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Verurteilung von Nawalny in Russland: Deutsche Rechtsauffassung ist falsch

Im Fall Nawalny wird von deutscher Seite angeführt, das Urteil, das zu der Strafe führte, die Alexei Nawalny jetzt in Russland absitzen muss, sei vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als politisch motiviert gerügt worden. Doch diese Darstellung ist falsch.

von Gert Ewen Ungar

(Erstveröffentlichung am 09.02.2021 auf RT DE)

Die Bewährungsstrafe, zu der Alexei Nawalny verurteilt worden war, wurde nach seiner Rückkehr nach Russland in eine Gefängnisstrafe umgewandelt, da er seine Bewährungsauflagen nicht eingehalten hat. Die EU und auch Deutschland sehen darin einen eklatanten Rechtsverstoß und werfen Russland vor, rechtsstaatliche Prinzipien nicht einzuhalten.

Zahllose westliche Politiker sehen in Russland Willkür und den autoritären Unrechtsstaat am Werk, der seine Widersacher ohne triftigen Grund ermordet oder durch politisch motivierte Prozesse hinter Gitter bringt.

In Deutschland folgt das gesamte politische Establishment dieser Deutung und die Medien helfen eifrig mit beim Verbreiten dieses Standpunkts.

Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hält das Vorgehen Russlands für zynisch. Sie führt aus, Nawalny habe seinen Auflagen nicht nachkommen können, da er in Deutschland im Koma lag.

Allerdings geht es in der Anklage nun ausgerechnet nicht um den Zeitraum seines Krankenhausaufenthalts. Es geht um Verstöße davor und auch danach. Schließlich hielt sich Nawalny auch nach seiner Genesung noch geraume Zeit in Deutschland auf, ohne die zuständige Behörde in Russland zu kontaktieren. Darauf weist die russische Staatsanwaltschaft ausdrücklich hin. Die Russische Botschaft in Deutschland veröffentlichte deren Stellungnahme in deutscher Übersetzung. Die deutsche Verteidigungsministerin hätte sich schlaumachen können – wenn sie es denn gewollt hätte.

Kanzlerin Angela Merkel ließ ihren Pressesprecher mitteilen, die Gewalt gegen Demonstranten müsse sofort aufhören und Nawalny freigelassen werden.

Regierungssprecher Steffen Seibert führte die Position der Bundesregierung noch etwas genauer aus.

Die Bewährungsstrafe, die jetzt in eine Haftstrafe umgewandelt wurde, sei bereits 2017 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als politisch motiviert gerügt worden, so Seibert.

Auch Außenminister Heiko Maas hob das Urteil des EGMR hervor, sieht in Russland das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verletzt und fordert Nawalnys sofortige Freilassung.

Der hier von höchster politischer Stelle vorgebrachte Vorwurf, das EGMR habe bei der Verurteilung Nawalnys schon 2017 eine politische Motivation erkannt, wird vielfach wiederholt und als Beweis dafür angeführt, dass Nawalny zu Unrecht im Gefängnis sitzt und die russische Opposition ganz generell der Willkür des russischen Systems ausgesetzt sei.

Das Problem ist nur, die Argumentation ist falsch.

Das EGMR ist in seinem Urteil von 2017 eben nicht zu dem Ergebnis gekommen, die Verurteilung Nawalnys durch ein russisches Gericht sei politisch motiviert gewesen. Man kann davon ausgehen, dass es in der Bundesregierung so viel juristischen Sachverstand gibt, dass die Regierung das weiß. Sie verbreitet also absichtlich Falschinformationen.

Nawalny und sein Bruder Oleg waren wegen Geldwäsche und Betrugs angeklagt worden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, dass die beiden nicht vorhersehen konnten, dass die Ausstellung überhöhter Rechnungen in Verbindung mit Absprachen und Insiderinformationen gegenüber dem französischen Kosmetikkonzern Yves Rocher als betrügerisch aufgefasst werden könnte.

Artikel 18 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte findet ausdrücklich keine Anwendung. Die Urteile gegen die Nawalnys sind zwar nach Auffassung des Gerichts im genannten Punkt unverhältnismäßig und erfüllen auch das Kriterium unfair zu sein, aber sie dienen ausschließlich ihrem Zweck, sind also nicht politisch motiviert. Das EGMR-Urteil ist hier in Gänze und hier zusammengefasst nachzulesen.

Entsprechend fällt der Vergleich aus. Den Nawalnys werden jeweils eine Entschädigung in Höhe von 10.000 Euro und die entstandenen Kosten für die Auslagen zugesprochen.

Nun behauptet Bundespressesprecher Seibert in diesem Zusammenhang, Russland folge nicht rechtsstaatlichen Prinzipien, und führt in diesem Zusammenhang das Urteil des EGMR an.

Der Urteilsspruch ist jedoch der Beweis für das genaue Gegenteil, denn das generelle Funktionieren des Rechtsstaats in Russland stellt das Gericht eben nicht infrage, sondern überweist das Urteil gegen Nawalny wieder zurück nach Russland. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass Russland über funktionierende rechtsstaatliche Strukturen verfügt, die Urteile überprüfen und Fehler korrigieren können. Der Fall Nawalny ist hierfür eigentlich das beste Beispiel. Nawalny konnte und kann die gegen ihn ergangene Urteile anfechten. Er macht auch ausgiebig Gebrauch davon. Mehrere Instanzen der Überprüfung zu haben, ist aber gerade Kennzeichen eines Rechtsstaats.

Erst im April 2019 erreichte Nawalny die Anerkennung des EGMR nach Artikel 18. Allerdings nicht in Bezug auf dieses Verfahren, sondern auf seinen Hausarrest. Ein russisches Gericht ordnete Hausarrest an und begründete diesen damit, Nawalny könne sich durch Flucht ins Ausland dem Prozess gegen ihn entziehen, Zeugen bedrohen und zum Aufruhr anstacheln. Der EGMR folgte in diesem Fall der Argumentation der russischen Seite nicht. Nawalny hätte nicht erkennen lassen, dass er sich entziehen wollte. Der Hausarrest sei unverhältnismäßig lang und von zusätzlichen Einschränkungen begleitet gewesen. Diese Einschränkung sei zwar von einem russischen Gericht wieder aufgehoben worden, aber es sei im Grundsatz ein Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention gewesen. Daher wurden Nawalny 20.000 Euro Schadenersatz zugesprochen.

Auch hier wird deutlich, dass der in Deutschland erhobene Vorwurf, das Rechtssystem in Russland sei grundsätzlich dysfunktional, nicht stichhaltig ist, denn es gibt Widerspruchsverfahren, die ergangene Urteile überprüfen und auch revidieren. Zudem setzt Russland die Urteile des EGMR um.

Bei all den Klagen in Richtung Russland entsteht zudem der Eindruck, Deutschland würde nie vor dem EGMR verklagt und vom Gericht verurteilt. Das ist aber nicht der Fall. Auch die deutsche Rechtsprechung ist regelmäßig Gegenstand vor dem EGMR. Auch Deutschland ist in zahlreichen Fällen verurteilt worden, weil Urteile sich nicht in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention befanden. Da geht es um Verstöße gegen das Folterverbot, nicht geahndete Polizeigewalt, das Provozieren von Rechtsverstößen durch V-Männer und so weiter und so fort.

Daraus aber abzuleiten, dass Deutschland ganz grundsätzlich kein Rechtsstaat sei, ist falsch. Aber genau diese Argumentation machen sich in Deutschland Politik und Medien zu eigen, wenn es um Russland geht. Aus einzelnen Urteilen des EGMR, die zudem noch falsch wiedergegeben werden, wird auf ein grundsätzlich dysfunktionales Rechtssystem in Russland geschlossen. Das ist absolut unlauter. Man kann in diesem Zusammenhang sehr wohl besseres Wissen unterstellen. Das heißt Politik und Medien täuschen hier vorsätzlich.

Dies bildet einen weiteren Mosaikstein in einem Bild, das zeigt, wie der Fall Nawalny von Politik und Medien benutzt wird, um gegenüber Russland zu eskalieren und das Verhältnis nicht nur weiter zu belasten, sondern aktiv zu zertrümmern.

Dass sich das politische Deutschland zu einer derartigen Intrige hergibt, ist schäbig. Es bezeugt eine tiefe moralische Verkommenheit auf oberster Regierungsebene und wird der Verantwortung Deutschlands im Hinblick auf das besondere Verhältnis zu Russland in keiner Weise gerecht. Deutschland verdankt Russland nicht nur die Befreiung vom Faschismus, sondern darüber hinaus noch die Wiedervereinigung und möchte über den Bezug von russischem Gas als Energie-Drehkreuz seine Vormachtstellung in der EU weiter ausbauen.

Mit der Abkehr von den Fakten im Fall Nawalny zeigt die Bundesregierung deutlich, dass Nawalny tatsächlich ein Instrument ausländischer Interessen ist, das sich gegen Russland richtet. Das ausgerechnet Deutschland hier das aktive, aggressive Zentrum bildet, zeigt, wie wenig die deutschen Eliten in Politik und Medien bereit sind, aus der Geschichte zu lernen.

Gert-Ewen Ungar, Jahrgang 1969, studierte in Frankfurt am Main Philosophie und Germanistik, lebt jetzt in Berlin und arbeitet als Pädagoge in der Sozialpsychiatrie.
Er ist regelmäßiger Autor bei RT DE.

Link zur Erstveröffentlichung auf RT DE: https://de.rt.com/meinung/112902-verurteilung-von-nawalny-in-russland-brd-falsche-rechtsauffassung/


Bild oben: Nawalny im Gerichtsgebäude bei einem früheren Prozess (2011)
Foto: Nikita Batalov,
CC-BY-SA-3.0.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17597368
Bearbeitung/Effekt: Ralf Lux