Kultur & Kunst

In Freiburg immer weiter entdeckt – Felix Mendelssohn, ein deutsches Problem

von Stefan Siegert

Der – assimiliert – jüdische Bankierssohn Felix Mendelssohn (1809-1847) war für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts das Wegekreuz von Mozart und Beethoven zu Schumann, Liszt, Wagner – ein heißes Eisen. Denn der zu Lebzeiten europaweit höchst gefragte Mendelssohn fiel, kaum verstorben, dem katholisch/protestantisch abendländischen Rassismus zum Opfer. Der Klassikbetrieb beschränkte sich bis vor nicht allzu langer Zeit auf eine ausgesuchte Auswahl seines Oeuvre; am Spezifikum der Musik dieses Komponisten war ein größeres Interesse lange nicht erkennbar.

Liest oder hört man heute Texte über ihn, mag nicht selten, wenn auch subtiler, immer noch der Eindruck entstehen, als sei dieser Komponist den Ruf des eleganten Leichtgewichts und glatten Klassizisten, des hochbegabten Epigonen und wendigen Zusammengießers nicht wirklich und restlos losgeworden. Darum ist die Neuproduktion von Mendelsohns Bühnenmusiken zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ durch die Musiker des Freiburger Barockorchesters (FBO) mit dem Dirigenten Pablo Heras Casado zwar nicht das erste, aber ein weiteres – und ein wichtiges – Projekt, das sich um die Entdeckung der Musik Felix Mendelssohns verdient macht. Es bereichert und aktualisiert den gängigen Konzertsaal-Blick auf Mendelssohns Repertoire, auf seinen Stil.

Das Ressentiment, es hat selbst linke Kenner wie Theodor Adorno und Ernst Bloch nicht unberührt gelassen, geht auf Richard Wagners Text „Das Judentum in der Musik“ von 1850 zurück. Dessen Kerngedanke bestand in der Feststellung, Komponisten wie – der knapp vor Abfassung des Wagnerelaborats verstorbene – Mendelssohn und Giacomo Meyerbeer, zwei der erfolgreichsten Wagner-Konkurrenten, ermangelten einer speziell teutonischen Tiefe, die, so Wagner, den Juden aus Gründen der „Rasse“ verwehrt sei.

Gegen Wagners eklige Dominanz gab es allerdings, spärlich aber prominent, schon seinerzeit eine Sorte Einspruch, die sich mit musikalischen Alternativen rüstete: „Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. Diese Musik ist böse, raffinirt, fatalistisch: sie bleibt dabei populär. Sie ist reich. Sie ist präcis. Sie baut, organisirt, wird fertig“. Solche Sätze des großen Stilisten und Liebhabers der Musik, Friedrich Nietzsche, finden sich in „Der Fall Wagner“, Nietzsches literarischem, am Ende seines Lebens erfolglosen Versuch, sich von seinem Abgott und Nebenmann in der Abteilung Dekadenz zu lösen. Er bediente sich dafür provokativ George Bizets Oper „Carmen“ als eines Gegenmodells und Antidots zur Rauschmusik Wagners.

Nietzsches Belobigung erscheint bis heute modern. Die Freiburger Aufnahme klingt, als hätten die Breisgauer sie beim Wort genommen. Der nach Alfred Einstein „romantische Klassizismus“ Mendelssohns kommt bei ihnen darum nicht mehr beethovenheroisch daher, nicht mehr als verbiedermeierter Mozart, nicht antiketrunken marmorklar, sondern – mediterran. Dialektisch listig hat die Geschichte der Aufführungspraxis dafür gesorgt, dass es im Sommer 2025 erstaunlich viele Italiener sind, etwa Giovanni Antonini oder Riccardo Minasi, ein Grieche wie Teodor Currentzis, ein Katalane wie Jordi Savall oder eben ein Spanier wie Heras Casado, die sich allerheiligsten Bezirken deutscher Gefühlskultur widmen und dafür sorgen, dass beispielsweise Felix Mendelssohns Sommernachtstraum-Musik in die schillersch-naive Lebenskraft eines shakespeareschen Arkadien auswandert.

Die vier Eingangsakkorde der Ouvertüre, fünf Takte ganzer Noten in Holzbläsern und Hörnern stellen das für den weiteren Verlauf grundlegende Gerüst vor. Heras-Casado gibt diesen Beginn nicht als Portal, nicht als demonstrative Festlegung der Tonart des Stücks. Es ist, als ließen die hölzernen Flöten der Freiburger, ihre kehligen Oboen und ventillosen Hörner im piano, lyrisch zurückhaltend, den Vorhang aufgehen: Theaterluft strömt in den Konzertsaal. Bei Theaterluft bleibt es. Vom Scherzo und „Rüpeltanz“ bis zum Nocturno und Marcia funebre wird es in den verschiedenen Stimmungen und Gesellschaftsschichten der vierzehn Teile dieser Sommernachtstraum-Musik, selbst in den mehr repräsentativen Passagen der Theseus-Sphäre – so im berühmten Hochzeitsmarsch – wie Komödie klingen. Denn Mozarts junge Nachfolger, unter ihnen Mendelssohn, eiferten selbstverständlich Mozarts Maßstäben nach, wenn es darum ging, Musik theaterhaft plastisch zu gestalten.

Aber es war dann eben doch der ihm vom Alter her zwei Jahrzehnte nähere Carl Maria von Weber (1786-1826) mit seiner Adaption des „Sommernachtstraum“, dem „Oberon“, der den 17-jährigen Mendelssohn zur Komposition seines Frühreifezeugnisses und Durchbruchswerks, der Sommernachtstraum-Ouvertüre op. 21, stimulierte. Sie blieb lange das einzige Ergebnis der Beschäftigung Mendelssohns mit Shakespeares „Sommernachtstraum“. Die Bühnenmusiken op. 26 entstanden sechzehn Jahre später. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV hatte sich für die von Ludwig Tieck geleitete Berliner Aufführung des schlegeldeutschen Shakespeare-Märchens eine Bühnenmusik gewünscht. Sie blieb und bleibt in der Gunst des Publikums bis heute hinter der Ouvertüre zurück. Denn man präsentierte die Bühnenmusiken, wenn überhaupt, als eine Art Orchestersuite, enttheatert, ohne Gesang und Sprechpartien.

Die flinken Hände und singenden Lungen von FBO und RIAS-Kammerchor erwecken nun freilich die vollständigen und für die neue Produktion voller Witz bearbeiteten Bühnenmusiken zu neuem Leben. Kein weiteres Lobeswort darüber, dass das FBO spielend in der Lage ist, Ketten schneller Vierachtel-Gruppen der hohen Streicher ins atmosphärische Wispern eines Elfenwalds zu verwandeln. Die Sommernachtstraum-Musik des FBO im Ohr, meint man zu hören, Mendelssohn wäre, hätte sein Organismus ihm mehr Zeit gegeben, durchaus, wie geplant, auch noch in der Lage gewesen, Opern zu komponieren (er hat erst am Lebensende damit begonnen). Die in dieser Aufnahme zu hörenden vokalen Teile, die volksliednahen Chorpassagen, eingestreut hübsche Ariosi der Chorsolistinnen, die Melodramen, mit spielerischen Ausflügen bis in Randbezirke von Secco und Accompagnato belegen, Mendelssohn konnte auch Oper.

Das FBO macht in den Farben seiner Instrumentengruppen den Wandel der Tonarten, die Freude am Tanzen, den Einfallsreichtum und die unprätentiöse Raffinesse der Instrumentierung Mendelssohns hörbar. Dabei sind Orchester und Kammerchor in dieser Produktion nur das eine. Der Schauspieler Max Urlacher ist das zweite. Er erzählt in den Zwischentexten in Ausschnitten die umfangreiche Handlung Shakespeares, er ist eine multiple Allround-Verkörperung repräsentativer Handlungspersonen. Urlacher macht Witze im Idiom der Gegenwart, lässt etwa, um die Liebesglut Lysanders für Hermia zu schildern – „Hermia – Hermia!“ – die kindisch kindliche Begeisterung der Südkurven hören und gelangt wenig später in gereimtem Schlegel-Deutsch in den bilderreichen Sprachwitz des Stückeschreibers aus Stratford, UK. Von der Differenzierung der Geschlechter und von den Albernheiten des dritten Jahrtausends zurück bis zu biedermeierlicher Poesie verfügt Urlacher über ein Sortiment an Stimm- und Stimmungsnuancen; so unmerklich wie gekonnt stellt er das Gesprochene vorbereitend, engführend und nachwirkend auf die Temperatur des Orchesters ein. Und wer immer den ins Deutsche übersetzten Shakespeare durch die Zwischentexte dieser Sommernachtstraum-Produktion ergänzt hat, hat gute Arbeit geleistet.

So kann man es machen. Leicht und biegsam, liebenswürdig und fatalistisch, raffinirt, präcis und populär. Nietzsche hätte es gefallen, freilich, der mächtige Wagner hätte davon nichts wissen dürfen.

Felix Mendelssohn: Ouvertüre op. 21 und Bühnenmusiken op. 26 zum „Sommernachtstraum – Freiburger Barockorchester / Max Urlacher / RIAS Kammerchor / Pablo Heras Casado (Harmonia Mundi France)

Stefan Siegert ist Autor mit Schwerpunkt Musik, er schreibt aber auch politische Feuilletons, verfasst Künstler-Features für den Rundfunk und zeichnet Buch-Illustrationen sowie Comics.

 

Der Beitrag wurde der Redaktion per Mail zugestellt am 13.09.2025


Bild oben: Porträt von Felix Mendelssohn Bartholdy (Ausschnitt).
Lithografie von Eduard Magnus, Public Domain
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=159015750