Weltanschauung & Philosophie

Umstrittene Begriffe im Kampf für demokratische und soziale Rechte

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 3-21, September 2021, S. 3-11, 80. Jahrgang

von Klaus Linder

Historischer Liberalismus ist keine tragfähige Grundlage der Klassenkämpfe für Demokratie, Volkssouveränität und nationale Selbstbestimmung. Die zu führende Auseinandersetzung kennt keinen dritten Weg zwischen Konterrevolution und Revolution, das heißt heute: zwischen Imperialismus/Faschismus und Sozialismus; auch dann nicht, wenn eine revolutionäre Situation noch nicht gegeben ist. Das bedeutet nicht, dass die Akteure heutiger Proteste nicht häufig, gemäß ihrer Klassenlage, ursprünglich von „liberalem Gedankengut“ bewegt wären, zumindest nach ihrer Selbstauskunft. Es bedeutet nicht, dass sie unter dieser Voraussetzung – zum Beispiel solche Spezialisten wie bürgerliche Juristen, Verfassungs- oder Völkerrechtler – nicht Erhellendes beitragen, um Widerstand gegen den bereits heraufgezogenen autoritären, faschistoiden Maßnahmenstaat zu stärken. Es bedeutet auch nicht, dass die politische Agitation und Propaganda möglicher Bündnisarbeit darin bestünde, aus „Liberalen“ vermeintliche Interessenvertreter der Arbeiterbewegung zu machen.

Es geht zunächst darum, die „Bäche und Flüsse“ der oppositionellen Freiheitswünsche zur Kenntnis zu nehmen.[1] Sogenannte Querdenker sind darunter nur eine – allerdings zum Schreckgespenst aufgebaute – Erscheinung unter zahlreichen oppositionellen Bestrebungen in der Bevölkerung.

Für uns folgt aus der Feststellung „Mit Liberalismus ist der Kampf um demokratische Rechte nicht zu gewinnen“, dass wir Begriffe zu vergegenwärtigen haben, die in einer ideologisch befeuerten Zuschärfung der Klassengegensätze erneut umstritten werden. Wir müssen prüfen, ob sie für die kommenden Auseinandersetzungen einen Gehalt haben, ob sie noch brauchbar sind. Das Ergebnis solcher Überprüfung ist keine bloße Begriffs- oder Sprachkritik. Das gilt auch für rechtstheoretische Begriffe, die ins Spiel kommen, sobald, wie es heute in der BRD der Fall ist, die Monopolherrschaft in die vorbereitenden Etappen der faschistischen Herrschaftsform einmündete und die Grundlagen des „demokratischen Staates“ auch nach bürgerlichen Auffassungen erkennbar beseitigt werden. Es herrscht Einigkeit, dass der Kampf dagegen (mitsamt der dazugehörigen Kriegspolitik) jetzt vorrangig ist.

Aber schon über die Grundbegriffe des politischen Wörterbuchs herrscht diese Einigkeit nicht. Auch die Organisation von Widerstand entbindet uns nicht von der Aufgabe Begriffe zu klären, ohne deren Verständnis nicht einmal ein Bündnisaufruf verabredet werden könnte.

Um mit dem „Liberalismus“ zu beginnen: als Weltanschauung und politische Doktrin ist er nicht in bloß rechtlichen Termini zu fassen. Er meinte aufklärerisches Naturrecht, mit Gesellschaftsvertrag und Gewaltenteilung; freie Entfaltung des Individuums; Entwicklung und Schutz des kapitalistischen Privateigentums, des Freihandels, der Gewerbefreiheit; Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht, Presse-, Versammlungs-, Glaubensfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz. Ökonomische Grundlage war die freie kapitalistische Konkurrenz, nicht das Monopol, wie es in der BRD und den imperialistischen Hauptländern von heute der Fall ist.

Es blieb nicht aus, dass auch über einen rechtsphilosophischen Zentralbegriff der bürgerlichen Frühgeschichte, den des „Naturrechts“, wieder Polemiken ausgetauscht werden. Anlässlich Protesten gegen „Coronamaßnahmen“ wird vorgebracht: Wer gegen den Ausnahmezustand für Grundrechte kämpft, bezieht damit eine reaktionäre Position des Naturrechts. Reaktionär, weil damit eine über- und vorstaatliche Rechtsordnung „höherer Vernunft“ behauptet werde, die die „Freiheit des Individuums“ in absoluten Gegensatz zum Staat, ja zum „Gemeinwohl“ stelle. Sofern solche Anklagen aus dem Mund von ausgemachten Rechtspositivisten erhoben werden, stehen sie allerdings ihrerseits auf dem Boden einer irrationalen Ideologie.  Beides soll hier nicht vertieft werden, da es sich um einen innerbürgerlichen Schulstreit zweier Rechtsschulen handelt, die im XX. und im XXI. Jahrhundert beiderseits ihre Verwendbarkeit für Imperialismus und Faschismus erwiesen, was sie sich bei Gelegenheit gerne gegenseitig vorwerfen.

Stattdessen soll zunächst ein Blick auf die Geschichte des Naturrechts geworfen werden, um zu sehen, dass die Fragen nicht so vereinfacht zu stellen sind, wie es bürgerliche Frontbildungen glauben machen.

Naturrecht

„Naturrecht“ erscheint als Inbegriff ahistorischer Rechtsauffassung – ob es in seinen historischen Ausprägungen von einer vorgegebenen göttlichen oder natürlichen Seinsordnung oder von natürlichen Eigenschaften des Menschen ausgeht, um daraus „über“ dem jeweiligen positiven Recht stehende letztgültige Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben abzuleiten.

Als Ergebnis langwieriger Klassenkämpfe unterliegt das („westliche“) Naturrecht jedoch einer historischen Dialektik, die gerade es zum Träger ausgesprochener Geschichtlichkeit bestimmte. Versuchen wir eine „Richtigstellung der Begriffe“ anhand seiner geschichtlichen Wandlungen im Kampf zwischen Feudalismus und Bürgertum.

Das scholastische Naturrecht des Thomas von Aquin bedurfte, um die feudal-klerikale Ordnung zu rechtfertigen, eines ahistorisch-normativen „Grundes“ der Rechtsordnung. Der Staat – als Folge des Sündenfalls – war Diener der Kirche und Hort der Ordnung. Aber im Mittelalter wurden selbstverständlich auch innerhalb des Naturrechts Klassenkämpfe ausgetragen: die christlichen Sektenbewegungen beriefen sich auf das absolute Naturrecht des Urzustandes und der Bergpredigt. Natur, Gott, die Bibel verbürgten Forderungen nach sozialer Gleichheit, kompromisslosen „Liebeskommunismus“ wider die sündige Welt mitsamt ihrer Ordnung.

Im calvinistischen Naturrecht, als Ideologie des aufstrebenden Bürgertums, war der Keim zur Formulierung der individuellen Menschenrechte und ihrer Verteidigung gegen Gewalt angelegt, die damit in das christliche Naturrecht eindrangen. Das Naturrecht der Volkssouveränität mit der vom Volk ausgehenden Gewalt nimmt hier einen Ausgang. Das Naturrecht auf Widerstand gegen die Gewalt wurde, als ständische Kontrolle der obersten Gewalt, untergeordneten Behörden zuerkannt, noch nicht dem Individuum. Das calvinistische Naturrecht spielte eine bedeutende Rolle u.a. in den Befreiungskämpfen der Niederlande. Es wurde weitergetrieben bis zum Recht auf Revolution.

Mit Hobbes, Locke wird im 17. Jahrhundert im Zuge der englischen Revolution das moderne weltliche Naturrecht ausgearbeitet. Das christliche Naturrecht wurde in dialektischer, bestimmter Negation verworfen. Karl Polak, einer der Autoren der ersten Verfassung der DDR: „Dieser Übergang vom Zustand der natürlichen (spontanen) Natur in den Zustand der menschlichen (vernünftigen) Natur, das ist bei Hobbes der Übergang von dem Natur- in den Gesellschaftszustand“.[2]

Der Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) wird als durch die Vernunft aufhebbar verstanden. Die Rolle des Staates als Garant der vernünftigen Gesellschaftsordnung wird nun, ausgehend vom Naturrecht, in die Entwicklungsperspektive menschheitlichen Fortschritts gestellt. Ausgehend von einer ahistorischen, allenfalls als Geschichte des Abfalls vom paradiesischen Zustand gefassten naturrechtlichen Idee, wird das Naturrecht zu einer Triebkraft des ideengeschichtlichen Fortschritts, im Sinne der Höherentwicklung der menschlichen Verhältnisse; mit revolutionären Konsequenzen. Die Linie war: der Kampf gegen jede Theorie vom Gottesstaat und damit die feudalabsolutistische Ordnung (hierzu war die durch den Begründer des modernen Naturrechts, Hugo Grotius, vollzogene Trennung von Recht und Moral ein notwendiger Schritt zur Befreiung). Mit dem vernünftigen Bürger im Mittelpunkt des Staates wurde letzterer humanistisch gefasst.

Mit der Naturrechtstheorie der französischen Aufklärung und der großen bürgerlichen Revolution befinden wir uns in der Vorbereitung einer historisch-dialektischen Gesellschafts- und Staatstheorie, ausgehend vom ursprünglich „überzeitlichen“ Naturrecht. Es bedurfte allerdings noch der sich anbahnenden materialistischen Erkenntnis, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte von Klassenkämpfen ist.

Mit Jean-Jacques Rousseau wird die Losung „Zurück zur Natur“ (Retour à la Nature) verbunden. Sein ursprünglicher Natur- und Gesellschaftszustand, das „Goldene Zeitalter“, war wie bei der traditionellen Naturrechtstheorie („vor dem Sündenfall“) ein Idealzustand allgemeiner Freiheit und Gleichheit. Aber diesen verwies er in die Vorgeschichte der Menschheit, zeigte, wie er mit deren Weiterentwicklung ein Ende finden musste, und richtete sein Augenmerk auf deren historischen Prozess.

Grundrechte, Menschenrechte, Bürgerrechte

Die Hegelsche Geschichtsdialektik, erst recht dann die „auf die Füße gestellte“ von Marx, Engels und den großen Revolutionären des XX. Jahrhunderts, kann nicht mehr im Rahmen des Naturrechts abgehandelt werden. Wir stehen hiermit nicht mehr im Rahmen der Begrifflichkeiten, die uns durch eine vormarxistische Auffassung gegeben sind. Verweilen wir jedoch bei der immensen Bedeutung, die die aus dem Naturrecht entwickelten Grund- und Menschenrechte im Zuge der bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich erhielten.

Die neue Staatsform des revolutionären Bürgertums nach der französischen Revolution musste unzählige positive („menschengesetzte“) Rechtsakte ausführen.[3] Zugleich liegt hier der Höhepunkt des Naturrechts, als einem der naturgegebenen Vernunft, in den Grund- oder Menschenrechts-Katalogen und ihren Vorläufern aus den Revolutionen des XVII. und XVIII.  Jahrhunderts. Das gehört zur Geschichte des Liberalismus und weist über ihn hinaus.

In Negation der feudal-klerikalen Scholastik, die die „natürlichen Formen“ der Ungleichheit rechtfertigte, bildete sich seit Humanismus und Renaissance bis zur bürgerlichen Aufklärung eine geschlossene Theorie natürlicher Rechte des Einzelnen auf Gleichheit, Glück, und Sicherheit. Dass die Auffassung einer natürlichen Gleichheit aller Menschen zum Kern des neuen Naturrechts wurde, hatte zweifachen materiellen Ursprung: die Notlage der ausgebeuteten, unterdrückten Volksmassen und die Hemmnis der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise durch feudalaristokratische Bevormundung und Privilegien.

Das spiegeln die Grundrechteforderungen der Befreiungskämpfe des XVIII. Jahrhunderts wider:

Als erster Staat nahm 1776 Virginia eine Bill of Rights an. Ihr Artikel 1, in der Sprachform prägend bis in die Gegenwart, lautet:

„Alle Menschen sind von Natur aus frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, die nach Eintritt in den Gesellschaftszustand weder ihnen noch ihren Nachkommen durch Vertrag oder gewaltsam entzogen werden können, nämlich das Recht auf Genuss des Lebens und der Freiheit, auf Erwerb und Besitz des Eigentums, auf Glück und Sicherheit“.

In ähnlicher Reihenfolge in der „Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika“ vom 4. Juli 1776:

„Wir halten diese Wahrheit für aus sich selbst heraus bewiesen (Hervorhebung K.L.), dass alle Menschen von Geburt aus gleich und von ihrem Schöpfer mit bestimmten Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und Glücksstreben gehören“.

Am 26. August 1789 folgte eines der höchststehenden politisch-rechtlichen Dokumente des europäischen Bürgertums, die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Konstituierenden Versammlung in der französischen Revolution (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen). Als vier unveräußerliche Menschenrechte gelten: „Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung“. Sie wurden konkretisiert durch die in den 17 Artikeln enthaltenen Rechte, darunter die auf Gesetzlichkeit und Meinungsfreiheit.

Die Revolutionsverfassungen wurden jeweils von einer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte eingeleitet. Seitdem gehören Grundrechtekataloge zum Inventar der Verfassungen fast aller bürgerlichen Staaten. In einer der weitgehendsten, der jakobinischen Verfassung von 1793 (Constitution de la République Française), waren die Grundrechtsartikel auf 35 erweitert. Zu Menschen- und Bürgerrechten wurden unter anderen erklärt: Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Recht auf Arbeit oder Unterhalt, Recht auf Unterricht, Recht auf Teilnahme an der Gesetzgebung, Recht auf Revolution.

An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass Robespierre bei Gelegenheit vom „Recht auf Leben“ als dem ersten unter den unveräußerlichen Menschenrechten sprach.[4] Der humanistische Beweggrund ist einleuchtend– zugleich die Unmöglichkeit, dieses als „allerhöchstes“ Grundrecht einem den Staat bindenden Grundrechtekatalog voranzustellen. Für eine antagonistische Gesellschaft ist solch oberster naturrechtlicher Grundsatz unmöglich, allenfalls leere Allgemeinheit, in der die moralischen Prioritäten widerstreitender Gruppen aufeinanderprallen. Warum aber heute, angesichts der bestehenden imperialistischen Weltfront, auch eine sozialistische oder fortschrittliche Übergangsgesellschaft ihren Grundrechtekatalog nicht unter das „Recht auf Leben“ stellen kann, dafür möge als Hinweis der Wahlspruch der kubanischen Revolutionäre gelten: Patria o Muerte! (Vaterland oder Tod).

Gleichwohl sind diese „undiskutierbaren“, „unveränderlichen“, in der übergesetzlichen Sphäre „aus sich selbst heraus bewiesener Wahrheit“ (Thomas Jefferson) konzipierten Menschenrechte Klassenrechte. Sie werden mit der weiteren Veränderung des Bürgertums von einer aufsteigenden, revolutionären Klasse zur der niedergehenden, historisch reaktionären und perspektivlosen finanzkapitalistischen Rentnerklasse von heute, deren wirtschaftliche Basis, das Monopol, zur Errichtung des politischen Monopols im staatlichen Überbau drängt, unvermeidlich einen „Funktionswandel“ erfahren.

Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793 (gemeinfrei)
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Es gab und gibt keinen Kampf um Bürger-, Menschen- oder Persönlichkeitsrechte, dessen soziale Basis in letzter Instanz das Individuum wäre. Gewiss: die Bezeichnung der Bürgerrechte als Menschenrechte war heroische Illusion der aufsteigenden Bourgeoisie, die ihr Klasseninteresse als ein gemeinsames Interesse aller Menschen ausgab. Die erweiterte kapitalistische Reproduktion verlangte die „Universalisierung“ von Standesrechten zu kosmopolitischen Bürgerrechten. Sie bedurfte der allseitig verfügbaren Waren-, Arbeitskraftbesitzer und Tauschpartner und auf dem äußeren Markt unbeschränkter Verwertungsbedingungen, die denen des inneren entsprechen.

Aber wenn diese scheinbar universalen Rechte Ausdruck des Konkurrenzkapitalismus sind, so sind sie als Fortschritt innerhalb der Ausbeuterordnung damit nicht historisch erledigt. Liegt, im Kampf gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Kolonialismus, die Konzeption der Menschen- und Bürgerrechte sowie der nationalen Selbstbestimmung einmal vor, so bleiben sie Kettenglied für den internationalen und nationalen Klassenkampf.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und Grundgesetz des westdeutschen Spalterstaates

Ein solches Kettenglied bleibt auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Universal Declaration of Human Rights, die am 10. Dezember 1948 von der UNO angenommen wurde. Hier, zusammen mit dem „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ von 1966, setzten die Vereinten Nationen einen Maßstab, der das 1949 ohne jeden Volksentscheid angenommene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als weit unter dem völkerrechtlichen Mindeststandard stehend erweist, was die verfassungsrechtlich als Bürgerrechte zu regelnden Menschenrechte betrifft – im Gegensatz zu den Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik.

Die Vereinten Nationen definierten als für alle Menschen unveräußerliche Rechte unter anderen (wenn auch ohne staatliche Erzwingungsgarantie): das Recht auf soziale Sicherheit und Betreuung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Erholung, das Recht auf Bildung, das Recht auf Kultur. Ebendiese wird man in den Artikeln 2-19 des westdeutschen Grundgesetzes vergeblich suchen.

Gleichwohl ist eine schwache Fernwirkung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ auf das westdeutsche Grundgesetz offenkundig, so etwa, wenn deren Präambel die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und ihrer gleichen unveräußerlichen Rechte als „foundation of freedom, justice and peace in the world“ bezeichnet. Das ging fast wörtlich ein in Art. 1 GG, wo der von den Westmächten besetzte Teil Deutschlands das deutsche Volk sich „zu den unverletzlichen und unveränderlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennen ließ. Das las sich immerhin so, als sei die internationale Lektion aus Faschismus und imperialistischem Krieg gelernt worden. Während aber in GG Art.1, Abs. II sich noch das Volk der Deutschen zu den Menschenrechten bekennt, ist es schon in Art. 1, Abs. III nur noch der Staat, der sich an die Grundrechte bindet.

Wenn in diesem „Grundgesetz“ ein völkerrechtlicher Mindest-Maßstab der Menschenrechte schmählich unterboten ist, so blieb doch eine zweite, von den West-Herrschenden beharrlich verfemte, Fernwirkung auf dieses GG nicht aus: nämlich die Grundrechteauffassung der DDR, genauer gesagt: sowohl die von der SED im Herbst 1946 für Gesamtdeutschland vorgeschlagenen „Grundrechte des deutschen Volkes“ 5) als auch die ebenso im Hinblick auf ein geeintes Deutschland konzipierte DDR-Verfassung von 1949. [5]

Was da vorgeschlagen wurde, hätte im Falle der Annahme durch das gesamte deutsche Volk bedeutet, dass, im Sinne des Potsdamer Abkommens, die heutige, unter dem Corona-Maßnahmen-Regime in der Krise noch verschlimmerte, Politik der materiellen und kulturellen Verelendung und Kriegsvorbereitung schlicht illegal geblieben wäre. Die DDR-Verfassungen von 1949 und 1968 haben diese Bürgerrechte noch ausgebaut, während die BRD von heute nicht einmal den schmalen Rechtsbestand ihres Grundgesetzes aufrechterhielt.

Spätestens seit dem KPD-Verbot 1956 war die Geschichte des „Grundgesetzes“ die seines Verfalls und seiner Demontage. „Grund“- und andere Rechte werden systematisch missachtet und ausgehebelt, seit Verhängung des Ausnahmezustands 2020 zusätzlich durch Ermächtigungs-Verordnungen. Die ständige Missachtung durch die Politik des deutschen Imperialismus betrifft nicht nur die vorgeordneten Artikel 1 bis 20, sondern die immens bedeutenden Artikel 25 und 26 zu Völkerrecht und Frieden, und das nicht nur gelegentlich, sondern als ständige Voraussetzung der expansionistischen deutschen Regierungspolitik.

Die Wirkung der DDR auf das unterbelichtete Grundgesetz zeigen auch dessen wenige „sozialstaatliche“ Momente. Entsprechend hatte ab 1990 die Liquidierung der DDR die rapide Liquidierung der Sozialstaatlichkeit der BRD zur Folge. Das „Sozialstaatsprinzip“ ist in diesem Grundgesetz verankert, aber schwach und seltenst einklagbar; den Artikeln 20, 23, 28, 79 ist es immanent. Es wäre Wunschdenken, dass eine rein theoretisch mögliche Abkehr von der kapitalistischen „Sozialordnung“, etwa aus den Enteignungsartikeln, die auf das „Allgemeinwohl“ als recht leere Abstraktion verpflichten, eine tatsächliche Rechtsprechung gegen die besitzende Klasse erfolge. „Die Verfassung“ geltend zu machen gegen die „Verfassungswirklichkeit“ bleibt ohnmächtige Proklamation. „Demokratische Wirtschaftsverfassung“ als verfassungsrechtliche Möglichkeit wird weder aus den gegenwärtigen Machtverhältnissen, noch aus den wenigen Buchstaben des Gesetzes in Realität überführt werden.

Die sozialstaatlichen Bestimmungen sind schwach im Vergleich zu den rechtsstaatlichen und in der langjährigen Rechtsentwicklung der BRD weiterem „Funktionswandel“ von oben, also der Schleifung, unterworfen. Die Unterordnung unter die EU-Verträge beschleunigte den Prozeß.

Das ist jedoch kein Grund, die „sozialen“ gegen die „subjektiven“ Rechte auszuspielen und sich einzureden, „echte“ Klassenpolitik finde nur „im Sozialen“ statt. Wird dies als Vorwand missbraucht, die rechtsstaatlichen Bestimmungen nun auch noch gegenüber den sozialstaatlichen für unwesentlich zu erklären, und die subjektiven Rechte als „anachronistischen Liberalismus“ herabzusetzen, schlägt vermeintliche „Klassenorientierung“ um in Sozialopportunismus.

Die bürgerlich-demokratischen Grundrechte werden so zu einer Normierung der Bedingungen im Klassenkampf. Die demokratischen Kräfte, insbesondere die Arbeiterbewegung, drängen auf ihre Erhaltung als normierte Freiheiten sowie auf ihre Erweiterung (Recht auf Arbeit, Gleichberechtigung der Frauen, gesetzliche Begrenzung des Arbeitstages, Koalitionsrecht, Streikrecht). Die reaktionärste Bourgeoisie versucht sie zu entwerten, sie ihres Vorranges zu entkleiden, als unverbindliche Programmsätze zu handhaben, sie vorübergehend oder dauerhaft aufzuheben (Notstandsklauseln und -gesetze, 3. Infektionsschutzgesetz), oder sie durch verfassungswidrige Urteile (KPD-Verbot) oder Maßnahmen im Einzelnen zu brechen.

„Dabei verstärkt sich die Tendenz einer offenen oder versteckten Liquidation der Grundrechte durch die Staatsgewalt mit dem Übergang zum Imperialismus (innerer Terror als Voraussetzung äußerer Aggression“).[6]

Die weitblickende Haltung der KPD, die Verabschiedung des Grundgesetzes nicht zu unterstützen, begründete Max Reimann 1949 im Parlamentarischen Rat mit den Worten: „Wir Kommunisten versagen aus grundsätzlichen Erwägungen heraus dem Gesetz unsere Stimme. Die Gesetzgeber aber werden im Verlaufe ihrer volksfeindlichen Politik ihr eigenes Gesetz brechen. Wir Kommunisten aber werden die im Grundgesetz verankerten wenigen demokratischen Rechte gegen die Verfasser des Grundgesetzes verteidigen“.[7]

Bekanntlich wurde ab den 1970er Jahren die Formulierung in Umlauf gebracht „werden wir dieses Grundgesetz verteidigen“, anstatt historisch korrekt: „werden die wenigen in diesem Grundgesetz verankerten demokratischen Rechte verteidigen.“ Die Geschichtsschreibung der deutschen Arbeiterbewegung wird die Umstände dieser nachträglichen Änderung einer historisch weitreichenden Formulierung erhellen. Es springt in die Augen, dass der Anlass bestand, unter fortbestehendem KPD-Verbot die Gründung einer legalen kommunistischen Partei zu ermöglichen. Diese musste, zumindest formal, sich als „auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehend“ charakterisieren.

Dies ist ein unaufhebbarer Widerspruch in sich für eine Partei, für die das Ziel der Umwälzung der Produktionsverhältnisse und der Diktatur des Proletariats inhaltlich unverhandelbar ist. Es ist heute unerlässlich, Reimanns ursprüngliche Formulierung wiederherzustellen. Andernfalls wird sie zu einem Bremsklotz im Demokratiekampf. Nachdem der Anschluss der DDR über den Art. 23 bewerkstelligt, die Präambel des GG missachtet wurde, steht die Verwirklichung des Art. 146 auf der künftigen Tagesordnung der deutschen Nation und der deutschen Arbeiterklasse: die Verabschiedung einer gesamtdeutschen Verfassung durch das deutsche Volk für das deutsche Volk. Seit 1990 besteht keine Voraussetzung mehr zu behaupten, dass Max Reimann und die KPD heute „das Grundgesetz“ als solches verteidigen würden. Aber: die wenigen darin verankerten demokratischen Rechte sehr wohl!

Man muss kein Kommunist sein, um heute zu erkennen, dass mit dem im Sinne einer „Verteidigung des Grundgesetzes an sich“ umformulierten Reimann-Zitat den jetzt neu entfachten Kämpfen für Demokratie, Volkssouveränität, verfassunggebende Versammlung ein Bärendienst erwiesen wird. Diese Kämpfe zielen auf einen deutschen Friedensstaat als Wahrer des Völkerrechts. Kehren wir zurück zum ursprünglichen Sinn der Aussage von Max Reimann, und damit auch zu den Inhalten des Potsdamer Abkommens, dessen Bruch durch Verabschiedung jenes Grundgesetzes endgültig besiegelt wurde. In dieser Perspektive kommt kein Kampf um Demokratie umhin, bei der Grundrechte-Konzeption anzuknüpfen, wie sie der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden entwickelte, die DDR.

Sozialistische Grundrechte

Ein „Rückblick“ führt notwendig auf die sozialistischen Grundrechte seit der Oktoberrevolution. Sie verkörpern für uns eine konkrete, mit Lebenspraxis erfüllte Richtschnur der in die Zukunft gerichteten Lösung akuter Fragen.

Es sollte selbstverständlich sein, dass, wenn in Deutschland Verfassungsfragen diskutiert werden, der Betrachtung die vier Verfassungen (und ihre Änderungen) zugrunde liegen müssten, die seit 1949 in DDR und BRD Gültigkeit hatten / haben. Das vor uns Liegende, konkret zu Erkämpfende, umfasst in hohem Maße bereits Erreichtes, vom Gegner ab 1990 Zerstörtes.

Mit jeder Machteroberung der Arbeiterklasse wird ein qualitativ neues Recht geschaffen, sofern ein revolutionärer Staat bestehen kann. Seine vorrangigen Aufgaben sind: den Widerstand der gestürzten Ausbeuterklassen und ihre konterrevolutionären Absichten zu unterdrücken, den Aufbau und die Entwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse zu schützen.

Mit Gründen werden die sozialistischen Grundrechte (und -pflichten) angemessener als Persönlichkeitsrechte oder Menschenrechte charakterisiert. Es leuchtet ein, dass auch die Frage ihrer Hierarchie eine andere Beantwortung erfährt, als unter bürgerlichen Verhältnissen, da weder die leere Allgemeinheit naturrechtlicher Ober-Sätze noch der verewigte Antagonismus „Individuum-Staat“ diese Konzeption begründet: „Da die Freiheit des einzelnen eingebettet ist in die Freiheit der Gesellschaft, ist das nationale Selbstbestimmungsrecht das erste aller Menschenrechte, und die Grundrechte der Bürger sind die auf den einzelnen bezogene Volkssouveränität“ (Hervorhebung K.L.).[8]

Eine Übersicht auf die Grundrechtekonzeption der Deutschen Demokratischen Republik (die die Verfassung von 1968f. widerspiegelt) mag genügen.[9]

Sie spricht von Grundrechten als abgestimmtes System, nicht als knappes Sammelsurium spärlicher Schutzrechte.

In diesem System vereinigen sich: ökonomische, kulturell-ideologische und politische Grundrechte.

Erst ihre gesellschaftliche Totalität ergibt „das Menschenrecht“.

Ökonomische Rechte:

Recht auf Arbeit, freie Wahl des Arbeitsplatzes entsprechend Fähigkeiten, Leistungslohn, Mitwirkung an der Betriebs- und Wirtschaftsführung. Ergänzt durch: Recht auf Qualifizierung, Freizeit, Erholung und Urlaub, Gesundheits- und Arbeitsschutz, Versorgung bei Krankheit, Invalidität und Alter; Recht auf Wohnung und persönliches Eigentum.

Kulturell-ideologische Rechte:

Recht auf schulische, kulturelle, körperliche Ausbildung; auf wissenschaftliche, kulturelle, und körperliche Selbstbetätigung; auf Meinungs-, Presse-, Glaubensfreiheit, Mitwirkung an der Leitung von Volksbildung und Kultur

Politische Rechte:

Recht auf Regierung, Recht auf Wahl und Kontrolle aller Machtorgane, auf Teilnahme an der staatlichen Leitung, Vereinigungs-, Organisations-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, auf bewaffnete Verteidigung der Republik, auf Gesetzlichkeit aller Handlungen.

 

Sobald der Blick über den Tellerrand rein formalrechtlicher Bestimmungen auf die „materiellrechtliche“ Seite der gesellschaftlichen Wirklichkeit fällt, wird sichtbar, dass hier die Grundbedingungen formuliert sind, die es heute braucht, damit eine funktionierende Gesellschaft im Interesse der Bevölkerungsmehrheit überhaupt noch existieren kann. Es ist offensichtlich, dass der Kampf für die Verwirklichung dieser Perspektive weder mit der EU, noch mit der NATO, noch mit den gegenwärtigen monopolistischen Eigentumsverhältnissen zu vereinbaren ist. Konsequente Grundrechteverteidigung kann nur begrüßt werden, da sie unweigerlich an diese Widersprüche heranstoßen muss. Unsere Aufgabe ist, diesen Erkenntnisprozess voranzutreiben.

 

Klaus Linder, Landesvorsitzender des Freidenkerverbandes Berlin und Mitglied des Geschäftsführenden Verbandsvorstandes

Quellen und Anmerkungen

[1] „Heute gibt es in Deutschland viele Bäche und Flüsse der Opposition. Im Volk äußern sich die Freiheitswünsche verschiedenartig. Aber alle sind sich darin einig: ‚ … Wir wollen wieder Freiheit haben!‘ Heute flüstert man schon in unserem Land: ‚Wir brauchen eine Regierung des Volkes. Das Volk müsste an die Macht! Das kann nur durch die Schaffung der deutschen Volksfront erreicht werden.“  (Walter Ulbricht, Faschistische Kriegsvorbereitung; aus der unter dem Tarntitel „Deutsche Scholle“ illegal erschienenen Broschüre: Kriegsschauplatz Innerdeutschland, 1938. Zitiert nach: Walter Ulbricht, Gegen Imperialismus und Krieg, Berlin 1982, S. 258.

[2] Karl Polak, Das Verfassungsproblem in der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, Zweite verbesserte Auflage. Durch den Verfasser erweitertes Exemplar seines Berichtes auf der 3. Sitzung des Verfassungsausschusses des Deutschen Volksrates am 11. Mai 1948, Berlin 1950

[3] „… auch die franz. Revolution und die feierliche Erklärung der Menschenrechte wird von allen Rechtswissenschaftlern als höchster Ausdruck des Naturrechts betrachtet – und doch liegt gerade hier die stärkste Beanspruchung der Gesetzgebungsmaschine vor. Im Namen dieses Naturrechts hat der franz. Nationalkonvent vom 21.9.1792 bis 26.10.1795 mehr als 15 400 Dekrete erlassen.“, in: Wilhelm Raimund Baier, Rechtsphilosophische Besinnung. Eine Warnung vor der ewigen Wiederkehr des Naturrechts, Karlsruhe 1947, S. 51

[4] Domenico Losurdo: Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, Köln 2017, S.32

[5] Die Grundrechte des deutschen Volkes, Diskussionsvorschlag der SED vom 19. September 1946, in: Dokumente der SED, Bd. 1, Berlin 1951

[6] Philosophisches Wörterbuch, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1971, S. 462

[7] Neues Deutschland, 13. 9. 1951

[8] Philosophisches Wörterbuch, S. 464

[9] ebd.


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Bild oben: Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793 (Ausschnitt), gemeinfrei
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