VVN: Das veruntreute Erbe des Antifaschismus
Wenn man heute Jugendliche fragen würde, was Antifaschismus bedeutet, würden sie, sofern ihnen das Wort überhaupt etwas sagt, antworten: „Gegen Rechts sein.“ Das hat aber wenig mit dem zu tun, was dieses Wort einmal bedeutet hat und bedeuten sollte.
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 15.07.2023 auf RT DE
Es ist eine traurige Angelegenheit, sich mit den heutigen Aussagen der VVN zu befassen. Um es jenen zu erläutern, denen die Abkürzung nichts sagt: Ausgeschrieben heißt das „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ‒ Bund der Antifaschisten“. Eine Organisation, die 1947 in Berlin gegründet wurde und ursprünglich einmal Widerstandskämpfer und ehemalige Gefangene der Konzentrationslager umfasste. Der anfängliche Impuls war, das gemeinsame Schicksal der Verfolgung zur Grundlage des Wiederaufbaus zu machen.
Die SPD wie die CDU in den Westzonen machte sich aber bald daran, die Organisation zu spalten, weil ihnen der Anteil der Kommunisten zu hoch war. Schließlich waren sowohl im Widerstand als auch unter den Opfern der politischen Verfolgung die Kommunisten die mit Abstand größte Gruppe gewesen. Bereits Anfang der 1950er Jahre waren diese deshalb bereits fast unter sich.
Kaum jemand weiß heute noch, welche Konsequenzen das KPD-Verbot für viele dieser Verfolgten hatte. Jeder, der wegen politischer Aktivitäten für die KPD, die damals vor allem gegen die Wiederbewaffnung kämpfte, angeklagt wurde, verlor seinen Anspruch auf die Rente als NS-Verfolgter. Das, während die Regierung Adenauer (der ganz zu Beginn sogar selbst Mitglied gewesen sein soll) für alle Beamten, die Mitglied der Nazipartei gewesen waren, die Rückkehr in den Staatsdienst ermöglichte (und sämtlichen Nazi-Würdenträgern selbstverständlich bis ans Lebensende hohe Renten zahlte).
Die folgenden Jahrzehnte waren eine Anhäufung von Bespitzelungen, Denunziationen und Herabwürdigungen. Erst 2021 stellte mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz die letzte Landesbehörde die Beobachtung ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte aber die VVN mit der ursprünglichen Organisation so gut wie nichts mehr zu tun, nicht nur personell.
Kaum jemand kann heute noch nachvollziehen, mit welcher Ehrfurcht junge Kommunisten Mitte der 1970er die Mitglieder der VVN sahen. Das waren die Helden, die gekämpft und gelitten und eine Standhaftigkeit bewiesen hatten, auf die man selbst nur hoffen durfte. Das war nicht nur einfach irgendeine Gruppe von alten Leuten. Und die politische Offenheit, die immer noch gewahrt wurde, obwohl die Anhänger von SPD, CDU u.a. sie zurückwiesen, war eine Lehre aus einer extremen Lage im Kampf gegen einen extremen Feind.
Im Widerstand hatten sich Menschen gefunden, die in der Weimarer Zeit weit voneinander entfernt standen. Es gab sie wirklich, die Zusammenarbeit von Konservativen und Kommunisten. Wenn man einen Blick auf politische Texte oder auch nur auf Listen von Veranstaltungen in den ersten Jahren nach 1945 wirft, wundert man sich, wie offen alles war, wie frei diskutiert wurde, wie niedrig die Mauern zwischen den politischen Lagern waren. Die Landesverfassungen von Bayern und Hessen geben den damaligen Geist noch wieder. Alles war akzeptiert und respektiert, was nicht Nazi war.
Das endete, als die Westmächte begannen, auf Antikommunismus zu setzen und das Land zu teilen. Die Zeit des westdeutschen Wirtschaftswunders (frei gewordene Märkte, die die westdeutsche Industrie übernehmen konnte, weil die USA mit Korea beschäftigt waren) war gleichzeitig eine Zeit politischer Verödung. Die Mehrheit der Bevölkerung wollte weder eine Blockzugehörigkeit noch eine Wiederbewaffnung, also musste beides mit Repression durchgesetzt werden. Und weil Adenauer die Behörden für die Handlanger der Nazis wieder geöffnet hatte, fanden sich viele der zuvor Verfolgten den gleichen Polizisten, Staatsanwälten und Richtern gegenüber wie vor 1945 (und zwar oftmals wortwörtlich).
Dennoch blieb in der VVN die politische Offenheit erhalten, auch wenn sie nicht in Anspruch genommen wurde. Eine Grenze da zu ziehen, wo es heute der vage Begriff „rechts“ tut, wäre niemals in den Sinn gekommen; die konservativen Mitglieder in den Anfangsjahren standen, auf der heutigen Skala, weit rechts von der Mehrheit der heutigen AfD. Das entscheidende Kriterium war eben der Antifaschismus ‒ das einzig entscheidende Kriterium.
Und heute? Die heutige VVN hat mit der ursprünglichen Organisation nicht mehr gemein als den Namen. Ein paar Beispiele gefällig? Am 9. Mai 2022, als in Berlin-Treptow sogar die Fahnen des Sieges verboten waren, hatte die Berliner VVN nichts Besseres zu tun, als gegen den „russischen Angriffskrieg“ zu demonstrieren. Im Dezember 2022 veröffentlichte sie eine Presseerklärung zum Rollatorputsch, in der sie diesen zur „Spitze des Eisbergs“ erklärte und gleichzeitig auch noch „Querdenker*innen“ mit in den Sack steckte. Das Hauptthema heißt mittlerweile ohnehin AfD. Sprich, die ganze Definition von Antifaschismus, der die VVN heute folgt, hat nichts mehr mit jener zu tun, unter der sie einst gegründet wurde.
Bemerken konnte man diese Wende bereits 2015. Der Geschäftsführer Thomas Willms veröffentlichte einen Artikel, „Alte Assoziationen“, in dem er zu erklären suchte, warum sich deutsche „extreme Rechte“ von Russland angezogen fühlen. Wohlgemerkt, Anfang 2015 tobte der Bürgerkrieg in der Ukraine schon ein halbes Jahr lang, und jeder, der sehen wollte, konnte sehen, welche Kräfte in der Ukraine am Werk sind.
Worauf Willms abzielte, war, unter Einsatz von auch sonst beliebten Versatzstücken, wie Alexander Dugin als „wichtigster geopolitischer Berater“ Putins, über den Umweg deutscher Organisationen letztlich Russland zu einer Art von Neonazi-Paradies zu erklären. Wobei er außerdem noch Bezug auf die deutsche Geschichte der beginnenden 1930er nahm.
Der Kronzeuge, den er anführt, um zu belegen, dass deutsche „extrem Rechte“ schon damals Zuneigung für die Sowjetunion empfunden hätten, ist ausgerechnet Ernst Niekisch ‒ diesen derart zu bezeichnen, ist etwas schwierig. Auch wenn die Bezeichnung der politischen Strömung, die Niekisch leitete, „Nationalbolschewismus“ hieß, handelte es sich eben nicht um „extrem Rechte“. Niekisch war Teilnehmer der Münchner Räterepublik gewesen ‒ die Nazis rekrutierten sich aus den Freikorps, die die Räterepublik niedergeschlagen hatten. Im Sommer 1945 wurde Niekisch in die KPD aufgenommen, und er war im Kulturbund dafür zuständig, Referenten zu bewerten. Höchstwahrscheinlich würden die Akten der VVN sogar bestätigen, dass er eines der Gründungsmitglieder dieses Verbandes war.
Für Willms war er ein „extrem Rechter“. Und dass sich Niekisch 1930 positiv auf die Sowjetunion bezog, macht er ihm sogar zum Vorwurf. Für den Geschäftsführer einer Organisation, in der einst vor allem kommunistische Verfolgte organisiert waren, ein starkes Stück. Willms selbst kategorisiert die Sowjetunion als „eisig“, und die Eigenschaften, die gegen sie sprechen, lauten „Treue, Disziplin, Gehorsam und Gemeinschaft“. Alles miteinander offenbar prinzipiell schlecht und verdammenswürdig.
Das hat einen ganz besonderen Geschmack. Nicht nur, weil es ein bizarres Erlebnis ist, antikommunistische Aussagen ausgerechnet vom Geschäftsführer dieser Organisation zu lesen, sondern auch, weil das antifaschistische Erbe, das die VVN inzwischen verrät, eine ganz materielle Seite besitzt. Die Organisation war nämlich in vielen Fällen wortwörtlich der Erbe der Gründergeneration, was bedeutet, dass sie im Vergleich zu anderen linken oder zumindest früher einmal linken Organisationen relativ wohlhabend ist und sich daher auch einen Geschäftsführer wie Willms leisten kann. Es ist das Erbe der echten Antifaschisten, das ihm sein Einkommen verschafft.
Aktuell betätigt sich die VVN als Spaltpilz in dem kargen Rest einer deutschen Friedensbewegung. Klar, dass ihr jeder Teil derselben suspekt ist, der nicht den Kotau vor dem „russischen Angriffskrieg“ verrichtet. Und dass man nicht nur mit AfD’lern nicht reden darf, sondern außerdem auch sonst mit niemandem, dem die woke Blase das Etikett „rechts“ zuschreibt. „Die Tür nach rechts muss zu bleiben“.
In einem Interview in der jungen Welt erklärte der Landessprecher NRW der VVN, man werde nicht länger mit dem Friedensbündnis NRW zusammenarbeiten, weil dieses auch Vertreter der Partei „Die Basis“ zugelassen habe. Die Mitglieder des Bündnisses „grenzen sich nicht nach rechts ab“.
In Wirklichkeit ist „Die Basis“ weitgehend eine Ansammlung von Ex-Grünen und Ex-Linken ‒ jene Teile beider Parteien, die weder den Corona-Wahn noch die Kriegslüsternheit an Seite der NATO erstrebenswert fanden. Die Argumentation, die Landessprecher Mikosch zusammenstellt, lautet: „Die Basis“ ist rechts, Antifaschismus heißt, gegen rechts zu sein, ein Friedensbündnis muss antifaschistisch sein, also sind wir raus.
Darauf gab es einen Leserbrief aus dem Friedensbündnis „Frieden-links“, der zumindest die ursprüngliche Definition einer Friedensbewegung wiedergab: „Das einigende Band der Friedensbewegung ist die Kritik an Militarismus und Krieg. Auf dieser Grundlage bietet sie Raum für Menschen in ihrer je eigenen bunten Vielfalt von Haltungen und/oder Überzeugungen, darunter etwa konservative oder kommunistische, christliche oder atheistische, anarchistische, bürgerlich-liberale, ökologische, pazifistische und viele andere mehr.“ Und fügte hinzu: „Selbstbewusste Linke sollten endlich damit aufhören, ständig aufzuzählen, wer alles nicht zu einer Antikriegskundgebung kommen darf, und in Verfassungsschutzmanier einen Gesinnungs-TÜV zu veranstalten.“
Nun, wir alle wissen, dass die Hauptquelle für die Zuweisung, welche Organisationen und Personen aktuell als „rechts“ zu gelten haben, durch eine Art grünen Parteigeheimdienst erfolgt, dessen Diktum auch die heutige VVN brav befolgt. Und auf diesen Leserbrief erfolgte mitnichten ein Eingeständnis, sondern es wurde noch eins draufgelegt, diesmal gegen die Leserbriefautoren, die Mitglieder des Bundesausschusses Friedensratschlag sind. Alles, sollte man wohl hinzufügen, keine wirklichen Massenorganisationen.
Die Sünde der Leserbriefschreiber bestand darin, dass sie auf einem bundesweiten Treffen einen Infostand der Partei „Die Basis“ zugelassen hätten. „Die Basis ist eine aus den ‚Querdenken‘-Protesten hervorgegangene esoterisch-irrationale Partei, unter deren Mitgliedern Verschwörungserzählungen, antisemitische NS-Relativierungen und antidemokratische Positionen vertreten sind.“
Aber heute würde ja selbst die Geschichte von Hitlers berühmter Rede vor dem Club der Industriellen in Düsseldorf, die den Grundstein für die Machtübergabe an die Nazis legte, als „Verschwörungserzählung“ kategorisiert, vermutlich dann sogar als „antisemitisch“, weil die antideutsche Ideologie grundsätzlich alles mit diesem Etikett versieht, was die politische Einflussnahme reicher Konzernherren betrifft, selbst wenn diese nicht nur garantiert keine Juden, sondern auch noch Profiteure des Holocaust waren, wie die IG Farben.
Nur, um aus dem Hickhack wieder eine kleine Flucht in die Realität anzutreten: Die gegenwärtige Bundesregierung schickt eifrig Waffen in die Ukraine, damit sich in Kiew Nazis an der Macht halten (was die VVN, nebenbei, leugnet), und Mitglieder dieser Bundesregierung beenden mittlerweile Reden mit dem Gruß der ukrainischen Faschisten. Währenddessen machen sich im Rest der Welt Dutzende Länder daran, die neokoloniale Ausbeutung abzuschütteln, weshalb die Mitglieder eben dieser Bundesregierung außerhalb des Westens keine großen Erfolge einfahren. Die USA haben wichtige deutsche Infrastruktur zerstört, die Sanktionspolitik zerstört die wirtschaftliche Grundlage, und mit „Klimapolitik“ und Sparzwang wird gerade massiv die Axt an die Lebensverhältnisse des gemeinen Bürgers gelegt. Der Zustand der demokratischen Rechte ist miserabel, die Medien sind komplett gleichgeschaltet.
Aber das politische Problem sind nicht wirklich die Kriegstreiber, sondern die AfD, die bisher jedenfalls noch keine Panzer gegen Russland geschickt hat, und dann, nach der AfD, jede andere politische Organisation, die nicht das volle woke Programm unterzeichnet. Die Auseinandersetzung zwischen der VVN und dem Friedensratschlag bezieht sich nur auf ein einzelnes Fragment – ob man sich auch gegenüber „Die Basis“ abgrenzen müsse.
Eigentlich könnte man über diese ganze Auseinandersetzung ein Ei schlagen. Einer der Leserbriefe in der JW gibt zumindest teilweise wieder, was eigentlich die Position der VVN sein müsste: „Um Hitler zu verhindern, hätte man zeitweise sogar mit dem etwas sozialeren ‚linken‘ Flügel der NSDAP zusammenarbeiten müssen, der dann nach Hitlers Machtantritt liquidiert wurde, wie KPD und SPD, oder mit bürgerlichen Parteien. Wenn die UdSSR nach Stalingrad sogar auf Generalfeldmarschall Paulus setzte (einem der Hauptverantwortlichen für das Gemetzel), ihm bis an sein Lebensende (dann in der DDR) geradezu luxuriöse Arbeits- und Wohnbedingungen schuf, nur um dem Frieden schneller näherzukommen, dann fällt unserer atomisiert-zersplitterten Linken kein Zacken aus der Krone, sich auch gemeinsam mit Rechten für den Frieden einzusetzen.“
Dazu kann man noch einiges ergänzen. Besagte Zusammenarbeit mit dem „linken“ Flügel fand tatsächlich statt; sie hatte leider die Folge, dass 1934 mit der Liquidierung der SA als politischer Macht auch der illegale Rotfrontkämpferbund aufflog, der eben diese Arbeit begonnen hatte. Und der Umgang mit Paulus war auch von dem Grundsatz geprägt, dass man keinem Menschen die Fähigkeit zur Einsicht absprechen darf, auch wenn sie spät erfolgt.
Wie gesagt, die ganze Debatte, die diese beiden Gruppen sich liefern, könnte man getrost ignorieren. Wenn nicht eine der beiden ausgerechnet das Etikett der VVN für sich beanspruchte, und wenn nicht gerade eine Organisation wie die ursprüngliche VVN das wäre, was dringend vonnöten ist. Die nicht dort Faschisten sucht, wo man keine 150 Geschlechter will oder keine Klimasteuern, sondern dort, wo Politik im Interesse der großen Konzerne getrieben und Krieg gefördert wird, bei jenen, die den Generalangriff auf die Lebensverhältnisse der Arbeitenden vornehmen und gegen jeden vorgehen, der dagegen aufmuckt. Es mag schwierig sein, zu bestimmen, ob die Grenze zu einer faschistischen Macht in Deutschland bereits überschritten ist, aber es ist weit weniger schwierig, zu erkennen, wer diese Entwicklung vorantreibt.
Die Offenheit auch für Konservative, mit der die VVN einmal angetreten ist, war die Konsequenz einer bitteren Niederlage und vielfach einer gemeinsamen Gefangenschaft. Dieses Erbe, das heute so dringend benötigt würde, wurde veruntreut. Es muss einen Weg geben, es zurückzuerobern.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: VVN-Gedenkort an der Friedhofsmauer in Dahlen (Sachsen).
Foto: Ghostwriter123, CC BY-SA 4.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=86834813