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„Europäische Souveränität“ – Macron bremst von der Leyen aus

Die politische Polemik und der Medienrummel sind mittlerweile verklungen. Die Ernennung von Fiona Scott Morton zur Chefökonomin der dänischen EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager und ihr anschließender Verzicht auf den Posten können daher mit etwas Abstand betrachtet werden.

Von Pierre Levy

Erstveröffentlichung am 26.07.2023 auf RT DE

Am 11. Juli hatte die EU-Kommissarin bekannt gegeben, dass sie den seltenen Vogel für diesen entscheidenden Posten gefunden hatte: eine Amerikanerin der renommierten Yale-Universität, eine Expertin für Wettbewerbsrecht, die ihre Fähigkeiten im Dienst der Obama-Regierung unter Beweis gestellt hatte, dann als Beraterin für Apple, Amazon, Microsoft und andere Unternehmen.

Am 19. Juli gab die Kandidatin schließlich angesichts des Aufschreis in einer Reihe von Ländern – darunter Frankreich – auf. Die von den Gegnern der Nominierung vorgebrachten Argumente entbehrten scheinbar nicht eines gesunden Menschenverstandes. Warum sollte man eine Bürgerin der USA für ein Amt holen, das die „europäische Souveränität“ (so das von Emmanuel Macron erfundene Oxymoron) verteidigen soll? Und das, obwohl die Brüsseler Regeln vorschreiben, dass die Beamten der Kommission, von Ausnahmen abgesehen, die Staatsangehörigkeit eines der 27 Mitgliedstaaten besitzen müssen.

Und warum sollte man sich darüber hinaus einem möglichen Interessenkonflikt aussetzen, da Frau Scott Morton Firmen beraten hat … gegen die sie aufgrund ihrer europäischen Aufgaben zweifellos hätte kämpfen müssen? Dies machte unter anderem Emmanuel Macron geltend, indem er auf die jüngsten europäischen Texte verwies, die die digitale Wirtschaft insbesondere angesichts der Giganten von der anderen Seite des Atlantiks regeln. Derselbe fügte sinngemäß hinzu: Ich werde eine solche Wahl an dem Tag begrüßen, an dem ein Europäer als Berater für internationalen Handel ins Weiße Haus berufen wird – eine Hypothese, die natürlich unwahrscheinlich ist.

Man könnte aber anmerken, dass der Meister aus dem Élysée-Palast glaubwürdiger wäre, wenn die französische Regierung nicht selbst vermehrt Beratungsaufträge für die nationale Verwaltung an große amerikanische Firmen, insbesondere McKinsey, vergeben würde. Wie dem auch sei, die meisten französischen politischen Parteien schlossen sich dieser kritischen Linie an und ihre Vertreter betätigten sich im EU-Parlament eifrig. Einige Hauptstädte stimmten in den Chor ein und mehrere EU-Kommissare, darunter der Franzose Thierry Breton, distanzierten sich diskret von ihrer Kollegin Vestager.

Im Gegensatz dazu verteidigte ein von mehr als hundert Wirtschaftswissenschaftlern, darunter der französische Nobelpreisträger Jean Tirole, unterzeichneter Aufruf die amerikanische Kandidatin, indem er den „engstirnigen Regionalismus“ der Befürworter einer europäischen Rekrutierung anprangerte und argumentierte, dass es nur auf die Fähigkeiten ankomme und diese auf dem Weltmarkt zu suchen seien. Auch einige prominente grüne EU-Abgeordnete wetterten gegen eine unangebrachte „patriotische Gesinnung“.

In Brüssel riet man der amerikanischen Wissenschaftlerin schließlich, von sich aus aufzugeben: Ein Jahr vor den EU-Wahlen, bei denen die europäische Führungsblase das Erstarken von „populistischen“ oder Anti-System-Parteien am meisten fürchtet, wäre es wohl nicht klug gewesen, den Eindruck zu hinterlassen, dass die EU eine ehemalige Anwältin der „GAFAM“ (US-amerikanische Digitalriesen) anwirbt.

Anschließend haben die „Brüsselologen“ subtile Analysen über die Machtverhältnisse innerhalb der Führung der 27 Mitgliedstaaten und der Kommission vorgelegt. Beispielsweise sahen einige die Stellungnahme von Präsident Macron als ein Signal an die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Diese hatte ihr Amt 2019 dem gemeinsamen Handeln von ihm und Angela Merkel zu verdanken. Und es wird gemunkelt, dass Frau von der Leyen im nächsten Jahr gerne ihre eigene Nachfolge antreten würde.

All dies mag nicht falsch sein. Aber sich auf diese Überlegungen zu beschränken, würde dazu führen, das Wesentliche zu übersehen. Zum einen hat der Vorfall bestätigt, dass die europäischen Politiker nach wie vor gespalten sind zwischen den bedingungslosen Befürwortern einer Führungsrolle von Uncle Sam über die EU und den Befürwortern einer größeren „europäischen Autonomie“, sowohl in handelspolitischer als auch in geostrategischer Hinsicht. Gegenwärtig – und insbesondere seit der „Zeitenwende“ von Olaf Scholz – verläuft diese Trennlinie deutlicher als zuvor zwischen Berlin und Paris.

Vor allem darf man nicht vergessen, dass sich Wettbewerbsfragen keineswegs auf die Auseinandersetzungen mit den amerikanischen Digitalriesen beschränken: Frau Vestager – unter dem Dach der Kommissionspräsidentin – hat alle Macht, um Fusionen und Übernahmen zwischen Unternehmen in allen Wirtschaftsbereichen innerhalb der EU zu genehmigen oder zu verbieten. So hat sie zum Beispiel die Annäherung zwischen Alstom und Siemens im Eisenbahnsektor 2019 verhindert (was dazu führte, dass das französische Unternehmen sich mit dem kanadischen Konzern Bombardier zusammenschloss).

Der Wettbewerbskommissar hat auch die Kontrolle darüber, ob staatliche Beihilfen genehmigt werden oder nicht. Diese exorbitante Macht ermöglicht es ihm beispielsweise, öffentliche Versorgungsunternehmen zu schwächen – in Frankreich EDF (Strom) oder die SNCF (Schienenverkehr). So zwingt Brüssel EDF, Strom mit Verlust an seine privaten Konkurrenten zu verkaufen, deren Gründung erzwungen worden war, um das staatliche Monopol zu brechen.

Die wichtigste Frage ist also nicht, welche Farbe der Pass eines hohen Beamten der Brüsseler Generaldirektion für Wettbewerb hat, sondern die Frage, welche Legitimität eine solche Instanz überhaupt hat.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1958 hat die Europäische Union (damals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) den freien Wettbewerb in ihrer DNA. Und dieses Prinzip hat in der EU nach wie vor viele quasi-religiöse Verfechter.

Doch die Zeiten ändern sich. Im Jahr 1992 wurde die europäische Integration durch den Vertrag von Maastricht gestärkt, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als der „Ostblock“ verschwand. Dieses vermeintliche „Ende der Geschichte“ beinhaltete als einzigen Horizont für die „systemfreundlichen“ politischen Führer die Maximierung der Profite der großen Firmen.

Dieses Ziel ist natürlich nach wie vor von zentraler Bedeutung, doch vierzig Jahre später zeichnet sich ein neuer Kalter Krieg ab. Und nicht mehr nur Russland ist der designierte Gegner, sondern in noch stärkerem Maße China, zunächst im wirtschaftlichen Bereich. Vor allem entsteht ein „Globaler Süden“, der zwar heterogen ist, aber versucht, die hegemonialen Ambitionen des Westens infrage zu stellen.

Unter diesen Bedingungen gibt es einen vorrangigen Horizont, der mit dem Profit der Unternehmen konkurriert: die Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen, seltenen und entscheidenden Ressourcen, und Energie. In dieser „geopolitischen EU“ müssen der heilige Wettbewerb und das Verbot staatlicher Beihilfen manchmal der Bildung „europäischer Giganten“ weichen, wenn nötig mithilfe nationaler Subventionen.

Dies kann zu einer kopernikanischen Infragestellung der Gründungsdogmen führen, was nicht ohne Konflikte ablaufen wird – vor allem zwischen Paris und Berlin (aber auch innerhalb der einzelnen Länder). Der Nachfolger der kurzlebigen Fiona Scott Morton wird also keine leichte Aufgabe haben.

Pierre Lévy war Gewerkschaftsfunktionär der CGT-Metall und von 1996 bis 2001 Redakteur  bei “L’Humanité“. Er lancierte 2000 eine  „radikal eurokritische, fortschrittliche Monatszeitung“ unter dem symbolischen Titel „Bastille-République-Nation“, die ab Frühjahr 2015 als  „Ruptures“ (dt. „Brüche“) fortgesetzt wird, zusätzlich mit der  Webseite: https://ruptures-presse.fr/


Bild: Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron am 1. Juni 2023 in Chisinău, Moldawien
Foto: Dati Bendo/European Commission – Attribution
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