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Leopoldina-Gutachten. Das angekündigte Opfer

Erstveröffentlichung am 17.04.2020 in der Rubrik STANDPUNKTE auf KenFM

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STANDPUNKTE • Leopoldina-Gutachten. Das angekündigte Opfer

Ein Standpunkt von Dagmar Henn.

Der Merkelsche Propagandaapparat funktioniert noch. Nachdem sie im März von der bayrischen Staatsregierung wider Willen zum Handeln gezwungen wurde, hat die Berliner Politdarstellertruppe nun zum Gegenschlag ausgeholt und dem Volk die Seele massiert, um unauffällig auf die Opferung größerer Personengruppen vorzubereiten.

Der erste Teil des Schachzugs war das sogenannte ‚Leopoldina‘-Gutachten (1). Angeblich eine seit 1652 bestehende Nationalakademie der Wissenschaften, von der seltsamerweise die Meisten nie gehört haben dürften. Nun, kein Wunder; es handelt sich um einen Verein, dem die Ministerin Schavan vor einigen Jahren den Titel Nationalakademie verlieh, und der, um diesen Titel zu rechtfertigen, ein wenig öffentliche Mittel erhält. Die dürften aber nur einen Bruchteil der tatsächlichen Finanzierung ausmachen; die größeren Brocken stammen wahrscheinlich von den üblichen Verdächtigen, wie Bertelsmann, Bosch oder gar Soros, vermittelt über den zweiten Verein, den Freundeskreis der Leopoldina.

Dessen Webseite (2) pünktlich zur Veröffentlichung dieses Gutachtens im digitalen Nirwana entschwunden ist…Aufgefallen ist diese ‚Nationalakademie‘ bisher nur durch ein anderes Gutachten, in dem sie die Schließung hunderter Kliniken empfahl (3), ganz auf der Linie einer ähnlichen Studie (4) von Bertelsmann. Man kann sie also getrost, trotz des pompösen Titels, in die Reihe der neoliberalen Denkfabriken stellen, die willig die Untermalung zur Durchsetzung von Kapitalinteressen liefern. Entsprechend liest sich auch das Gutachten, dessen Bösartigkeit vor allem an einer Stelle deutlich wird: „Die in der Krise getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen müssen sobald wie möglich zugunsten eines nachhaltigen Wirtschaftens im Rahmen einer freiheitlichen Marktordnung rückgeführt oder angepasst werden. Dazu gehören der Rückzug des Staates aus Unternehmen, sofern krisenbedingt Beteiligungen stattfanden, und der Abbau der Staatsverschuldung. An der Schuldenbremse ist im Rahmen ihres derzeit geltenden Regelwerkes festzuhalten.“

An der Schuldenbremse ist festzuhalten – das muss man für Normalsterbliche erst übersetzen. Das heißt, dass auf die Belastungen, die im Moment etwa das noch vorhandene Resthandwerk ebenso wie die Kommunen treffen, keine Belebung durch Investitionsprogramme folgen wird, weil dank aufrechterhaltener Schuldenbremse dafür kein Geld da ist. Dabei müsste man, um die lokalen kleineren Strukturen zu erhalten, nicht nur die Schuldenbremse aussetzen, sondern gleichzeitig die Vergaberichtlinien, die europaweite Ausschreibungen vorgeben – es wäre nötig, dass jede Kommune die vor Ort vorhandenen Handwerksbetriebe und kleinen Unternehmen stützen kann; anders als lokal kann das nämlich gar nicht funktionieren. Da aber auch die Steuereinnahmen der Kommunen einbrechen (5), die ohnehin schon oft am Rande der Pleite standen, ist ohne Schuldenaufnahme oder Zuweisung von Landes- oder Bundesmitteln da gar nichts möglich…

Das Leopoldina-Papier zeigt, dass die Merkel-Regierung im Inland ebenso unverrückbar an der neoliberalen Strategie festhält wie auf europäischer Ebene. In beiden Fällen ist das eine Garantie für die Katastrophe. Statt die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und zur Wiederankurbelung der Ökonomie die auf Verschleiß gefahrene öffentliche Infrastruktur zu erneuern, wird das Verschleißprogramm fortgesetzt und nur im Interesse der Exportindustrie regiert. Bleibt nur zu hoffen, dass Merkel irgendwann persönlich so etwas wie einen Wasserrohrbruch in ihrer Wohnung erleidet und feststellt, dass es doch gut ist, wenn es in der Umgebung noch Klempner gibt, weil die polnischen für die Reparatur ihres Rohrs keine 14 Tage Quarantäne in Kauf nehmen werden.

Aber zurück zu unserer Propagandaoffensive. Bezogen auf den Umgang mit dem Virus bedeutet dieses Papier eine Rückkehr zur Fantasie der Herdenimmunität, mitnichten eine Umsetzung der mit Hammer und Tanz (6) beschriebenen Strategie. Sprich, statt die Verbreitung so weit wie möglich zu unterbinden, soll dem Virus schrittweise freier Lauf gelassen werden, wobei die ‚Riskogruppen‘ besonders geschützt werden sollen. Eine ganze Reihe neuester Ergebnisse, die natürlich noch gar nicht bestätigt sein können, sät ernste Zweifel daran, ob überhaupt eine Immunität zu erreichen ist.

So wurden einerseits bereits geheilte Patienten wieder positiv getestet, andererseits fanden sich bei ersten Untersuchungen auf Antikörper bei einem Teil der ehemaligen Patienten gar keine; gegen die nahen Verwandten dieses Virus gibt es keine dauerhafte Immunität, sondern nur eine kurzfristige; der Virus kann nicht nur die Lunge, sondern auch Leber, Herz und Hirn infizieren, und es gibt erste Hinweise auf dauerhafte Schädigungen selbst bei Patienten, die nicht die schwere Form der Erkrankung durchmachen mussten.

Selbst wenn all diese Erkenntnisse aufgrund der kurzen Zeit, in der die Menschheit Kontakt mit diesem Virus hatte, noch nicht bestätigt sind, ist das doch ein ziemlich dickes Bündel, bei dem alle Teile in eine Richtung weisen: die klügste Strategie wäre es gewesen, die Ausbreitung so gründlich wie möglich zu unterbinden; die noch mögliche Strategie ist Hammer und Tanz; die Idee der Herdenimmunität ist allerdings eher eine Art Selbstmordpakt. (Als kleine Fußnote am Rande – Prof. Clemens Wendtner vom Münchner Tropeninstitut, der gerade eine wirklich repräsentative Studie zur Infektionsrate in München durchführt und einer der Berater der bayrischen Staatsregierung ist, war bei diesem Papier der Leopoldina, im Gegensatz zu früheren zum Thema Corona, nicht mehr Teil der Arbeitsgruppe).

Apropos Selbstmordpakt – begleitend zu dem Leopoldina-Papier erschien ein Aufruf in der BILD (7), in dem diverse hochbetagte Reiche und Superreiche erklärten, sie seien gerne bereit, sich selbst zu schützen, wenn denn nur die Wirtschaft wieder in Gang kommen dürfe. “Eine Lockerung der Maßnahmen scheint möglich, wenn die Ansteckungsrate deutlich unter eins fällt und die Zahl der Neuinfektionen erkennbar zu sinken beginnt. Um diesen Prozess zu unterstützen, schlagen wir vor: Alle Risikogruppen sollen sich dann weiterhin freiwillig an die jetzt geltenden Auflagen halten und sich so selbst schützen.”

Gut, für die Unterzeichner dieses Aufrufs, die wohl für die Firmen Siemens, Bertelsmann, Springer, SAP, BASF, Daimler, Bosch sprechen, und unter denen sich auch der Kammerjäger Wolfgang Clement findet, hält sich das persönliche Risiko eher in engen Grenzen. Frau Springer dürfte höchstens den Sozialkontakt zum Hauspersonal reduzieren und das Dienstmädchen anweisen, einen Mundschutz zu tragen, wenn es ihr im Garten der Villa den Tee serviert. Otto Schily, noch so ein Sympathieträger, formuliert das so:

„Der Frühjahrsaufenthalt in der Toskana und das Osterfest mit den Enkeln fallen in diesem Jahr aus, ebenso wie einstweilen berufliche Aktivitäten außerhalb der Wohnung. Wenn das dazu beiträgt, die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen und damit den raschen Restart der deutschen Wirtschaft zu ermöglichen, leisten wir diesen Verzicht gern.“

Dumm nur, dass in der Risikogruppe auch der frühpensionierte Bergmann mit Staublunge oder die ehemalige Krankenschwester mit Hepatitis C ist; dass der größte Teil der ALG-II-Beziehenden über 50 ebenfalls dazugehören dürfte, mal abgesehen von Menschen mit Behinderungen und all jenen, deren Immunsystem aus dem einen oder anderen Grund geschwächt ist. Wir werden sehen, wie die Jobcenter reagieren, wenn ihre ‚Kunden‘ ihnen erklären, sie würden jetzt gerne diesen Verzicht leisten.

Vernünftige Schätzungen besagen, dass nur etwa 60% der Bevölkerung nicht Teil dieser Risikogruppe sind. Der BILD-Aufruf tut so, als ginge es hier nur um ein paar Hochbetagte, und es sprechen jene, die es sich mühelos leisten können, mal freiwillig daheim zu bleiben, weil ja sowieso die Haushälterin einkauft und noch zwanzig Bücher ungelesen in der Bibliothek liegen.

Die Armen dieser Gesellschaft allerdings verlieren so oder so. Sie verlieren ihr Einkommen, wenn die Jobs wegbrechen, sie verlieren ihr Leben, wenn die Einschränkungen zu früh aufgehoben werden. Denn, da kann man witzigerweise mit einem anderen Papier der Leopoldina (8) erwidern. „Zu den Krankheiten, die bei Personen mit niedrigem sozialen Status häufiger auftreten als bei Personen mit mittlerem und hohem sozialen Status, zählen Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus, Atemwegserkrankungen wie chronische Bronchitis oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung, muskuloskeletale Erkrankungen wie Arthrose oder Osteoporose sowie Krebserkrankungen wie Lungen-, Magen- oder Darmkrebs.“ Ja, häufiger und früher. Das Papier spricht von der „erhöhten Frühsterblichkeit von Mitgliedern niedrigerer sozialer Schichten”. Übersetzt heisst das, fast jeder dritte arme Mann stirbt, ehe er das Rentenalter überhaupt erreicht. So sieht die Wirklichkeit aus. In den USA sterben gerade weit mehr Schwarze als Weiße (9) an COVID-19 und in jüngerem Alter; also ein belegbarer Unterschied zwischen Arm und Reich.

Das sind dann, nebenbei, die selben Menschen, die im Alter, so sie es erreichen, noch weiter arbeiten müssen, weil die Rente zu niedrig ist, und die auf Tafeln angewiesen sind, um sich ernähren zu können. Doppelt gefickt, könnte man sagen, denn in beiden Versionen, einer Fortsetzung der Einschränkungen in Richtung Hammer und Tanz wie auch einer tollkühnen Herdenimmunisierungsstrategie, sind sie es, die die Rechnung zahlen müssen. Durch Mangel, Erkrankung und dann, dank Aufrechterhaltung der Schuldenbremse, durch erneuten Mangel.

Wollen wir wetten, dass die Regierung Merkel das, was sie als Förderung an die Konzerne verteilt hat, hinterher (so es ein solches gibt) durch Sozialkürzungen wieder hereinholen will, denn schließlich müssen wir alle Opfer bringen? Dass Ähnliches dank der fehlenden Mittel auch in den Kommunen und den Ländern geschehen wird?

Dieser Aufruf jedenfalls, wie auch die sich ankündigende Lockerung durch die Bundesregierung, spielt wieder nur einen Teil der Besitzlosen gegen den anderen aus. Nein, wir müssen nicht den frühpensionieren Bergmann über die Klinge springen lassen, um das Leben der Kellnerin in Kurzarbeit zu sichern. Die Frage ist schlicht, ob die gesellschaftlichen Ressourcen im Interesse der Menschen eingesetzt werden oder im Interesse der kleinen radikalen Minderheit der Superreichen. Es ist möglich, auch eine oder mehrere längere Phasen eines Lockdown durchzustehen, wenn tatsächlich die Lebensgrundlage für alle geboten und durch vernünftige Planung die Versorgung mit allem Notwendigen gesichert wird. Das allerdings wird nichts mit ‚freiheitlicher Marktordnung‘. Die kann nichts anderes, als die Armen für die Reichen zu opfern.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Quellen:

  1. https://www.leopoldina.org/presse-1/nachrichten/ad-hoc-stellungnahme-coronavirus-pandemie/
  2. http://www.freundeskreis-leopoldina.de/
  3. https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/medizin-wissenschaftler-halten-1300-kliniken-fuer-ueberfluessig-1.3221646
  4. https://kenfm.de/tagesdosis-20-7-2019-die-luege-die-infame-luege-und-bertelsmann/
  5. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/coronavirus-steuereinnahmen-kommunen-defizite-1.4875007
  6. https://medium.com/tomas-pueyo/coronavirus-der-hammer-und-der-tanz-abf9015cb2af
  7. https://www.bild.de/politik/inland/news/corona-krise-28-prominente-ueber-70-fordern-aeltere-sollten-zu-hause-bleiben-69992468.bild.html
  8. https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/gesundheitliche-ungleichheit-im-lebensverlauf-2019/
  9. https://www.washingtonpost.com/nation/2020/04/07/coronavirus-is-infecting-killing-black-americans-an-alarmingly-high-rate-post-analysis-shows/?arc404=true

Bild: Blick auf das Leopoldina-Hauptgebäude (Logenhaus Zu den drei Degen) in Halle (Saale)
Quelle: Von Rotesdiadem – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78004219