Arbeit & Soziales

Annalena und die verdrängte Wahrheit über Rot-Grün

Es gibt ein Phänomen des menschlichen Geistes, das immer dann zum Zug kommt, wenn man schmerzliche oder zumindest unangenehme Informationen nicht wahrnehmen will: Es nennt sich Verdrängung. Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock lieferte dafür gerade ein Lehrbuchbeispiel.

von Dagmar Henn

Erstveröffentlichung am 03.09.2021 auf RT DE

Sich über die Kanzlerkandidatin der Grünen Annalena Baerbock lustig zu machen, erfordert nicht viel Mühe. Schließlich reichen Aufnahmen ihrer zahlreichen Versprecher oder Lebensläufe. Manchmal allerdings sagt sie Dinge, die nicht schlicht mit einem überforderten Verstand erklärt werden können. Wie jetzt wieder.

Baerbock redet über den Pflegenotstand und erklärt dessen Ursache: „Die liegt zurück in den Neunzigerjahren, wo es damals von der schwarz-gelben Bundesregierung deutlich gemacht worden ist, Ende der Neunziger, Anfang der 2000er, wir streichen jetzt vor allen Dingen das, was aus meiner Sicht das Rückgrat der Gesellschaft ist, in den sozialen Bereichen, weil wir immer stärker auf Kapitalisierung und auf Gewinne und Profite gehen.“

Das Mädel ist zu jung, um sich an Gerhard Schröder und Joschka Fischer zu erinnern? Moment, Baerbock ist Jahrgang 1980. Sie war knapp noch nicht wahlberechtigt, als Schröder 1998 zum Bundeskanzler wurde. Aber da sie laut Wikipedia schon davor auf Anti-Atom-Demonstrationen unterwegs war, im Jahr 2000 Abitur machte und danach ausgerechnet Politikwissenschaft studierte, sollte man davon ausgehen, dass sie gelegentlich auch eine Tageszeitung in die Hand nahm und im Grunde wissen müsste, was diese Regierung so alles getrieben hat.

Die Heldentaten der rot-grünen Koalition unter Schröder muss man sich dringend in Erinnerung rufen, weil sie einen Vorgeschmack auf das geben, was eine Kombination Scholz/Baerbock bedeuten dürfte.

Fangen wir an mit dem, was die meisten Leser ohnehin wissen – der Bombardierung Jugoslawiens. Damit endete die Geschichte der Grünen als Friedenspartei, seitdem haben sie immer die Nase ganz weit vorn, wenn es darum geht, irgendwohin Militär zu schicken oder Bomben zu werfen.

Dann war da noch die Nummer mit Hartz IV. Das war, als diese Regierung vermeintlich einen aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe berechneten Bedarf als Grundsicherung einführte, der allerdings, nachdem die Gutachten fertig geworden waren, mit vielerlei Tricks und Kniffen auf die vorher schon ausgedachten 354 Euro heruntergerechnet wurde. Hartz IV trat an die Stelle der zuvor gezahlten Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe und bedeutete für die allermeisten, insbesondere aber für Familien mit Kindern, eine deutliche Verschlechterung.

Betroffen waren besonders die Bewohner des Anschlussgebiets, die infolge des Kahlschlags bei den DDR-Betrieben zu Millionen arbeitslos waren. Bezogen auf die gesamte Bundesrepublik führte dieser „sozial“politische Schritt dazu, dass der Vermögensanteil der unteren 40 Prozent der Bevölkerung von drei Prozent des Gesamtvermögens auf ein Prozent sank. Eine Enteignung um zwei Drittel also; das sollte mal einer bei Konzernen versuchen.

Damit das Ganze sozial ausgewogen bleibt, gab es diverse Steuergeschenke für die Reichen: Der Spitzensteuersatz wurde gesenkt, ebenso die Körperschaftsteuer, und Verkäufe von Unternehmensanteilen wurden steuerfrei gestellt. Die im Wahlkampf versprochene Wiedereinführung der Vermögensteuer wurde logischerweise nicht durchgeführt.

Muss man noch den ganzen Quatsch wie Biodiesel ausführen? Oder die Abgabe für erneuerbare Energien, die natürlich ebenfalls wieder vor allem die Ärmeren traf? Oder die ziemlich unsinnig geschusterten Energie-Einsparungsverordnungen, kurz ENEV, die keinerlei Bezug zwischen Maßnahmenkosten und tatsächlicher Einsparung herstellen, weshalb ältere Gebäude inzwischen gar nicht mehr saniert werden, außer, jemand will entmieten?

Ach ja, und da gab es noch etwas, im Gesundheitsbereich: die Einführung der Fallpauschalen. Auch das hat uns die Regierung Schröder/Fischer hinterlassen. Fallpauschale heißt, es wird ein Normwert festgesetzt, was eine bestimmte Behandlung kosten soll, und nur noch der wird von den Krankenkassen entgolten. Die Fallpauschalen sind der entscheidende Hebel, der das Gesundheitswesen auf Gewinn hin orientierte, bis in die letzte kleine kommunale Klinik hinein.

Warum? Weil schwierigere, langwierigere Fälle sich nicht rechnen; weshalb sich die privaten Kliniken, die das dürfen, die Rosinen rauspicken und eifrigst Hüften und Knie bei Jüngeren operieren, weil das verhältnismäßig viel einbringt, während demente geriatrische Patienten mit hohem Betreuungsaufwand bei den öffentlichen Kliniken landen, die nicht abweisen dürfen …

Da die Sätze bundesweit einheitlich sind, die Löhne aber eigentlich in den Großstädten höher sein müssten, da die Mieten höher sind, geraten die öffentlichen Krankenhäuser in den Großstädten unter besonderen Druck – sie haben massive Schwierigkeiten, überhaupt noch Personal zu finden, was wiederum durch die entstehenden Verluste (durch deshalb geschlossene Stationen z. B.) weitere Anreize zur Privatisierung setzt.

Eine weithin bekannte Nebenwirkung der Fallpauschalen ist die „blutige Entlassung“ – nach den vorgegebenen Tagen wird der Patient nach Hause geschickt, ob alles verheilt ist oder nicht; er kann sich ja hinterher um einen ambulanten Pflegedienst bemühen. Auch Wartezeiten für Operationen hängen damit zusammen; die Krankenhäuser können gar nicht mehr nach dem Bedarf der Kranken arbeiten, sondern müssen ihre Leistungen nach Budget orientieren. In den letzten Jahren wurden deshalb massenhaft Geburtsstationen und pediatrische Abteilungen geschlossen. All das hängt an den Fallpauschalen, und das Copyright für diesen Eingriff hat die Regierung Schröder/Fischer, alias Rot-Grün. „Wir streichen jetzt vor allen Dingen das, was aus meiner Sicht das Rückgrat der Gesellschaft ist, in den sozialen Bereichen“ – das ist schon eine passende Zusammenfassung dieser Zeit.

In den 1970ern lernte man noch eine einfache Weisheit: Wenn Sozialabbau geplant ist, sind die Sozialdemokraten besonders geeignet, weil sie die Gewerkschaften besser unter Kontrolle haben. Rot-Grün von 1998 bis 2005 könnte man als historischen Beweis dieser Aussage sehen, und als Vorwarnung vor Kommendem.

Vielleicht hat es ja Baerbock in ihrer Jugend mit dem Genuss gewisser Kräuter übertrieben. Zu schmerzlich kann ihr die Erinnerung an die unsoziale Bilanz der Schröder-Jahre nicht sein; schließlich ist sie 2005 in die Grünen eingetreten, zu einem Zeitpunkt, als vernünftigere Menschen diese Partei in Scharen verließen.

Nein, diese Verdrängung ist funktional. Schließlich ist es ihr Job, andere glauben zu machen, die nächste Auflage dieser Kombination wäre weniger brutal, im Gegenteil, man könne Hoffnungen in sie setzen. Eine offene Lüge bedarf allerdings einer gewissen geistigen Anstrengung. Da ist es leichter, das eigene Gedächtnis umzuschreiben, damit es zu den Wahlkampfbehauptungen passt. Darin hat sie immerhin Übung.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Link zur Erstveröffentlichung: https://de.rt.com/meinung/123517-annalena-und-die-verdraengte-wahrheit-ueber-rot-gruen/


Bild: Politischer Aschermittwoch 2018 mit Annalena Baerbock
Foto: Bündnis 90/Die Grünen Nordrhein-Westfalen, CC BY-SA 2.0
Quelle: https://www.flickr.com/photos/gruenenrw/39367872755/in/photostream/