Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Ein Herz für Kollaborateure?

Das deutsche Schlageridol Roland Kaiser brachte Anfang 2020 den Hit „Kein Grund zu bleiben, ist der beste Grund zu gehen“ heraus.  Was sich zunächst reichlich sinnfrei anhörte, erscheint angesichts des Afghanistan-Debakels der NATO in einem anderen Licht. Besonders, wenn man die zweite Refrain-Zeile hinzu nimmt: „Manchmal muss man mit offenem Herzen der Wahrheit in die Augen seh’n“.
„Das Entsetzen in Deutschland über die Entwicklung in Afghanistan ist groß.“ So ein bezeichnender, an diffuse Angstgefühle appellierender Satz aus einem der vielen Kommentare. (ttps://www.n-tv.de/politik/Afghanistan-war-eine-Lebensluege-der-Merkel-Ara-article22746876.html). Doch eine echt menschliche, empathische, rationale Betrachtung zeigt: In Wirklichkeit endet nach zwanzig Jahren Heuchelei, Krieg, Leid, Verwüstung, Geld- und Ressourcen-Verschwendung ein schändlicher Kreuzzug des kollektiven Werte-Westens mit einer verdienten spektakulären Niederlage.
 
Denn während „9/11“ in fast allen Köpfen als Begründung des Afghanistan-Kreuzzugs spukt, ist der Erinnerung weitgehend entfallen, dass seit Mitte der 1990er Jahre ein US-Konsortum unter Führung der UNOCAL Verhandlungen mit den Taliban führte: Über eine Öl- und Gas-Pipeline aus Aserbeidschan und Turkmenistan (unter Umgehung des Iran) durch Afghanistan und Pakistan Richtung Indien und Arabisches Meer. Die Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis, und „9/11“ wurde zum Kriegsvorwand.
 
Wir schicken dies voraus, damit nicht die religiöse Maskerade des Konflikts für bare Münze genommen wird: Freidenker lehnen selbstverständlich alle reaktionären Spielarten egal welcher Religion ab – auch der besonders mittelalterlich anmutenden islamischen Richtungen. Alle Konflikte, die uns in scheinbar religiösem Gewand präsentiert werden, sind bei genauerem Hinsehen  ökonomisch-politisch motiviert. Entsprechend muss unser Blick der Realtität gelten:
 
Die Länder der Region können nach Abzug der Besatzer ihr Schicksal in die Hand nehmen, und zwar insbesondere im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), dem außer China,  Russland und Indien alle Nachbarländer Afghanistans mit Ausnahme Turkmenistans, aber jetzt auch Iran angehören. Die Perspektive für Handel und Sicherheit in der Region sieht wie eine Win-Win-Situation aus. Die Taliban scheinen in ihren vielfältigen Kontakten mit Russen und Chinesen vollkommen verstanden zu haben, wie Afghanistan  von seiner geostrategischen Rolle in dem Neuen Großen Spiel profitieren kann. Es entsteht eine  erweiterte „Achse des Bösen“ (Pepe Escobar).
 
Der Krieg des Westens geht mit anderen Mitteln weiter: Deutsche Entwicklungshilfe, die eigentlich jetzt umso mehr als Reparationsleistung fällig wäre, wird „eingefroren“. Afghanische Helfer deutscher Organisationen, für deren Sicherheit in Verhandlungen mit den Taliban gesorgt werden müsste, sollen ausgeflogen,  Fachkräfte dem Lande entzogen werden. Und gegen erwartete positive Nachrichten aus Afghanistan setzt man schon vorsorglich auf eine Nachrichtensperre in den sozialen Netzwerken: Ein Manager von Facebook Inc. sagte der Nachrichtenagentur Bloomberg, dass sein Unternehmen „proaktiv“ Inhalte von seinen Plattformen lösche, die für die Taliban „werben“. Auch Whatsapp-Accounts der Taliban würden gesperrt, wenn diese identifiziert würden, berichtet der Sender Al Jazeera. Man kann nur hoffen, dass die Friedensbewegung sich dieser neuen Runde von Herausforderungen gewachsen zeigt.
 
Nachdem wir in den letzten Jahren viele neue Wörter lernen mussten, z.B. die „Inzidenz“, kommen jetzt noch sogenannte „Ortskräfte“ dazu. Zur Verdeutlichung, dass es sich mitnichten um eine Neuerscheinung handelt, hat Freidenker Hajo Kahlke aus Heidelberg folgende Klarstellung verfasst:
Webredaktion

Ein Herz für Kollaborateure?

von Hajo Kahlke

Hartnäckig betreiben die Herrschenden die Desorientierung der Friedenskräfte. Das äußerst sich dann etwa in der Selbstabwertung des eigentlichen Anliegens FÜR DEN FRIEDEN durch Gleichstellung mit dem (Nonsense-)Anliegen „Für das Klima“. Als ob denn Klima, so wie es beim Frieden der Fall ist, errungen oder verteidigt werden könnte, als ob es denn Klima nicht vielmehr immer, und völlig unabhängig von etwaiger menschlicher Einflussnahme, gäbe.

Beim jetzigen Afghanistan-Abzug der NATO-Aggressoren sollen die Friedenskräfte möglichst keine Freude über diesen Abzug und über die damit verbundene Chance auf einen länger andauernden Frieden in Afghanistan empfinden oder gar zum Ausdruck bringen, sondern sich stattdessen im Verein mit den Herrschenden vor allem um das Wohl der NATO-Kollaborateure sorgen und sich für deren „Rettung“ einsetzen.

Im Wording der Aggressoren werden die Kollaborateure zur Verschleierung ja als „Ortskräfte“ bezeichnet. So oft wie möglich nennt man sie auch schlicht „Menschen“. Die traditionell übliche Bezeichnung KOLLABORATEURE ist hingegen tabu. Denn sie lässt zu sehr anklingen, dass es sich bei dieser Sorte Menschen um die Handlanger von Mördern handelt, ohne welche die Letzteren ihr blutiges Tun niemals ausführen könnten.

Dabei will die Kampagne zur „Rettung“ der Kollaborateure nicht nur verhindern, dass diese für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, nein, unter „Rettung“ ist selbstverständlich ein vergleichsweise komfortabler Exil-Status in einer der imperialistischen Metropolen zu verstehen. Im Grunde ist das eine Belohnung für den Verrat am eigenen Land. Dass diese Belohnung zugleich eine ungeheure Verhöhnung der Opfer der Kollaborateure ist, wird von den „Rettungs“-Advokaten großzügig ausgeblendet.

Ausgeblendet wird auch die absehbare Folge einer jetzigen massenhaften Kollaborateurs-„Rettung“ für künftige NATO-Aggressionen – nämlich eine dann deutliche höhere Bereitschaft zur Kollaboration in den überfallenen und okkupierten Ländern. Denn für den Fall, dass die Aggression doch irgendeinmal enden wird, rechnet jeder potentielle Kollaborateur sich dann eine reelle Chance aus, in den relativen Wohlstand eines imperialistischen Metropolenlandes „gerettet“ zu werden.

Man sieht sich für den Fall des Falles einigermaßen abgesichert, und die disziplinierende, zur Besinnung bringende Furcht vor möglicher Strafe/Vergeltung/Rache verliert an ihrer heilsamen Wirkung.

Höhere Kollaborationsbereitschaft ist dann natürlich ein Plus für die NATO und stärkt wiederum deren Aggressionsbereitschaft – wobei speziell für den Mittleren Osten dann für die NATO das zusätzliche Plus eines großen, leicht zu aktivierenden bzw. schnell einzusetzenden Potentials an Stand-by-Kollaborateuren zur Verfügung stehen wird.

Hajo Kahlke, Heidelberg, ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bild: Afghanistan 2012: Belgische Soldaten übergeben ein Geschenk, um so Verbindung mit der einheimischen Bevölkerung herzustellen. Rechts sichert ein deutscher Oberleutnant ab.
Foto: „Wir. Dienen. Deutschland“, CC BY-ND 2.0
Quelle: https://www.flickr.com/photos/wirdienendeutschland/8283978190/in/album-72157632271707955/