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Zwanzig Jahre nach der US-Invasion in den Irak ‒ Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen

Vor zwanzig Jahren überfielen die USA den Irak: der Staat wurde zerschlagen, die Wirtschaft ruiniert, die Gesellschaft fragmentiert und die nationale Kultur liquidiert

von Joachim Guilliard

Erstveröffentlichung am 20.03.2023 auf telepolis.de

In der Nacht zum 20. März 2003 öffneten sich über dem Irak ein zweites Mal nach 1991 die Schleusen der Hölle. Fast 30.000 Bomben und Raketen gingen auf Bagdad, Basra, Mossul und zahlreiche andere irakische Städte nieder und ließen neben irakischen Verteidigungsstellungen auch einen guten Teil der zivilen Infrastruktur in Flammen aufgehen.

„Shock and Awe“ nannten die Eroberer ihr Angriffskonzept, Schrecken und Entsetzen sollten zur schnellen Demoralisierung der Bevölkerung führen. Nach den Zerstörungen im ersten Krieg 1991, infolge der irakischen Invasion in Kuwait, und dem folgenden mörderischen Embargo stand das Land dem Angriff nahezu wehrlos gegenüber. Zehntausende Soldaten und Zivilisten fielen ihnen und den vorrückenden Truppen der „Koalition der Willigen“ schon in den ersten Wochen zum Opfer.

Im Geiste der Konquistadoren

Auch hier folgten Plünderungen und Brandschatzungen öffentlicher und historischer Gebäude der Stadt, Raub und Zerstörung unschätzbarer Kulturgüter. US-Einheiten hatten die Plünderungen eingeleitet, indem sie mit Panzern Türen aufgebrochen und Slumbewohner per Lautsprecher zur Selbstbedienung aufgefordert hatten.

Die anschließenden Brände waren, wie Robert Fisk, der renommierte Reporter des britischen „Independent“ aus Bagdad berichtete, systematisch gelegt worden. Am Ende waren nach seiner Zählung 158 Kultur- und Regierungsgebäude und mit ihm „die Basis einer neuen Regierung und der kulturellen Identität des Iraks“ ausgebrannt. Als einziges Ministerium blieb das von US-Truppen schwer bewachte Ölministerium verschont.

Deutlicher konnte der koloniale Charakter der Eroberung kaum demonstriert werden. Wäre es nur um die Ersetzung eines Regimes gegangen, hätten die Invasoren sich sicherlich bemüht, die für das Funktionieren des irakischen Staates unverzichtbaren Unterlagen, z. B. über das zum Teil jahrhundertealte Bewässerungssystem oder die Akten des Handelsministeriums zu sichern. Die tonangebenden neokonservativen Kräfte in Washington wollten den Weg zurück zu einem unabhängigen, selbstbewussten Irak jedoch gründlich verbauen.

Angriffskrieg toleriert

Die von Washington vor dem Krieg vorgebrachte Begründung einer angeblichen Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen hatte kaum jemand überzeugt. Millionen Menschen gingen weltweit gegen das drohende Unheil auf die Straße. Bald nach der Invasion entlarvten sich die Vorwände für den Feldzug endgültig als pure Propaganda. Wie schon in den Jahren zuvor, hatten die Waffeninspekteure der UNO keine Spuren von atomaren, biologischen oder chemischen Waffen gefunden und auch keine Programme zu ihrer Herstellung.

Doch obwohl es sich somit eindeutig um einen unprovozierten Angriffskrieg handelte, wird er hier im Westen bis heute nicht als Verbrechen behandelt. Die amtierende Bundesregierung antwortete auf eine schriftliche Anfrage der linken Abgeordneten Sevim Dagdelen im Dezember 2022, sie wolle keine rechtliche Bewertung vornehmen, ob die Invasion ‒ die als „Einsatz der „Koalition der Willigen zum Sturz von Saddam Hussein“ verharmlost wird ‒ einen „Bruch des Völkerrechts“ darstelle und als „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ anzusehen sei ‒ trotz eindeutiger Gutachten und Gerichtsurteile.

Auf die Idee, die Aggression mit Wirtschaftssanktionen gegen die Invasoren zu ahnden oder gar die irakischen Verteidiger mit Waffen zu unterstützen, kam damals niemand.

Eine Reihe von NATO-Mitglieder kritisierte im Vorfeld die vorgebrachten Kriegsgründe als nicht überzeugend und verweigerten den USA die Gefolgschaft, darunter auch Deutschland. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erntete für seine klare Opposition gegen den Krieg zu Hause und international viel Beifall, während die Oppositionsführerin Angela Merkel die Verweigerung einer Beteiligung scharf verurteilte.

Ihre Kritik war voreilig, denn in der Praxis unterstützte Deutschland den Feldzug der USA auf vielfältige Weise. So erhielten sie ungehinderte Überflugs- und Transitrechte und konnten ihre Militärstützpunkte hier für ihre Logistik nutzen. 7.000 Bundeswehrsoldaten standen vor den US-Kasernen Wache, um US-Soldaten für den Irakeinsatz freizumachen. Und deutsche Besatzungsmitglieder flogen weiterhin auch in den AWACS-Aufklärungsflugzeugen der NATO mit, die von der Türkei aus, den irakischen Luftraum ausspähten.

Nach Abschluss der Invasion vergaß die Schröder-Regierung ihr Urteil über den Krieg und unterstützte, wie alle zuvor kriegskritischen NATO-Staaten, die folgende Besatzung des Landes und den Kampf der Besatzungsmächte gegen den rasch wachsenden Widerstand.

Der „ultimative Preis“

Offiziell sollte die Besatzung Wiederaufbau, Stabilisierung und Demokratisierung bringen, mit den wahren Zielen der damaligen US-Regierung hatte dies jedoch wenig zu tun. Zum einen sollte, wie der langjährige Chef der US-amerikanischen Zentralbank Alan Greenspan in seinen Memoiren freimütig zugab, der Sturz des unbotmäßigen Baath-Regimes den direkten Zugriff aufs irakische Öl ermöglichen.

Neben den irakischen Ressourcen, damals die zweitgrößten nachgewiesenen Reserven der Welt, hatten die Washingtoner Strategen auch die der gesamten Region im Visier. Wenn es darum gehe, so der damalige Vizepräsident Dick Cheney, die steigende Nachfrage nach Erdöl zu befriedigen, sei der „Mittlere Osten, mit zwei Dritteln der Ölreserven der Welt und den niedrigsten Kosten, nach wie vor der Ort, an dem der ultimative Preis liegt“.

Zentrales Ziel war, den Irak nie wieder als starker, eigenständiger, sich an nationalen Interessen orientierendem Staat auferstehen zu lassen. Aus den Ruinen des alten sollte vielmehr ein schwacher Staat entstehen, ein neoliberales Modell, das westlichem, vorzugsweise US-amerikanischem Kapital vollen Zugriff auf die heimische Wirtschaft und Ressourcen gewährt.

„Freie Märkte und freier Handel sind Schlüsselprioritäten unserer nationalen Sicherheitsstrategie“, heißt es dazu in der als Bush-Doktrin bekannt gewordenen „National Security Strategy“ (NSS) von 2002, die stark geprägt ist, von den Vorstellungen des Project for the New American Century (PNAC).

Aus diesem Sammelbecken der neokonservativen Rechten kamen damals die tonangebenden Mitglieder der Bush-Regierung, allen voran Vizepräsident Dick Cheney, Pentagonchef Donald Rumsfeld und sein Stellvertreter Paul Wolfowitz. Ihr zentrales Ziel war es, die beherrschende Stellung der USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dauerhaft zu sichern und mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine neue Macht oder Allianz von Mächten diese Vormachtstellung in einer wichtigen Region gefährden könnte.

Nach den ursprünglichen vorgenommenen Planungen, unter Federführung des nicht zu den Neokonservativen zählenden damaligen Außenministers Colin Powell, sollten die staatlichen Strukturen weitgehend intakt gelassen und durch rasche Wiederherstellung der Infrastruktur, Beschäftigungsprogramme und rasche Wahlen eine schnelle Stabilisierung erreicht werden.

Auf Druck der neokonservativen Falken wurde jedoch mit Paul Bremer ein Statthalter eingesetzt, der sofort begann, ihre radikalen Pläne umzusetzen. Allen Warnungen zum Trotz wurden nun Armee und Polizei ersatzlos aufgelöst. Da die Besatzungsmächte weder Willens noch von ihrer Truppenstärke in der Lage waren, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, war deren Zusammenbruch vorprogrammiert.

Im Rahmen einer Säuberungswelle gegen die bisherige Regierungspartei, die Baath, wurde auch ein großer Teil der Angestellten in der Verwaltung des Staates und der staatlichen Unternehmen entfernt. Aus dem Amt gejagt wurden dabei nicht nur die aktiven Kader unter den 1,5 Millionen Mitgliedern der Partei, sondern auch viele einfache Mitglieder. Da für viele Positionen eine Mitgliedschaft meist obligatorisch gewesen war, verlor das Land einen Großteil ihrer erfahrenen Führungsschicht und Fachkräfte.

Viel Staat war vonseiten der Eroberer beim Neuaufbau des Landes nicht mehr vorgesehen. Dem militärischen „Shock and Awe“ folgte die wirtschaftliche, neoliberale Schocktherapie. Man begann sofort, den Großteil dessen, was zuvor staatlich organisiert war – von der Wasserversorgung bis zum Bildungs- und Gesundheitswesen – in die Hände von Großkonzernen zu legen ‒ vorzugsweise in die Hände jener Firmen, die personell eng mit der US-Administration verbunden waren.

So ging z. B. das Management der landwirtschaftlichen Bewässerung sofort in die Hände der Bechtel Group über. Das Land würde als „leere Tafel betrachtet“, schrieb Naomi Klein im Jahr 2003, „auf der die ideologischen Verfechter des Neoliberalismus in Washington ihre Traumwirtschaft planen können: vollkommen privatisiert, im Besitz ausländischer Unternehmen und offen für den Handel.“

Auf einen Schlag wurden alle bisherigen Investitionsgesetze außer Kraft gesetzt und die gesamte Wirtschaft des Landes, mit Ausnahme des Rohstoffsektors, vollständig für ausländische Unternehmen geöffnet. Subventionen in Nahrung, Gesundheit und Bildung wurden auf Druck von IWF und Weltbank drastisch gesenkt, Zölle weitgehend aufgehoben und die durch zwölf Jahre Embargo stark geschädigten Firmen und Bauern schutzlos der internationalen Konkurrenz ausgeliefert. Für die meisten bedeutete dies der Ruin, die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 70 Prozent.

Bis 2008 hatten nach Einschätzung des damaligen Vorsitzenden der irakischen „Gewerkschaft der Industrien“, rund 36.000 kleine und mittlere Unternehmen, etwa 90 Prozent der Firmen des Landes, dichtmachen müssen.

Beim Neuaufbau von Polizei, Armee und Verwaltung setzten die USA auf ihre Verbündeten, die beiden kurdischen Parteien PUK und KDP und aus dem Exil zurückkehrende Kräfte, insbesondere – trotz ihrer Nähe zum iranischen Regime ‒ auf die radikal-schiitischen Organisationen SCIRI und DAWA.

Alle Ämter und Posten wurden nun unter Anhängern dieser Parteien vergeben, nach Maßgabe eines ethnisch-konfessionellen Proporz, den man bis dahin im Irak nicht kannte. Die zugeteilten Ministerien und sonstigen Ämter wurden als Pfründe der jeweiligen Parteien behandelt. Korruption, Klientelwirtschaft, ethnische und konfessionelle Spannungen beherrschen seither das politische System.

„Salvador Option“

Die Verwüstungen durch den Krieg und die rücksichtslose Politik der Besatzer, die mit Massenentlassungen und Wegfall staatlicher Unterstützung einherging, hatte für weite Teile der Bevölkerung eine dramatische Verschlechterung der Lebensverhältnisse zur Folge und schufen so das Potenzial für einen breiten, rasch wachsenden Widerstand gegen die Besatzung.

Dieser reichte von einer starken zivilen Opposition, getragen von Gewerkschaften, Parteien, Frauen-, Studenten-, Arbeitslosenorganisationen etc., die sich u. a. dem Ausverkauf des Landes widersetzten, bis zu einem breiten Spektrum bewaffneter Gruppen, die ihre Kämpfer zu einem guten Teil aus den Hunderttausenden entlassenen früheren Angehörigen von Armee und Polizei rekrutieren konnten.

Die dschihadistischen Gruppen, die statt für die nationale Unabhängigkeit für die Errichtung eines islamischen Gottesstaates kämpften und Terroranschläge gegen Andersgläubige verübten, galten im Irak nicht als Teil dieses nationalen Widerstands.

Wie BBC und Guardian später in einer detaillierten Dokumentation enthüllten, bauten die USA ab 2004 unter Leitung von US-General David Petraeus, dem späteren Oberkommandierenden in Irak und Afghanistan, irakische „Spezialpolizeikommandos“, Todesschwadronen und ein Netz von geheimen Kerkern auf.

Ausgangspunkt der gründlichen Recherchen von BBC und Guardian, deren Ergebnisse sie zum 10. Jahrestages Krieges veröffentlichten, waren die Irakkriegs-Protokolle der US-Armee, die Chelsea Manning der Enthüllungsplattform Wikileaks zugespielt hatte.

Bekannt, wenn auch nicht so im Detail, war das Programm schon lange. Über entsprechende Pläne des Pentagons hatte der renommierte investigative Journalist Seymour Hersh bereits im Dezember 2003 berichtet. Wenige Monate später enthüllte er mit den Folterexzessen von Abu Ghraib dessen ersten Auswüchse und warnte die Welt davor, dass die Besatzer den Irak in einen Bürgerkrieg treiben würde.

Laut Newsweek vom Januar 2005 liefen die Pentagonpläne intern unter der Bezeichnung „Salvador Option“ – in Anknüpfung an die erfolgreiche Anwendung von staatlichem Terror, Folter und Mord gegen oppositionelle Kräfte in Mittelamerika.

Erste Details über den Aufbau und den Einsatz einiger von „US-Beratern“ angeleiteten Spezialpolizeikommandos lieferte Peter Maass von der New York Times schon im Mai 2005. Demnach rekrutierten, trainierten und finanzierten die USA mindestens 27 dieser berüchtigten paramilitärischen Verbände.

Einbezogen in sie wurden auch zahlreiche Angehörige der berüchtigten schiitischen Milizen, wie die vom Iran aufgebauten Badr-Brigaden des radikal-schiitischen „Obersten Islamischen Rats im Irak“ (SIIC). Diese Kämpfer blieben weiter loyal zu den Führungen ihrer Milizen, konnten nun aber mit US-Unterstützung die Jagd auf sunnitische und säkulare Gegner sowie deren Angehörige aufnehmen.

Zusammen entfesselten sie so einen schmutzigen Krieg gegen die gesamte Bevölkerung in den überwiegend sunnitischen Zentren des Widerstands: „Die sunnitische Bevölkerung zahlt für die Unterstützung der Terroristen keinen Preis“, zitierte 2005 Newsweek einen Offizier aus dem Pentagon. „Aus ihrer Sicht ist das kostenlos. Wir müssen diese Gleichung ändern.“

In der Folge nahm die Zahl der Attentate, Entführungen und Exekutionen massiv zu. Allein das Bagdader Leichenschauhaus registrierte ab Mai 2005, dem Amtsantritt der ersten irakischen Regierung unter US-Besatzung, acht- bis elfhundert Ermordete im Monat.

Der brutale Krieg der Besatzungstruppen gegen den Widerstand in sunnitischen Gebieten, der 2004 in zwei verheerenden Angriffen auf die Großstadt Falludscha gipfelte, und das Wüten von Spezialkommandos und schiitischen Milizen gab auf der anderen Seite auch sunnitischen Extremisten Auftrieb.

Zuvor mehrheitlich sunnitische Stadtteile Bagdads waren auf nächtlichen Satellitenaufnahmen nun deutlich als dunkle, fast lichtlose Flecken erkennbar. Im Westen war nur nach den Enthüllungen über Abu Ghraib kurz Empörung über die Besatzungspolitik aufgeblitzt. Ihr weiteres Wüten weitgehend kritiklos als Kampf gegen Terrorbanden akzeptiert und die Gewalteskalation allein dem Fanatismus der Iraker zugeschrieben.

„Kulturelle Säuberung“

Opfer von Mord und Vertreibung wurden auch die intellektuellen Eliten des Landes. Tausende Ärzte, Wissenschaftler, Fachleute und Künstler wurden von Todesschwadronen ermordet, verschwanden in Kerkern oder wurden zur Flucht ins Ausland gezwungen.

Die mit dem Plündern und Brandschatzen von Ministerien, Museen und Bibliotheken begonnene Zerstörung des kulturellen und gesellschaftlichen Erbes und Identität des Landes, die das Wiedererstarken einer eigenständigen Nation langfristig verhindern soll, wurde somit durch die Ausschaltung der intellektuellen Eliten fortgesetzt.

Die Autoren eines von den US-amerikanischen und kanadischen Politologen Raymond Baker, Shereen Ismael und Tareq Ismael Juni 2009 herausgegebenen Sammelbandes klagen dies als „kulturelle Säuberung“ an.

Ziel war die „Formbarkeit“ der irakischen Gesellschaft durch Beseitigung des Teils der Intelligenz, den eine so komplexe Gesellschaft für ihren Zusammenhalt benötigt, so der Amtsvorgänger Hans von Sponecks im Irak, Dennis Halliday, wie auch die Zerstörung der „zeitlosen und ineinander verwobenen Kultur“ – beides „entscheidend für die Anerkennung der einheitlichen Identität“ des Landes und des „hart erarbeiteten Nationalbewusstseins durch die verschiedenen Völker des Irak“.

Verheerende Bilanz

Ende 2011 mussten die US-amerikanischen Truppen den Irak verlassen. Mit ihren ehrgeizigen Plänen war die Bush-Administration weitgehend gescheitert, die Ausschaltung des Landes als Regionalmacht hatte sie jedoch durch seine Verwüstung und Wandlung in einen „failed state“ für lange Zeit gesichert. Die von den Besatzern geschaffenen Konflikte wirken fort und ihre repressive, diskriminierende Politik wurde unter den folgenden irakischen Regierungen fortgesetzt.

Die Bilanz von acht Jahren Krieg und Besatzung war verheerend: mehr als eine Million Tote, über vier Millionen Vertriebene und fast fünf Millionen Waisen. Sieben Millionen Iraker, ein Viertel der Bevölkerung, wurden in die absolute Armut gestürzt, zwei Millionen Kinder waren 2011 unterernährt, dreieinhalb Millionen Menschen ohne nennenswerte Gesundheitsversorgung.

Auch nach acht Jahren war von „Wiederaufbau“ nicht viel zu sehen. Über 200 Milliarden US-Dollar sind dafür in die Taschen westlicher Konzerne geflossen, doch die Versorgung blieb katastrophal, Gesundheits- und Bildungswesen lagen noch am Boden.

Der Krieg gegen den „Islamischen Staat“

Die elenden sozialen Verhältnisse, die Zerrissenheit der irakischen Gesellschaft, deren Jugend nur ein Leben unter Krieg, Embargo und Besatzung kannte, die Diskriminierung und Repression gegenüber der sunnitischen Bevölkerung durch das schiitisch dominierte Regime, ebnete 2014 den Weg für die Ausbreitung des „Islamischen Staates“ (ISIL oder arabisch despektierlich: Daesh).

Die gesellschaftlichen Ursachen hinter seinem durchschlagenden Erfolg interessierten die USA und ihre NATO-Verbündeten nicht, die erneut begannen, einen rücksichtslosen Krieg gegen irakische Städte zu führen, in denen er sich festgesetzt hatte. Dieser Feldzug richtete sich nicht nur gegen die Terrororganisation, sondern zwangsläufig auch gegen die dort lebende Bevölkerung, die sie teilweise anfänglich als Unterstützer gegen die Gewalt schiitischer Milizen und Regierungstruppen willkommen geheißen hatte und nun zwischen den Stühlen saß.

Zu keinem Zeitpunkt wurde eine Alternative zu einem brutalen Krieg auch nur überlegt. An Vorschlägen, wie man die Dschihadisten über eine Verständigung mit sunnitischen Stadträten, Stämmen und Organisationen über berechtigte Forderungen und Garantien isolieren könnte, mangelte es nicht.

Stattdessen legten die US-geführte Allianz im Zuge der Rückeroberung der vom Daesh kontrollierten Gebiete eine Stadt nach der anderen in Trümmer, am Ende, nach neunmonatigem Beschuss auch die historische Altstadt von Mossul.

Der damalige US-Präsident Trump hatte das „Einkreisen und Auslöschen“ der Dschihadisten als Taktik angeordnet. Um die Rückkehr ausländischer Mitglieder der Terrortruppe in ihre Herkunftsländer zu verhindern, sollten alle nach Möglichkeit vor Ort getötet werden. Im Bemühen, keinen feindlichen Kämpfer Mossul lebend verlassen zu lassen, wurde der von den Angreifern hermetisch abgeriegelte westliche Teil der Metropole, in dem sich diese unter mehr als 700.000 verbliebenen Anwohnern verschanzt hatten, zum großen Teil zerstört.

Die neunmonatige Offensive der beteiligten NATO-Streitkräfte aus der Luft und hunderttausend irakischen Soldaten und Milizionären am Boden gegen rund 8.000 Dschihadisten gilt als einer der verheerendsten urbanen Kämpfe in der modernen Geschichte.

Nach einer repräsentativen Studie über Todesfälle und -ursachen während des Angriffs, die in der renommierten Fachzeitschrift PLOS Medicine veröffentlicht wurde, könnten dabei rund 90.000 Menschen getötet worden sein, 33.000 davon Frauen und Mädchen, die meisten durch Luftangriffe.

Da zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen unternommen worden waren, einen derart apokalyptischen Endkampf zu vermeiden, handelt es sich bei dieser Offensive zweifelsohne, wie auch Amnesty International in ihrem Bericht „Um jeden Preis: Die zivile Katastrophe in West-Mossul„, feststellte, um ein schweres Kriegsverbrechen, um einen fürchterlichen Massenmord.

Die westliche Öffentlichkeit sah auch über dieses Menschheitsverbrechen einfach hinweg, die PLOS-Studie wurde in kaum einem westlichen Medium erwähnt.

Für eine ähnlich gründliche Analyse der Opfer in der Zeit danach, fehlen die Daten. Die Zahl der direkt durch Kriegshandlungen Getöteten hat sich den Untersuchungen des „Costs of War“-Projektes an der Boston University bis 2021 zufolge noch einmal fast verdoppelt.

Um die gesamten humanitären Kosten des Krieges und seiner Folgen zu erfassen, müssen zudem noch die Auswirkungen auf die Region berücksichtigt werden, insbesondere auf Syrien. Schließlich wurde im Irak die Basis für die Ausbreitung des „Islamischen Staates“ und des Al-Qaida-Ablegers „Al Nusra Front“ im Nachbarland geschaffen.

Und nicht vergessen werden darf das Schicksal der Millionen Menschen, die vor Krieg, Zerstörung, sektiererischer Gewalt, Repression und drastisch verschlechterten Lebensverhältnissen fliehen mussten.

Mit den Bomben auf Bagdad am 20. März 2003 leiteten die USA offensichtlich das bisher schwerste und folgenreichste Verbrechen dieses Jahrhunderts ein. Ein Menschheitsverbrechen, für das noch niemand zur Rechenschaft gezogen wurde und das man im Westen zu verschleiern, zu vergessen und zu begraben sucht.

Joachim Guilliard koordiniert das „Friedensbündnis Heidelberg“ und ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Wir danken telepolis.de für das Recht der Veröffentlichung des Beitrages.

Link zur Erstveröffentlichung: https://www.telepolis.de/features/Zwanzig-Jahre-nach-der-US-Invasion-in-den-Irak-Erinnerung-an-ein-Menschheitsverbrechen-7550655.html


Bild oben: Verwüstungen nach der Schlacht um Mossul (Irak)
Foto: H. Mourdock, Public domain
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70880874