
In Moskau zum 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus
von Tilo Gräser
Aus: „FREIDENKER“ Nr. 2-25, Juli 2025, S. 3-11, 84. Jahrgang
Ich musste an den einen meiner beiden Großväter denken, den ich nie kennengelernt habe, als ich zusammen mit meiner Kollegin und Partnerin Éva Péli am 11. Mai durch die Umgebung von Moskau fuhr. Wir saßen gemeinsam mit Viktor Lerch aus Selenograd sowie dessen Nichte und deren Mann im Auto und fuhren durch Orte und Wälder im Nordwesten der russischen Hauptstadt. Unser Ziel war zum einen das Kloster Nowo Jerusalem und zum anderen das Denkmal für die Ende 1941 bei der Verteidigung Moskaus gefallenen sowjetischen Soldaten.
Ich überlegte, ob mein Großvater als deutscher Soldat vor mehr als 80 Jahren auch in dieser Gegend gewesen war. Das weiß ich nicht. Mir ist nur bekannt, dass er als einer von 3,3 Millionen, in der Uniform der faschistischen deutschen Wehrmacht, als Angehöriger des Infanterie-Regiments 311 am 22. Juni 1941 von Ostpreußen aus in die Sowjetunion einmarschierte. Der Weg seiner Einheit führte nach Leningrad und von dort aus in den Süden der Sowjetunion, bis in das Gebiet der heutigen Ukraine. Dort wurde er in der Gegend von Kriwoi Rog Anfang 1944 als vermisst gemeldet und kehrte nie wieder zu seiner Frau und den vier Töchtern im ostpreußischen Bartenstein zurück.
Ob er auf dem langen Weg auch vor Moskau zum Einsatz kam, weiß ich nicht. Möglich ist es. Aber ich war auf der Fahrt durch die Umgebung der russischen Hauptstadt nicht auf der Suche nach Spuren meines Großvaters. Der von Wolgadeutschen abstammende Viktor Lerch hatte uns zwei Tage zuvor zu sich eingeladen, nachdem wir uns im Park des Sieges (Park Pobedy) in Moskau kennengelernt hatten. Dorthin waren Eva und ich am Nachmittag des 80. Jahrestages des Sieges der sowjetischen Armee über die faschistische Wehrmacht gegangen. Wir wollten sehen, wie die normalen Menschen diesen Tag begehen und unter ihnen sein.
Am Vormittag des 9. Mai waren wir wie andere Journalisten trotz Akkreditierung bei dem Versuch gescheitert, die Siegesparade auf dem Roten Platz direkt beobachten und erleben zu können. Wahrscheinlich waren es die strengen Sicherheitsvorkehrungen, die dafür sorgten, dass nur eine relative kleine Auswahl der mehr als 4.000 angemeldeten Medienvertreter aus verschiedenen Ländern – auch einige wenige von westlichen Medien – die Möglichkeit bekam, die Parade aus der Nähe zu beobachten. Uns blieb mit vielen anderen nur der Großbildschirm im Internationalen Pressezentrum in der Ausstellungshalle „Manege“.
Auch beim Zugang zum Park des Sieges gab es Sicherheitskontrollen, wenn auch nicht ganz so streng wie beim Pressezentrum. Die hielten aber die vielen Menschen aus Moskau, aus anderen Regionen Russlands und sogar aus anderen früheren Sowjetrepubliken, wie beispielsweise Kasachstan, nicht davon ab, diesen Tag zu feiern und der Opfer des Kampfes gegen den Faschismus zu gedenken. Das taten sie mit Fahnen und in historischen Uniformen, beim Hören der Konzerte auf der Bühne vor dem Areal des Museums des Sieges und beim Rundgang durch den Park mit seinen Skulpturen und Denkmälern, Ständen und Infotafeln.
Offenheit und Unvoreingenommenheit
Einer von ihnen war Viktor, der uns mit Soldatenkäppi sowie mit einem Schild mit dem Foto seines Onkels Michail M. Tokarew entgegenkam. Das Bild seines Onkels, der als sowjetischer Soldat bis Berlin kam, gehörte zu der Aktion „Unsterbliches Regiment“, mit der der Gefallenen und Veteranen der sowjetischen Armee gedacht wird, die gegen den Faschismus kämpften. Auch in diesem Jahr war die Aktion als gemeinsamer Aufmarsch offiziell aus Sicherheitsgründen untersagt worden, aber viele Moskauer ließen es sich nicht nehmen, wie Viktor einzeln für sich mit Schildern an ihre Angehörigen zu erinnern.
Der heute 63-jährige Sohn eines Wolgadeutschen, in Kasachstan geboren, erzählte uns bereitwillig und freundlich von seinem Onkel ebenso wie von seinem eigenen Leben, seiner Sicht auf Russland und auf die Vorgänge in der Welt, wie den Krieg in der Ukraine. Er hatte dabei auch keinerlei Probleme damit, mit uns, als zwei Journalisten aus Deutschland, zu sprechen, wobei Eva aus Ungarn stammt und vor mehr als 20 Jahren in Moskau studiert hatte, was Sprachbarrieren schnell überwinden half. Solcher Offenheit und Unvoreingenommenheit begegneten wir immer wieder in den fast zwei Wochen in Moskau, so dass mir die in Deutschland grassierende Russophobie umso beschämender erscheint.
Viktor berichtete uns von den Verbesserungen des Lebens der Menschen in Russland in den letzten beiden Jahrzehnten, auch trotz Krieg und Sanktionen, und zeigte sich sicher, dass der Krieg in der Ukraine bald endet. Ihm war klar, dass Kräfte im Westen daran interessiert sind, dass der Krieg fortgesetzt wird, aber ebenso, dass deren Ziel, Russland zu schwächen, nicht erreicht wird. Stattdessen würden vor allem die Europäer sich selber schaden und schwächen, anstatt sich für Frieden einzusetzen. Am Ende lud er uns zu sich ein, als er erfuhr, dass wir noch weitere Tage in Moskau bleiben würden. Und am 11. Mai machten wir uns mit der Eisenbahn auf den Weg zu ihm nach Selenograd-Krjukowo, wo im Dezember 1941 die deutschen Truppen von der sowjetischen Armee gestoppt wurden.
Viktor zeigte uns, wo und wie er wohnt, sowie nach dem restaurierten Kloster Nowo Jerusalem auch das Denkmal für die Gefallenen. Er erzählte, dass in dem Massengrab die Toten beider Seiten ohne Unterschied lagen. Auf einer Tafel beim Denkmal erfuhren wir, dass 1966 die Überreste eines sowjetischen Soldaten von dort an die Kreml-Mauer in das Grabmal des Unbekannten Soldaten überführt wurden, wo seitdem zum Gedenken die Ewige Flamme lodert und wo auch wir während unseres Moskau-Aufenthaltes für einen Moment innehielten.
Die Begegnung mit Viktor erinnerte mich an diejenige ein Jahr zuvor mit Wassili aus Sankt Petersburg.[1] Mit ihm waren wir ins Gespräch gekommen, als er am 9. Mai 2024 am Rande der Paradestrecke mit einem T-Shirt und Schildern an seine Verwandten erinnerte, die im Krieg gefallen waren. Auch er zeigte keinerlei Ressentiment gegenüber dem Enkel eines deutschen Soldaten, der 1941 mit in die Sowjetunion einmarschiert war, und sprach sich wie Viktor dafür aus, dass die Völker in Frieden miteinander leben und diesen bewahren.
Deutsche und Russen
Diesem Anliegen fühlten sich auch eine ganze Reihe Deutscher verpflichtet, die in mehreren Gruppen zum 9. Mai nach Moskau und in andere Städte wie Wolgograd, das frühere Stalingrad, St. Petersburg, das einstige Leningrad, oder nach Kaliningrad, das frühere Königsberg, reisten.
So kam eine Gruppe von etwa 40 Bundesbürgern in die russische Hauptstadt, um zu zeigen, dass nicht alle Deutschen der politisch und medial angeheizten Russophobie in ihrem Land verfallen sind. Es waren vor allem Ostdeutsche, darunter ehemalige Offiziere der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Sie besuchten Gedenkstätten und Museen, trafen sich mit Vertretern des russischen Veteranenverbandes und diskutierten am 6. Mai bei einer Konferenz mit russischen Teilnehmern über die vor 70 Jahren gegründete Organisation des Warschauer Vertrages – als Antwort auf die 1949 gegründete NATO.
Sie hörten dabei, dass der russische Generalmajor a.D. Juri Djakow den Behauptungen aus Kiew und aus dem Westen widersprach, dass Russland in der Ukraine gezielt zivile Ziele angreife. So, wie die sowjetische Rote Armee vor mehr als 80 Jahren gegen die Faschisten kämpfte und nicht gegen Deutschland, kämpfe die russische Armee nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den dortigen Nazismus, aber auch „gegen Europa“, so Djakow. Als der General anderen Rednern zuhörte, saß neben ihm ein Deutscher, der ein Schild hochhielt, auf dem in Russisch stand: „Ich schäme mich für Deutschland“. Christiane Kranz aus dem thüringischen Gotha trug ein T-Shirt mit der Aufschrift in Russisch und Deutsch „Deutschland sagt Danke“. Sie wolle sich damit für die Befreiung vom Faschismus bedanken, erklärte sie auf Nachfrage dazu. Ihr Herz schlage für das russische Volk, sagte sie, und dass die Heldentaten der Soldaten der Roten Armee niemals vergessen werden.
Isolde und Uwe Deutschmann aus Vogtsdorf in Mecklenburg-Vorpommern waren ebenfalls mit der Gruppe nach Moskau gekommen. Sie seien nicht das erste Mal in Russland, berichtete die ehemalige Russisch-Lehrerin. Auch mit ihren Schülern sei sie mehrmals in das große Land gereist. Mit dem Verein „Druschba-Global“ würden sie inzwischen zwei-, dreimal im Jahr nach Russland fahren.[2]
Die geschürte russlandfeindliche Atmosphäre in Deutschland finden die beiden „grauenvoll“. Es sei schlimm, wie versucht werde, die Menschen gegen Russland zu indoktrinieren und zu manipulieren. Sie seien oft genug in dem Land gewesen, um zu wissen, dass nicht stimmt, was darüber erzählt wird. Immer seien sie von den russischen Menschen freundlich empfangen und nie angefeindet worden. Aber die Hetze in den Mainstreammedien, bis hin zu ARD und ZDF, würde bei vielen in Deutschland wirken.
Für Isolde und Uwe Deutschmann war es wie für die anderen sehr wichtig, am 9. Mai, zum Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus in Russland zu sein, den Tag dort zu erleben. General a.D. Djakow empfing die Gruppe auch am 8. Mai, als sie den Verband der russischen Veteranen besuchte. Zuvor hatte sie an dem Tag im Museum des Sieges mit dem General Anatoli Kisseljow einen Kranz niedergelegt. „Es gibt keine guten oder schlechten Völker“, sagte der ehemalige Offizier und Vizevorsitzender des Verbandes, „nur gute oder schlechte Menschen“. Er machte auf eine Besonderheit des russischen Nationalcharakters aufmerksam: Das Bedürfnis, anderen Ländern beim Aufbau zu helfen. Das sei auch nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen, obwohl die Sowjetunion selbst viele Zerstörungen erlitten und vieles wiederaufzubauen hatte.
Djakow ist auch Leiter der militär-patriotischen Jugendbewegung „Junge Karbyschew-Leute“, die den Namen des im KZ Mauthausen ermordeten sowjetischen Generals Dmitri Karbyschew trägt.[3] „Wir bringen den Kindern in erster Linie bei, ihre Heimat zu lieben“, erklärte der ehemalige General und fügte hinzu: „Wir bringen ihnen keine Kriegskunst bei.“ Und sich an eigene Besuche unter anderem in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mauthausen in Österreich erinnernd, sagte Djakow: „Es ist unsere Aufgabe als Antifaschisten, nicht zuzulassen, dass sich so etwas wiederholt, dass wieder KZ entstehen, in denen Menschen zerstört werden.“ Es müsse verhindert werden, dass noch einmal, wie unter Hitler, die Vernichtung ganzer Völker geplant und angestrebt werde.
Vergangenheit und Gegenwart
Der ehemalige Offizier ging bei dem Treffen erneut auf den Krieg in der Ukraine ein. Er wiederholte, dass es Lügen seien, wenn im Westen behauptet werde, die russische Armee greife friedliche Städte an und töte gezielt Zivilisten. Schon im Zweiten Weltkrieg habe die sowjetische Armee, anders als ihre westlichen Alliierten, nie gezielt Städte bombardiert und zerstört. Stalin habe sogar den Befehl ausgegeben, die Städte mit ihrer historischen Architektur zu schützen und zu bewahren.
Auch der Verbandsvorsitzende, Generaloberst a.D. Witali Asarow, ging bei dem Treffen mit der deutschen Gruppe von sich aus auf den Krieg in der Ukraine ein und bezeichnete ihn als „schwierig“. Er zeigte sich sicher, dass Russland am Ende gewinne, aber: „Wir kämpfen gegen unsere Brüder und das stoppt uns in vielen Zusammenhängen.“ Der Krieg sei deshalb so schwierig, weil auf der anderen Seite der Front oftmals Offiziere kämpften, die dieselben einstigen sowjetischen Militärakademien durchlaufen hätten. „Abgesehen von den Lieferungen von ausländischen Waffen, kämpfen wir mit den gleichen Waffen und gemäß den gleichen Militärstatuten, die wir in den gleichen Akademien studiert haben.“
Die Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zeige, was Menschen schaffen können, wenn sie höheren Werten wie denen der Freundschaft und des Friedens folgen, so der Ex-General. Den deutschen Gästen sagte er, dass ihr Besuch zum Tag des Sieges und das Interesse an der sowjetischen und russischen Geschichte der „beste Nachweis“ dafür sei, „dass wir an eine bessere Zukunft glauben. Dass unsere Kinder und unsere Enkelkinder sich einander die Hände reichen als Freunde und als Brüder.“
Zu der erwähnten Gruppe aus Deutschland, die Éva Péli und ich ein wenig begleiteten, gehörten neben Mitgliedern des Traditionsverbandes der Nationalen Volksarmee (NVA) und der Grenztruppen der DDR auch Friedensaktivisten, unter anderem von dem Verein „Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe“.[4] [5]
Zwei von ihnen, Vereinsvorsitzende Liane Kilinc und Mitgründer Klaus Koch, gerieten inzwischen mit dem Vorwurf, eine „terroristische Vereinigung“ zu unterstützen, ins Visier der bundesdeutschen Justiz, samt Hausdurchsuchung in Deutschland mit schwerbewaffneten Spezialkräften. Für Koch, der längst wie Kilinc in Russland lebt, ist das Ausdruck des sich in Deutschland wieder ausbreitenden Faschismus.[6]
Der Songpoet und „Friedensberichterstatter“ Tino Eisbrenner war ebenso mit der Gruppe in Moskau unterwegs.[7] Er trat bei der Konferenz zur Geschichte der Organisation des Warschauer Vertrages und bei einem Liederfestival am 9. Mai im Moskauer Park Pobedy (Park des Sieges) auf. Bei einer Pressekonferenz bei der russischen Nachrichtenagentur TASS am 7. Mai stellte er sein russisches Buch „Журавли. Немецкий поэт в гостях“ (Schurawli – Deutsch: Kraniche. Ein deutscher Dichter zu Besuch) vor, das seine beiden deutschen Bücher „Lied vom Frieden“ und „Kraniche – Schurawli“ vereint. Beim Treffen im russischen Veteranenverband sang er das legendäre Kinderlied von der „Kleinen weißen Friedenstaube“ und wurde von den Verbandsvertretern auch für seine Arbeit für die Völkerverständigung ausgezeichnet.
Eisbrenner hatte 2023 für Aufsehen gesorgt, als er beim Liederwettbewerb „Daroga na Jaltu“ (Wege nach Jalta) im Moskauer Kreml-Palast den 2. Platz belegte. Er hatte unter anderem im Finale gemeinsam mit der russischen Sängerin Zara das sowjetische Lied „Журавли“ (Schurawli – Deutsch: Kraniche) gesungen.[8] Es erinnert an die gefallenen Soldaten, die als Kraniche am Himmel fliegen – ein Bild, das in Russland längst ein Symbol des Gedenkens und auch der Trauer ist. Der Songpoet erlebte im Mai 2023, wie das Publikum im Kremlpalast, etwa 6.000 Menschen, sich von den Stühlen erhob, als er begann, die zweite Strophe des Liedes auf Deutsch zu singen.
Er sei selbst von dem Moment tief ergriffen gewesen, erklärte er und berichtete auf der Pressekonferenz bei der TASS:
„Als ich an den Bühnenrand ging, um meine deutsche Strophe zu singen, haben sich die 6000 Gäste in dem Saal erhoben. Da wusste ich, dass meine Absicht, die Hand zu reichen als Deutscher, damit man in Russland auch andere Stimmen hört als nur die der deutschen Politiker, verstanden wurde. Dass diese Hand erkannt worden ist und dass sie mir zurückgegeben wurde vom Publikum. Das war ein sehr ergreifender Augenblick.“
Der Songpoet singt und spielt seit etwa 2010 gegen die zunehmende Russophobie an, indem er auch Lieder sowjetischer Künstler wie Wladimir Wyssozki oder Bulat Okudschawa übersetzt und spielt. Mit dem Musiker Tobis Morgenstern hat er ein Puschkin-Programm aufgelegt, in dem er die Gedichte des großen russischen Dichters Alexander Puschkin vorträgt und in Nachdichtungen als Lieder interpretiert.[9] Dafür und für sein Engagement, die kulturellen Brücken zwischen Deutschland und Russland zu erhalten, verlieh ihm im Oktober 2024 der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, die Puschkin-Medaille.
Ablehnung und Zustimmung
Seinen Einsatz für Frieden und Verständigung mit Russland, auch mit seinem Projekt „Musik statt Krieg“, finden nicht alle in Deutschland gut. Nach seinem Auftritt 2023 im Kreml-Palast kündigten ihm Veranstalter vereinbarte Konzerte und auch die bis dahin langjährige Zusammenarbeit. Selbst aus der Linkspartei wurde er deshalb angefeindet und aus Veranstaltungen, bei denen er auftreten sollte, wieder ausgeladen.[10] Das erlebt er bis heute und habe seine Arbeit „natürlich total verändert“, berichtete Eisbrenner auf der Pressekonferenz.
„Dann gibt es aber auch die anderen Veranstalter, die mich jetzt besonders brauchen, weil sie sich selber engagieren wollen, und sie tun es durch die Stimme des Künstlers. Ihr Statement ist es, diesen Künstler auf ihre Bühne zu holen. Und das Gleiche trifft auch für das Publikum zu. Ein Publikum, für das schon das Erscheinen bei einem Konzert von Eisbrenner ein Statement ist, ist natürlich auch sehr wertvoll für meinen eigenen Mut und für die Kraft, die man braucht, um im Wind stehen zu bleiben.“
Den Zuspruch bekam der Songpoet auch in Moskau von seinen russischen Gesprächspartnern ebenso wie von den anderen Deutschen in der Gruppe. Mit seinem Buch will er den russischen Lesern auch von der „deutschen Seele“ erzählen, nachdem er zuvor mit seinen Berichten aus Russland seinen deutschen Lesern die russische Seele vermittelt hatte. Er wolle auch berichten über „die Deutschen, die eben nicht russophob sind und die die Freundschaft zwischen den Völkern gern erhalten wollen“. Auf der Pressekonferenz sang der Songpoet das Lied von den Kranichen gemeinsam mit dem französischen Sänger Emmanuel Forest, der in diesem Jahr an dem Lieder-Wettbewerb im Kreml-Palast teilgenommen hatte.
Wie die anderen Deutschen aus der Gruppe erlebte Eisbrenner, dass sie von den Menschen in Moskau und anderswo mit offenen Armen empfangen wurden. Von ihren russischen Gesprächspartnern sei immer wieder beteuert worden, „dass sie das deutsche Volk von der deutschen Politik zu unterscheiden wüssten und uns herzlich aufnahmen“. In Russland werde „mit Sorge nach Deutschland“ geschaut, sagte er im Gespräch mit Éva Péli und mir.
Das Trauma des Krieges vor mehr als 80 Jahren stünde vielen gerade in den Tagen um den 9. Mai wieder vor Augen. Jede russische Familie trage dieses Trauma, von Deutschen verursacht, mit sich, so der Songpoet. Und sie würden sich angesichts deutscher Kriegslüsternheit fragen, ob nun alles noch einmal losgeht. „Sie haben den Deutschen verziehen und sind fassungslos, dass Deutschland seinerseits keinerlei Demut und Dankbarkeit zeigen zu wollen scheint.“
Stolz und Gedenken
Der 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus war mehr als der reine Stolz über den mit großen Opfern errungenen Sieg über die deutschen faschistischen Vernichtungskrieger. Das zeigten die zahlreichen Veranstaltungen am 9. Mai und den anderen vorher und nachher. Das reichte auch weit über die international viel beachtete Siegesparade auf dem Roten Platz hinaus. Zu der waren 29 ausländische Staats- und Regierungschefs nach Moskau gekommen und hatten neben Russlands Präsident Wladimir Putin Platz genommen. An der Parade nahmen Militärs aus anderen Ländern teil, darunter aus China.
Das Ereignis, das viele Menschen aus Moskau und auch viele der angereisten Journalisten nicht selbst live verfolgen konnten, war vor allem ein Symbol. Die Parade, auf der auch nuklear bestückbare Raketen gezeigt wurden, war aber auch mehr als die von einem Kritiker beklagte „Kraftmeierei“. Sie war zugleich nur ein Teil der zahlreichen und vielfältigen Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges. Die meisten von ihnen waren vor allem dem Gedenken an die unfassbar vielen Opfer des faschistischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion gewidmet. Die Zahl von 27 Millionen Toten, davon die Mehrzahl Zivilisten, gilt inzwischen als offiziell bestätigt.
Und wie auf der Parade wurden bei den Veranstaltungen jeweils Gedenkminuten für die Gefallenen, die Ermordeten, die Verletzten, aber auch die Überlebenden eingelegt. Wir erlebten das im Park Pobedy (Park des Sieges), wo auf einer Bühne mit einem Programm aus Liedern und Texten gefeiert und gedacht wurde. Nach der Gedenkminute ertönte aus den Lautsprechern das Fragment „Помните!“ (Pomnitje – Deutsch: Erinnert Euch! aus dem Poem „Requiem“ des sowjetischen Schriftstellers Robert Roschdestwenski von 1962.[11] In dem heißt es unter anderem:
„Erinnert euch!
Durch Jahrhunderte, durch Jahre –
erinnert euch!
An diejenigen,
die nie wiederkommen werden –
erinnert euch!
…
Begrüßt den zitternden Frühling,
Menschen der Erde.
Tötet den Krieg,
verflucht
den Krieg,
Menschen der Erde!
Tragt den Traum durch die Jahre
und erfüllt ihn
mit Leben!
Aber an diejenigen,
die nie wiederkommen werden,
ich beschwöre euch,
erinnert euch!»
Dazu wurden Bilder von im Krieg Gefallenen auf die Leinwand projiziert. Die Passage aus dem Poem von Roschdestwenski hörten wir noch einmal an jenem Tag. Der 9. Mai in Moskau war ein sonniger, aber kalter Tag gewesen und so ließen wir uns am Abend das beeindruckende Feuerwerk live entgehen. Wir sahen es uns im Hotelzimmer in der TV-Übertragung an.
Der russische Sender Perwy Kanal zeigte danach den Mitschnitt eines Konzertes auf einer Bühne am Kreml aus Anlass des Feiertages.[12] Sänger, Schauspieler und Musiker erinnerten mit Liedern, Gedichten und Werken sowjetischer Komponisten an den Sieg und die Opfer des Krieges. Auch dabei erklang die Aufforderung, jene nicht zu vergessen, die nicht wiederkommen, vorgetragen vom russischen Schauspieler Sergej Schakurow.
Unterschiede und Enttäuschung
Diese Art zu gedenken, sich mit Stolz an den Sieg genauso wie mit Trauer an die dafür erbrachten unzähligen Opfer zu erinnern und zugleich das Leben zu bejahen, das hat mich bewegt, und das bewegt mich bis heute. Wer das Leid nicht versteht, das der faschistische Überfall am 22. Juni 1941 über die Sowjetunion und ihre Völker gebracht hat, versteht auch nicht das, was für manchen als russischer Militarismus erscheint und solcher nicht ist. Der versteht auch nicht den Unterschied zwischen dem anerkannten Platz, den die Armee in der russischen Gesellschaft weitgehend (wieder) hat, und dem Militarismus und Kriegerkult in Deutschland und anderen westlichen Staaten.
Wenn deutsche Politiker das eigene Land wieder „kriegstüchtig“ machen wollen, dann basiert das auf einer unheilvollen Geschichte, die mehrmals Leid über ganz Europa brachte. Die dahinterstehenden Interessen sind die gleichen geblieben. In Russland geht es angesichts der Geschichte und vor allem der des „Großen Vaterländischen Krieges“, der am 9. Mai 1945 endete, um die Verteidigung der Heimat. Und es geht um die Verantwortung, von der am 8. Mai beim Treffen mit der deutschen Gruppe der russische Generalmajor a.D. Juri Djakow gesprochen hatte, nämlich alles dafür zu tun, dass sich so etwas nie wiederholt.[13]
Wir erlebten auch die zunehmende Fassungslosigkeit in Russland angesichts dessen, was aus Deutschland und der Europäischen Union (EU) zu hören und zu erleben ist. Der Historiker Alexander Kamkin begleitete als hervorragender Übersetzer die „Delegation echter deutscher Patrioten und Antifaschisten“ ebenso wie die Tass-Pressekonferenz von Tino Eisbrenner. Davon berichtete Kamkin auf seinem Telegram-Kanal und kommentierte zugleich die westliche Politik.[14] Das „europäische Irrenhaus“ sei im Zustand der „Schizophrenie“, betäube sich mit halluzinogenen Drogen und verfalle „in völlige politische Sklerose“. Die Prognose des Historikers: „Am Ende werden die Panzer T-90 und T-72BMZ auf Podesten in europäischen Städten stehen.“
Die genannten Panzertypen sind derzeit in der Ukraine im Einsatz.
Ein anderes Beispiel für das wachsende Unverständnis in Russland gegenüber Deutschland erlebten wir am Nachmittag des 9. Mai im Park des Sieges. Dort kamen wir auch mit Sergej ins Gespräch. Er saß mit seiner in Kasachstan lebenden Schwester, die extra zu Besuch gekommen war, auf einer Bank. Neben der russischen und der sowjetischen Siegesfahne hatten sie ein Schild mit einem Foto ihres Großvaters bei sich. Der war vor mehr als 80 Jahren in dem Krieg als Partisan gefallen, nachdem er als Soldat den Ersten Weltkrieg überlebt hatte. Sie wissen nicht, wo er begraben ist, erzählten sie uns im Gespräch.
Sergej berichtete uns, dass er seine Frau, die mit der gemeinsamen Tochter in Deutschland lebt, nicht besuchen könne. Sie sei 2014 aus dem Donbass geflohen und zuerst nach Russland gekommen, bevor sie nach Deutschland ging. Seit nun fünf Jahren hätten sie sich nicht mehr gesehen, sagte er mit Bitterkeit. Er wisse, dass in Ostdeutschland mehr Menschen prorussisch eingestellt seien. Doch angesichts der russlandfeindlichen deutschen Politik sagte er, er habe das deutsche Volk nie als Feind angesehen, aber es habe sich selbst zum Feind gemacht. Und fügte hinzu:
„Wir wollten nur in guter Absicht nach Deutschland kommen. Aber wenn es sein muss, kommen wir auch in feindlicher Absicht!“
Dann stand er auf und ging mit seiner Schwester weiter zur Bühne im Park des Sieges.
Tilo Gräser ist diplomierter Journalist und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes. Er war aus Anlass des 80. Jahrestages des Sieges über den Faschismus für zwei Wochen in Moskau
Quellen
[1] https://transition-news.org/der-russland-feindschaft-die-kalte-schulter-gezeigt-ein-reisebericht-teil-3
[2] https://druschba-global.org/2024-2/
[3] https://zeitungderarbeit.at/feuilleton/geschichte/wuerdige-ehrung-fuer-den-helden-der-sowjetunion-generalleutnant-dimitrij-karbyschew/
[4] https://vtnvagt.de/index.php
[6] https://www.nachdenkseiten.de/?p=133700
[7] https://www.eisbrenner.de/
[8] https://www.youtube.com/watch?v=IMMFepnuAUU
[9] https://www.tobiasmorgenstern.de/
[10] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175693.ukraine-krieg-kein-friedensfest-mit-tino-eisbrenner.html
[11] https://www.culture.ru/poems/42566/rekviem-vechnaya-slava-geroyam
[12] https://smotrim.ru/video/2970400
[13] https://transition-news.org/ausgestreckte-hande-bericht-aus-moskau-teil-1
[14] https://t.me/itak_govoril_Kamkin/829
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Bild oben: Im Park Pobedy werden Bilder von Gefallenen auf eine Leinwand projiziert