieser tollen Veranstaltung! Es dürfte allen klar sein, wie sehr die Presse- und Meinungsfreiheit auch bei uns gefährdet ist, vor allem in Corona-Zeiten, das will ich jetzt aber nicht vertiefen.

Seit einiger Zeit attackieren Polizisten insbesondere bei antifaschistischen Protesten oder Hausräumungen gezielt JournalistInnen, mit Schlagstöcken, Pfefferspray oder anderen Mitteln, zerstören Kameras und beleidigen sie verbal aufs Gröbste.

Seit März, Anfang des Corona-Ausnahmezustands, waren laut dem Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (DJU) Berlin-Brandenburg in der Gewerkschaft Verdi insgesamt etwa 50 Kolleginnen und Kollegen davon betroffen. Anfang Oktober hat die Polizei bei der Besetzung des Bundesverbands Braunkohle im Haus der Wirtschaft drei Kolleginnen und Kollegen festgenommen, darunter ein Journalist von Spiegel TV.

Angezeigt werden Polizisten sehr selten, weil die Polizei im Fall von antifaschistischen Protesten meist nicht mehr zwischen Journalisten und Aktivisten unterscheidet. Darüber hinaus läuft man Gefahr, plötzlich vom Opfer zum Täter erklärt zu werden, und damit also möglicherweise eine Gegenanzeige und ein Ermittlungsverfahren am Hals hat.

Die Behandlung und Diffamierung von Andersdenkenden hat inzwischen eine Dimension erreicht, die mir große Angst macht. Immer mehr WissenschafterInnen und JournalistInnen trauen sich nicht mehr die Wahrheit zu sagen, aus Angst vor shit-stürmen, die von handfesten Drohungen und Diffamierungen bis zu existenzbedrohenden beruflichen Nachteilen gehen können. Ich nenne das die neue Hexenverfolgung. Damit will man einschüchtern und Menschen davon abbringen, die Wahrheit zu sagen. Und das ist sehr erfolgreich, wie wir z.B. an den haarsträubenden Diffamierungen von Menschen sehen, die die israelische Regierungspolitik kritisieren und die Respektierung der Menschenrechte einfordern.

Nichts anderes hat Julian Assange gemacht: er hat die Wahrheit über die US-Kriegsverbrechen im Afghanistan- und im Irakkrieg gesagt und dafür Beweise geliefert, das ist sein Verbrechen! Sein einziges Verbrechen heißt Journalismus.

Um Julian Assange vor Gericht zu zerren und ihn lebenslang einzusperren, hat die Trump-Administration Journalismus zur Spionage umgedeutet. Sie beziehen sich auf ein Spionagegesetz von 1917, das während des Ersten Weltkrieges verabschiedet wurde, um Friedensaktivisten zum Schweigen zu bringen, die gegen die Kriegsbeteiligung der USA waren.

Nach Daniel Ellsberg, der 1971 die Pentagon-Papiere veröffentlichte, ist dies meines Wissens das zweite Mal in der Geschichte der USA, dass ein Journalist für die Veröffentlichung wahrheitsgemäßer Informationen nach dem Spionagegesetz angeklagt werden soll. An Julian Assange wird ein Exempel statuiert und die Botschaft lautet: „Wer sich mit uns anlegt, wird seines Lebens nicht mehr froh. Er wird sein Leben schließlich verlieren.“

John Pilger, einer der weltweit anerkanntesten Journalisten, hat in einem kürzlich veröffentlichten Interview gesagt: „Die Wahrheit ist, dass diese Qual, die Assange nun Tag für Tag ertragen muss, in einem Gericht, das nicht den Regeln des „ordentlichen Verfahrens“ sondern der Logik der fälligen Rache und Voreingenommenheit folgt — er muss da durch, weil die Träger politischer Macht ihn als politischen Feind ausgemacht haben. Eine vollkommen gesetzlose Herangehensweise. Ich habe über die Jahre in vielen Verhandlungen gesessen. So etwas wie diese Anklage habe ich noch nie gehört. Es ist wie die Teegesellschaft in „Alice im Wunderland“: Zwar sind alle verrückt, aber sie nehmen sich dabei vollkommen ernst. Ich glaube, die meisten Fehler, die US-Journalisten machen, sind ihrer Ignoranz in Fragen der Außenpolitik, des Kontextes und der Geschichte geschuldet.“

Auch bei uns ist die zunehmende Ignoranz vieler Journalisten, die nur noch wiedergeben, was Regierungssprecher oder ähnliche Figuren sagen, leider nicht mehr zu übersehen.

Umso wichtiger sind Journalisten, die noch angstfrei recherchieren und unbequeme Wahrheiten veröffentlichen. Darum geht es: die Verbrechen, die unsere Regierungen oder Konzerne verüben, aufzudecken und sie uns, der Bevölkerung mitzuteilen. Die Quellen, auf die sich die Rechercheergebnisse stützen, müssen geschützt werden, damit sie unversehrt bleiben und nicht getötet oder ins Gefängnis gebracht werden. Nur mit diesem garantierten Quellen-Schutz werden Menschen bereit sein, über Verbrechen zu sprechen, die vertuscht werden sollen.

Seit Wochen werden wir mit Informationen über den Gesundheitszustand von Nawalny und den Anschuldigungen gegen Putin überschwemmt, aber Informationen über den Prozess gegen Julian Assange sind rar, wie insgesamt die Medienberichterstattung über Julian Assange zumeist negativ und eher Propaganda der betroffenen Staaten war. Insgesamt gibt es nur wenige Journalisten weltweit, die sich oft und laut zu Wort melden und das Unrecht, dass an Julian Assange seit über 10 Jahren verübt wird, anprangern.

Vor einiger Zeit wurde Noam Chomsky gefragt, warum die Welt des Journalismus in Bezug auf die Verfolgung von Assange so stumm bleibt. Seine Antwort: „Vielleicht haben die Leute Angst, vielleicht haben sie andere Gründe. Aber es ist keine große Ehre für den Journalismus, zu sehen wie man sich davon zurückhalten lässt, jemanden zu unterstützen, der die höchsten Ideale des Berufstandes erfüllt und dafür brutal verfolgt wird. Dies ist eine Mission, die von Journalisten bejubelt werden sollte; sie sollten an der Front stehen, wenn es darum geht, Assange und auch sich selbst – gegen eine Staatsmacht, die außer Kontrolle geraten ist – zu verteidigen.“

Gerhart Baum, einer der letzten Liberalen der ollen FDP, betonte am 6.2. 2020: „Ich sitze heute hier, weil die Pressefreiheit kriminalisiert werden soll“. An dem Tag traten die ehemaligen Bundesminister Sigmar Gabriel (SPD) und Gerhart Baum (FDP) und die Linken-Abgeordneten Sevim Da?delen mit Günter Wallraff vor die Mikrophone in Berlin und stellten ihren gemeinsamen Appell „Freilassung für Julian Assange“ vor, den Wallraff initiiert hatte.

Die über 130 Prominenten aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur, die diesen Appell unterzeichneten, forderten die Bundesregierung dazu auf, sich bei der britischen Regierung für die Freilassung von Assange einzusetzen. Aber ein Sprecher des Auswärtigen Amts erklärte, dass die Zuständigkeit des Verfahrens bei der britischen Justiz liege und die Bundesregierung über keine eigenen Erkenntnisse zu den Haftbedingungen verfüge.

Das ist eine unglaubliche Lüge, weil der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, die Bundesregierung über die unmenschlichen Haftbedingungen in dem Hochsicherheitsgefängnis informiert hat. Melzer hatte gefordert, die Vorwürfe der Misshandlung Assanges und seine Haftbedingungen zu untersuchen, was in London, Berlin und von anderen beteiligten Regierungen aber überhört wurde. Sie sind mitschuldig an den massiven Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Antifolterkonvention.

Zu Recht verurteilte Melzer die involvierten Regierungen dafür, Assange den Schutz seiner grundlegendsten Menschenrechte und seiner Würde versagt zu haben.

Zitat: „In 20 Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung habe ich es nie erlebt, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammentut, um eine einzelne Person derart willkürlich zu isolieren, zu dämonisieren und zu missbrauchen.“

Ein Interview, das Melzer im Februar der Schweizer „Republik“ gab, einem digitalen Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, trug den Titel „Assange wurde von Schweden, England, Ecuador und den USA gezielt psychologisch gefoltert“. Dieses lesenswerte ausführliche Interview hat der Stern am 7.2. veröffentlicht, eine Lehrstunde für einen der Wahrheit verpflichtenden Journalismus.

Ich möchte einige Sätze von Nils Melzer zitieren: „Denn wenn investigativer Journalismus einmal als Spionage eingestuft wird und überall auf der Welt verfolgt werden kann, folgen Zensur und Tyrannei. Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System. Kriegsverbrechen und Folter werden nicht verfolgt. Youtube-Videos zirkulieren, auf denen amerikanische Soldaten damit prahlen, gefangene irakische Frauen mit routinemäßiger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben zu haben. Niemand untersucht das. Gleichzeitig wird einer mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der solche Dinge aufdeckt. Er wird ein Jahrzehnt lang überzogen mit Anschuldigungen, die nicht nachgewiesen werden, die ihn kaputtmachen. Und niemand haftet dafür. Niemand übernimmt die Verantwortung. Es ist eine Erosion des Sozialvertrags. Wir übergeben den Staaten die Macht, delegieren diese an die Regierungen – aber dafür müssen sie uns Rede und Antwort stehen, wie sie diese Macht ausüben. Wenn wir das nicht verlangen, werden wir unsere Rechte über kurz oder lang verlieren. Menschen sind nicht von Natur aus demokratisch. Macht korrumpiert, wenn sie nicht überwacht wird. Korruption ist das Resultat, wenn wir nicht insistieren, dass die Macht überwacht wird.“

Wir wollen die Mächtigen kontrollieren, und wie wichtig dies ist, zeigt uns Julian Assange. Darum werden wir überall und laut seine Freilassung fordern.

Will sich die Bundesregierung durch Schweigen nicht an Folter beteiligen und mitschuldig sein, muss sie alles tun, um Julian Assange freizukriegen und ihm Asyl anbieten.

Der Fall Julian Assange zeigt die absolute Doppelzüngigkeit der großen Medien, die laut aufschreien, wenn es um Rußlands mutmaßliche Vergehen geht, aber dröhnend zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen in westlichen Staaten schweigen.

Wir dürfen Verletzungen und die Außerkraftsetzung der europäischen Menschenrechtskonvention und der Antifolterkonvention nicht zulassen, Menschenrechte sind unteilbar, sie gelten auch und insbesondere für Whistleblower wie Assange. Freiheit für Julian Assange!

Annette Groth ist ehem. menschenrechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes.

Erstveröffentlichung in der NRhZ, Online-Flyer Nr. 755  vom 23.10.2020: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27069


Bild oben: Sabiene Jahn und John Shipton (Vater von Julian Assange) vor der Skulptur „ANYTHINGTOSAY?“ von Davide Dormino am Kölner Dom (Foto: arbeiterfotografie.com)