Gedanken zur Madonna mit Kind
Von Stefan Siegert
Der Metzgersohn Filippo Lippi (um 1406 – 1469) ist neben den anderen Riesen der Renaissance, neben Leonardo, Rafaelo, Tiziano, Michelangelo leicht in den Hintergrund geraten. Unverdient. Er gehört, wenn auch als einer der älteren, zu den ganz Großen der Renaissancemalerei. Wie irdisch, ja wie erotisch das freigelassene rechte Ohr der Madonna. Die Doppelfigur der Madonna mit Kind ist fast grell aus dem Dunkel des Muscheldekors hervorgehoben. Innerhalb beider Figuren überwiegt – zulasten der Plastizität – das Licht die Schatten, der Kontur kommt zum Zug. Aber die deutliche Linie, die beider Köpfe auseinanderhalten soll, trennt nicht. Sie ist Chiffre für ein Zusammengehören. Die kleine linke Hand des Kindes hält sich im Rückentuch der jungen Frau fest, deren Rechte das Kind zugleich trägt und liebkost. Sie ist das Lieblingsmodell des Malers, Lippis Lebensgefährtin (darum das Ohr). Man könnte, noch als Agnostiker, religiös werden angesichts solcher Kunst. Sie enthält – neben ihrer ästhetischen Vollkommenheit – Form gewordene Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit, Einssein, mithin edelste Menschlichkeit und ergo alles, was haltlose Menschen, so scheint es, der Menschheit zurzeit austreiben und in Vergessenheit geraten lassen wollen. Fra Filippos Arbeit sagt uns noch 600 Jahre später, dass – wie der Kuckuck im Volkslied -, was er da gemalt hat, langlebiger ist als alles, was die Botschaft eines solchen Bildes mit aller Gewalt vernichten will.
Stefan Siegert ist Autor mit Schwerpunkt Musik und politisches Feuilleton

Bild oben: Madonna mit Kind, 1450 (Auszug)
Gemälde von Fra Filippo Lippi, Gemeinfrei
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15462674
