Das Trump-Attentat: Symptom des Zerfalls westlicher Gesellschaften
Das Attentat auf Trump deutet nicht nur auf den Zerfall der US-Gesellschaft hin. Die Probleme, mit denen die USA zu kämpfen haben, sind auch in Deutschland und der gesamten EU zu finden. Zunehmende Gewalt hat ihre Ursache im Auseinanderfallen der Lebenswelten. Man kann sich gegenseitig nicht mehr verstehen.
Von Gert Ewen Ungar
Erstveröffentlichung am 16.07.2024 auf RT DE
Von dem Attentat auf Präsident Trump sind schwerwiegende Auswirkungen auf die US-amerikanische Gesellschaft zu erwarten, sind sich Analysten einig. Auch wenn zu den Motiven des Täters bisher weiter Unklarheit herrscht, wird die Tat die ohnehin schon vorhandene Spaltung der US-Gesellschaft weiter vertiefen. Den USA stehen unruhige Zeiten bevor. Dem Kernland des westlichen Bündnisses droht Instabilität.
In Frankreich sieht es nicht besser aus. Bei den Europawahlen wurde Macron abgestraft. Daraufhin hatte er Neuwahlen ausgerufen, die faktisch zu einer Pattsituation führten. Die Regierungsbildung ist schwierig.
Auch die französische Gesellschaft ist tief gespalten. Die Probleme schwelen vor sich hin, ohne gelöst zu werden. Die in Frankreich immer häufiger aufflammenden Proteste führen die Unfähigkeit der dortigen Politik vor, gesellschaftliche Probleme nachhaltig zu lösen. Weite Teile der französischen Gesellschaft fühlen sich ungerecht behandelt, von Armut bedroht und von der politischen Repräsentation ausgegrenzt.
Die einfachen Arbeiter und Angestellten, Bauern und Produzenten von Lebensmitteln, die migrantische Unterschicht – sie eint bei aller Differenz und gegenseitigem Misstrauen, dass sie sich und ihre Interessen von der herrschenden Politik nicht repräsentiert fühlen.
Etwas verdeckter, aber nicht grundlegend anders, ist die Situation in Deutschland. Zwar sandte auch dort die Europawahl ein deutliches Signal an die Ampel-Regierung, den eingeschlagenen Kurs zu überdenken. Doch statt auf das Signal zu reagieren, schloss Kanzler Scholz Neuwahlen kurzerhand aus. Der Grund dafür ist klar: Die Ampel ist unbeliebt. Ihrer Politik, ideologisch motivierte Projekte ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Auswirkungen durchzudrücken, würde im Fall von Neuwahlen ein Ende bereitet. Das gilt für die Energiewende ebenso wie für die zur Staatsraison erhobene bedingungslose Unterstützung rechter Regime unter billigender Inkaufnahme zahlloser Opfer und auf Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands.
Allerdings fehlt in Deutschland unter den etablierten Parteien eine tatsächliche Alternative. Die CDU steht nicht für einen grundlegenden Kurswechsel. Auch in Deutschland fühlen sich immer mehr Menschen mit ihren Anliegen und Sorgen von der herrschenden Politik nicht vertreten.
Einen echten politischen Kurswechsel versprechen in Deutschland aktuell nur die AfD und das BSW. In Frankreich der Rassemblement National und in den USA Donald Trump. Sie werden daher mit Schmutzkampagnen überzogen. Gewalt gegen sie wird legitimiert.
Die Kernländer des westlichen Bündnisses kämpfen nicht nur mit dem Willen der Länder des Globalen Südens, die westliche Hegemonie durch die Diplomatisierung der internationalen Beziehungen abzulösen. Der Westen kämpft auch im Innern mit deutlichen Anzeichen des Zerfalls seiner Gesellschaften.
Die Ursachen für die gesellschaftliche Spaltung sind in allen genannten Ländern ähnlich. Zwar ist der wirtschaftliche Niedergang in Deutschland deutlich ausgeprägter als in den USA, die mit dem Ziel, Wachstum im Inland zu erzielen, Deutschland faktisch den Wirtschaftskrieg erklärt haben. Die USA stehen nicht nur im Verdacht, für den Anschlag auf Nord-Stream verantwortlich zu sein, sondern werben mit dem Inflation Reduction Act aktiv Industrie ab.
Damit soll in den USA ein Problem gelöst werden, vor dem im Grundsatz auch Deutschland und Frankreich stehen. Der Lebensstandard driftet in westlichen Gesellschaften zunehmend auseinander. Die Mittelschicht erodiert, die Ungleichheit nimmt in dramatischer Weise zu. Das hat konkrete Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Diskurs. Die unterschiedlichen Segmente der Gesellschaft können sich aufgrund grundlegend unterschiedlicher Lebensrealitäten nicht mehr verstehen. Sie stehen sich feindlich gegenüber. Das bedingt die Radikalisierung der Gesellschaft. In den USA, aber eben auch in den Kernländern der EU.
Die Art, wie der Diskurs über eine Bedrohung durch rechte Parteien und sogenannte „Populisten“ geführt wird, ist symptomatisch für diese Radikalisierung. Mit der Verwendung des Begriffs „Populismus“ wird zudem vorgetäuscht, man habe die besseren Argumente. Dabei unterscheiden sich die etablierten Parteien in der intellektuellen Flachheit ihrer Argumentation nicht von denjenigen, denen sie populistische Positionen vorwerfen. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall.
Mit der Verschlagwortung und Dämonisierung von Trump, Le Pen und in Deutschland der AfD als rechts, faschistisch und legitimes Ziel in einem vermeintlich legitimen Kampf gegen rechts wird eine dringend notwendige inhaltliche Auseinandersetzung verhindert. Sich selbst als links und liberal verstehende Segmente der Gesellschaft setzen auf Ausgrenzung und Diskriminierung aus dem politischen Diskurs, auf Verbot und Zensur – und eben auch auf Gewalt.
Der Grund dafür ist klar. In einer Gesellschaft, in der die Verteilungsspielräume immer enger werden, ist eine Scheindiskussion über die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten wohlfeiler als eine tatsächliche Diskussion über Verteilungsgerechtigkeit und der gemeinsamen Suche danach, was dem Auseinanderfallen der Lebensrealitäten entgegengesetzt werden muss. Es geht dem liberalen Bürgertum letztlich nicht um Gerechtigkeit, sondern um Besitzstandswahrung.
Das Verstehen und die Einfühlung in Argumente setzen einen ähnlichen Erfahrungshorizont voraus. Ist dieser nicht gegeben, führt das zwangsläufig zu einer Zunahme von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Ziele. Das Attentat auf Trump ist Ausdruck für eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich auf inhaltlicher Ebene nicht mehr auseinandersetzen und so tragbare Kompromisse finden können. Die sogenannten liberalen Gesellschaften steuern so auf eine Zeit der Instabilität zu. Sie zerfallen durch einen Mangel an Solidarität und ihre wachsende Ungleichheit.
Ob Trump, die AfD oder der Rassemblement National die richtigen Konzepte zur Lösung hat, ist dabei die Frage, die fair zu diskutieren wäre. Sie einfach auszugrenzen, zu diskriminieren und Gewalt gegen sie zu legitimieren, kann nicht das Ziel einer Gesellschaft sein, die sich selbst als demokratisch versteht. Das zu tun, bedeutet nämlich das Ende von Demokratie und Freiheit.
Es müssen wieder die Bedingungen hergestellt werden, unter denen sich tragfähige Kompromisse finden lassen, in denen sich die ganze Gesellschaft wiederfindet. Ansonsten geht der innere Zerfall weiter und die Gewalt nimmt weiter zu – in den USA, aber eben auch in Deutschland. Dann wird zurückgeschossen.
Gert-Ewen Ungar studierte Philosophie und Germanistik und schreibt regelmäßig für die Neulandrebellen
Bild oben: Donald Trump auf einer Veranstaltung in Las Vegas, 2023
Foto: Gage Skidmore, CC BY-SA 2.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=139877207