Serbien: Folgt auf den Wahlsieg von Aleksandar Vučić jetzt ein Maidan in Belgrad?
Am vergangenen Sonntag fanden in Serbien vorgezogene Parlaments- und Kommunalwahlen in verschiedenen Städten, darunter in der Hauptstadt Belgrad, statt. Bei den Parlamentswahlen hat die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Staatspräsident Aleksandar Vučić ihre führende Position mit 46,7 Prozent der Stimmen (2022: 43 Prozent) weiter ausgebaut. Sie verfügt jetzt über eine absolute Mehrheit im Parlament. Ihre Gewinne gingen im wesentlichen auf Kosten der Sozialistischen Partei (SPS) von Außenminister Ivica Dacic, mit der sie seit 2012 ununterbrochen gemeinsam eine Koalitionsregierung gebildet hatte. Die Sozialisten erhielten nur noch 6,6 Prozent (2012: 11,44 Prozent).
Von Bernd Duschner
Erstveröffentlichung am 24.12.2023 auf den NachDenkSeiten
Das oppositionelle, prowestliche Bündnis „Serbien gegen Gewalt“, zu dem sich mehrere Parteien, Protestbewegungen und Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen hatten, erreichte nur für sie enttäuschende 23,7 Prozent. Die geltende 3-Prozent-Hürde haben zudem das konservative Bündnis „NADA“ mit 5 Prozent und die neue Gruppierung „Wir – die Stimme aus dem Volk“ um den in Serbien populären früheren Universitätsprofessor und Mediziner Branimir Nestorovic mit 4,7 Prozent überschritten. Da die 3-Prozent-Sperrklausel nicht für Vertretungen der nationalen Minderheiten gilt, werden auch die in Serbien lebenden Ungarn, Bosnier, Kroaten, Albaner und Russen jeweils mit eigenen Abgeordneten im neuen serbischen Parlament vertreten sein.[1]
Serben bestehen auf eigenständiger Außenpolitik
Im März hatten ein 13-jähriger Schüler an einer Schule in Belgrad und kurz danach ein 21-Jähriger in Mladenovac ein Blutbad angerichtet. Ihre Amokläufe hatten die serbische Öffentlichkeit schockiert. Die prowestliche Opposition nahm sie zum Anlass, um im Frühjahr und Sommer zahlreiche Demonstrationen unter dem Motto „Serbien gegen Gewalt“ gegen die Regierung zu organisieren. Dabei forderten sie den Rücktritt von Staatspräsident Vučić und des Leiters der serbischen Nachrichtendienste, Aleksander Vulin, sowie eine Übergangsregierung unter ihrer Beteiligung, die spätere Neuwahlen ausschreiben sollte. Zu ihren Protesten wurden sie von der grünen EU-Parlamentarierin und Berichterstatterin für den West-Balkan, Viola von Kramon, per Twitter ermuntert: „Meine Unterstützung gehört all denjenigen auf den Straßen von Belgrad, die erneut einen Regierungswechsel, Pressefreiheit und gleiche Behandlung für alle fordern.“[2] Mit den vorgezogenen Wahlen wollte Vučić deutlich machen, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter seiner Politik steht und einen Regimechange ablehnt.
Die Wahlen fanden in einer Zeit statt, in der der Druck auf Serbien ständig zunimmt, seine Außenpolitik nach den Vorgaben der EU neu auszurichten. Von Serbien wird verlangt, dass es gegen die Russische Föderation Sanktionen verhängt, endgültig auf seine südliche Provinz Kosovo verzichtet und sie als eigenständigen Staat anerkennt und die Unterstützung der Republik Srpska einstellt. Die bosnische Teilrepublik lehnt ebenfalls Sanktionen gegen Russland und eine Mitgliedschaft in der NATO strikt ab. Sie ist auch nicht bereit, den früheren deutschen Landwirtschaftsminister Christian Schmidt als „Hohen Repräsentanten“ zu akzeptieren. Schmidt ist seit 1.8.2021 als faktisch vom Westen eingesetzter „Hoher Repräsentant“ in Bosnien-Herzegowina tätig und dazu wie ein Kolonialverwalter in alten Zeiten mit nahezu unbeschränkten Vollmachten ausgestattet. Von der Republik Srpska wird er nicht anerkannt, da er sein Amt ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates und der Republik Srpska als Unterzeichner des Abkommens von Dayton angetreten hat. Jetzt hat in Sarajevo ein Strafprozess gegen ihren gewählten Präsidenten Milorad Dodik begonnen, der sich weigert, Anordnungen von Schmidt zu befolgen.[3] Der Widerstand der Republik Srpska soll gebrochen und ihre Autonomie innerhalb von Bosnien-Herzegowina beseitigt werden.
Seit Jahren zeigen Umfragen in Serbien, dass 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung die Forderungen von Seiten der USA und der EU strikt ablehnen. Genau dies spiegelt sich auch im Wahlergebnis wieder. Die kleineren Parteien und Zusammenschlüsse wie „NADA“, „Wir – Die Stimme aus dem Volk“ oder die „Nationale Sammlung“ und die Serbische Radikale Partei von Vojislav Seselj, von denen die beiden Letzteren das Quorum nicht erreicht haben, erhielten zusammen mehr als 15 Prozent der Stimmen. Sie kritisieren Präsident Vučić vor allem deshalb, weil er nach ihrer Ansicht den westlichen Forderungen viel zu wenig konsequent entgegentritt. Mit den Stimmen der beiden bisherigen Regierungsparteien sind das zusammen über 70 Prozent.
Das Erfolgsrezept des Aleksandar Vučić
Seit 11 Jahren ist Aleksandar Vučić der bestimmende Politiker in Serbien. In nahezu allen Kommunen stellt seine Serbische Fortschrittspartei die Stadtregierung. Die SNS zählt rund 400.000 Mitglieder. Für ein Land mit 6,8 Millionen Einwohnern ist das eine enorm hohe Zahl. Sie spricht für die Popularität des Präsidenten in breiten Teilen der Bevölkerung, zeigt aber auch, dass bei vielen Serben die Überzeugung herrscht, eine Mitgliedschaft sei nützlich für den Erhalt öffentlicher Aufträge, bei Arbeitssuche und Karriere. Vučić versteht es, sich als Vertreter der nationalen Interessen auf der internationalen Ebene darzustellen, der mit den Staatsoberhäuptern in Moskau, Peking, Paris oder Berlin auf gleicher Ebene verhandeln kann. Er will als der Macher gesehen werden, der das Land modernisiert und voranbringt. Eine Eröffnung eines neuen Autobahnabschnittes, einer neuen Fabrik oder einer größeren Wohnsiedlung ohne Aleksandar Vučić ist in Serbien kaum vorstellbar. Dementsprechend ging seine Partei mit dem Slogan „Aleksandar Vučić – Serbien darf nicht stehen bleiben!“ in den Wahlkampf. Er versteht es, sich als der Kümmerer um die Probleme der Bürger darzustellen. Stoßen Maßnahmen seiner Regierung auf allzu großen Widerstand in der Bevölkerung, ist es stets er, der ein Entgegenkommen oder gar die Rücknahme dieser Maßnahmen verkündet. In Serbien leidet die Bevölkerung jetzt unter hohen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und den Energiekosten. Auch hier war es wieder Aleksandar Vučić, der vor den Wahlen die Anhebung von Renten und Gehältern im öffentlichen Sektor, einmalige Zahlungen an Rentner und Jugendliche unter 16 Jahren, eine kräftige Anhebung des Mindestlohnes ab 1.1.2024 und eine Senkung der Zinsen auf Wohnbaudarlehen verkündete und durchsetzte.[4]
„Wir – die Stimme des Volkes“
Zu den Siegern dieser Wahlen gehört die erst vor wenigen Monaten gebildete Bewegung „Wir – die Stimme des Volkes“ um den Mediziner und Universitätsprofessor Branimir Nestorovic. In der Zeit der Pandemie zunächst Mitglied des Beraterstabes der Regierung, hatte er von Beginn an vor Panikmache gewarnt, dieses Gremium sehr schnell verlassen und statt Impfstoffen die Stärkung der natürlichen Abwehrkräfte empfohlen. Auf seiner Liste haben in Serbien sehr bekannte Persönlichkeiten wie der frühere Generalmajor Mitar Kovac, der Politologe Aleksandar Pavic und der geopolitische Experte Branko Pavlovic kandidiert. Die Bewegung tritt für eine strikte Neutralität ihres Landes und für eine Vertiefung der Beziehungen mit Russland und China ein. Scharf kritisieren ihre Vertreter die neoliberale Wirtschaftspolitik von Aleksandar Vučić. Sie werfen ihm vor, kein eigenes Konzept für die Entwicklung und Gestaltung der serbischen Wirtschaft zu haben und sich vorrangig darauf zu konzentrieren, ausländische Investoren mit dem Angebot von billigen Löhnen und niedrigen Energiekosten, Steuerersparnissen und hohen Subventionen zu gewinnen[5].
Die prowestliche Opposition auf dem Weg zu einem Maidan in Belgrad
Die Machtfülle, die Omnipräsenz von Aleksandar Vučić in den Medien und seine häufig als stark überzogen empfundenen Herausstellungen der wirtschaftlichen Erfolge Serbiens unter seiner Führung haben dazu geführt, dass ihn gerade in den Großstädten große Teile der Bevölkerung, insbesondere Intelligenz und der Studentenschaft, ablehnen. Sie vergleichen ihre Situation mit der Situation in Mitteleuropa und glauben unter dem Einfluss der westlichen Medien und der zahlreichen in Serbien tätigen Nichtregierungsorganisationen, ein Beitritt zur EU würde ihrem Land und ihnen persönlich wirtschaftliche Verhältnisse wie in Mitteleuropa bringen. Heute bilden sie die Manövriermasse für unverantwortliche Politiker an der Spitze des Wahlbündnisses „Serbien gegen Gewalt“, die trotz ihrer Wahlniederlage glauben, einen Regierungswechsel mit Hilfe der EU erzwingen zu können. Mit der Behauptung, es hätte massiven Wahlbetrug gegeben, organisieren sie derzeit Kundgebungen und Demonstrationen. Serbische Leser fühlen sich an die Farbrevolutionen erinnert, wenn ihre Zeitungen berichten, dass die „Deutsche Welle“ im Vorfeld in der zweiten Novemberhälfte in Belgrad ein Seminar veranstaltet hat, um den 150 Teilnehmern zu zeigen, wie sie eigene Inhalte und Botschaften in den sozialen Medien verbreiten können. Nach Aussage des Seminarleiters sei dies bis heute das effizienteste Instrument gegen das Establisment.[6] Serbiens Ana Barnabic warnt, dass die Opposition einen „Maidan in Belgrad“ geplant hat.[7]
Inzwischen haben die Führer von „Serbien gegen Gewalt“ einen Offenen Brief an die Institutionen der EU geschickt und erklärt, die Wahlergebnisse nicht anzuerkennen, solange nicht eine „umfassende internationale Untersuchung zu den Wahlunregelmäßigkeiten unter der Schirmherrschaft von OSZE, Europarat und Europäischer Kommission erfolgt ist“.[8]
Serbien steht vor schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen, die durchaus gewaltsam eskalieren könnten. Sollte sich die prowestliche Opposition mit Hilfe von EU und Nato durchsetzen und sich auch dieses Land in die „Front“ gegen die Russische Föderation einreihen, sind wir einem großen Krieg noch einen Schritt näher gekommen.
Bernd Duschner ist Sprecher der Hilfsorganisation Freundschaft mit Valjevo e.V. und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Quellen
[«1] Danas, 18.12.23 : RIK objavio najnovije rezultate za parlamentarne i pokrajinske izbore [«2] Politika, 8.7.23: Viola fon Kramon poziva na proteste i smenu vlasti u Srbiji [«3] Politika, 21.12.23 , : Odlozeno rociste Dodiku [«4] Kvartalni Monitor 73, Uvodnik Miljioko Arsic [«5] Branko Pavlovic, Kako dalje brankopavlovic.org [«6] Politika, 20.12.23: Da li je Nemacka umesana u postizborni inzenjering u Srbiji [«7] B92, 19.12.23 :Brnabic: Opozicija je planirala haos; Na dan izbora granicu proslo 20 hiljada ljudi, meau njima stranci i deca [«8] N1, 21.12.23: „Srbija protiv nasilja“ pisala EU: Ne priznajte izbore u Srbiji, pokrenite meaunarodnu istragu
Bild oben: Zerbrochene Fenster und Türen des Gebäudes der Stadtverordnetenversammlung von Belgrad nach Protesten am 24.12.2023
Foto: СРБИН.инфо, CC BY 3.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=142893003