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„Der Marxismus ist nicht gekommen um abzuschaffen sondern um zu vollenden“

Zur Konterrevolution des sozial libertären Liberalismus und einer neuen revolutionären Strategie – Ein wieder aufgelegtes Buch des französischen marxistischen Philosophen Michel Clouscard, in Auszügen vorgestellt

von Klaus von Raussendorff

In seinem Buch »Les dégats de la pratique libéral libertaire ou les métamorphoses de la société française » (deutsch wörtlich: „Die Schäden der libertären liberalen Praktik oder Die Metamorphosen der französischen Gesellschaft“ ) fasste im Jahre 1987 der marxistische französische Philosoph Michel Clouscard die Ergebnisse seiner Forschungen, die er in den fünf vorausgehenden Werken von 1972 bis 1985 dargelegt hatte, in 85 Thesen zusammen. Das Buch ist 2020 vom Pariser Verlag DELGA, der das Werk von Clouscard (1928 bis 2009)  betreut, neu aufgelegt worden. Eine deutsche Übersetzung des Autors dieser Zeilen stände für eine deutschsprachige Veröffentlichung honorarfrei zur Verfügung.

Gegenstand des Buches sind wie im Untertitel angegeben: „Die Metamorphosen der französischen Gesellschaft“ in der Zeit von der Libération 1944 bis Mitte der 1980er Jahre. In diesem Zeitraum ereignet sich, so der Autor (in These 32) „(d)er Rückgang des politischen Einflusses der KPF und ihrer Wählerschaft“. Dies wäre, so der Autor weiter „nicht an sich demobilisierend…, wenn diese Partei endlich den berühmten theoretischen Rückstand aufholen würde, den sie beschwört, um ihre als vorübergehend angesehenen Rückschläge zu erklären“. Doch es gebe „enorme Schwierigkeiten“, „die Metamorphose der französischen Gesellschaft zu begreifen und begreifbar zu machen und eine Strategie vorzuschlagen, die sich nicht alsbald in taktischen Widersprüchen verliert.“ Clouscard gelingt eine Aktualisierung des Marxismus als Philosophie der Praxis. Er konzipiert die politische Philosophie des Marxismus in der dialektischen Komplementarität des Objektiven und des Subjektiven: Strategie ist Konzept eines authentischen Bewusstseins einer kollektiven, globalen nicht-intentionellen Praxis, die das Resultat aller intentionellen Praxis der Einzelnen ist: Das Reale wird rational. Und Strategie ist dieses Bewusstwerden, das, verbunden mit den Interessen der Produzenten, mit dem Gesamtarbeiter zu einer kollektiven intentionellen Praxis führt (zur gesellschaftlichen Planung der Wirtschaft): Das Rationale wird real. Der Marxismus als Philosophie der Praxis (nicht zu verwechseln mit der unter gleicher Bezeichnung bekannten empirizistischen Ideologie des früheren jugoslawischen „Selbstverwaltungssozialismus“) erscheint beispielsweise auch im Denken des Spaniers Adolpho Sanchez Vazquez, des Vietnamesen Tran Duc Thao, des DDR-Kulturpolitikers Alfred Kurella u.a.

Der erste Teil des Buches enthüllt die historische Logik der Mutationen der französischen Gesellschaft:  „Die Modalitäten dieser Metamorphose…darzulegen, heißt, den Prozess der Durchsetzung der aktuellen liberalen Konterrevolution darzulegen.“ Der zweite Teil konzipiert „Die neue revolutionäre Theorie“: „Sie muss sich als Antwort auf die liberale Konterrevolution und die allgemeine Krise konstituieren.“ Der dritte Teil statuiert „(d)ie politische Philosophie des demokratischen und selbstgestaltenden Sozialismus“ und postuliert die These: „Der Ausgleich zwischen dem Gesamtarbeiter und der Zivilgesellschaft führt dazu, den Widerspruch zwischen Konsumtion und Produktion zu überwinden und die Entfremdung des Menschen zu beenden.“

Diese Buchvorstellung will nicht über das Buch reden. Das Buch soll selbst in Originalzitaten sprechen. Dazu erscheint die Form eines Glossars der wichtigsten Konzepte und Begriffe geeignet. Bei jedem Zitat ist die These, welcher es entnommen ist, mit einer in Klammern gesetzten Ziffer angegeben.

Die Strategie (la stratégie).

Der Begriff der Strategie hat die Funktion, „alle konstitutiven Gegebenheiten der Metamorphose zu einer Synthese zusammenzufassen“. Er ist erforderlich, um das „Gesellschaftsprojekt“, das „die bestmögliche Gesellschaft für den bestmöglichen Profit“ realisiert, als Gesamtheit zu zeigen. „Denn der Kapitalismus weiß nicht, was er tut: er funktioniert, er besteht“, „ohne zu der Vorstellung von der Gesamtheit dieses Funktionierens und seiner Wirkungen zu gelangen und vor allem ohne die Zweckbestimmung und das Ziel dieser blinden Dynamiken zu haben.“ „Allein der Klassenfeind – der Marxismus – kann diese Strategie rekonstruieren.“(4) Es geht also nicht um Strategie im Sinne von Plänen der Bourgeoisie (über die „Linke“ spekulieren). Strategie ist ein heuristischer Begriff zum Verständnis des Übergangs „von der Gesellschaft der Knappheit der Ware….zu einer sogenannten ‚Überflussgesellschaft‘ oder ‚Konsumgesellschaft‘“. (5) In dieser „erlebt der Staatsbürger eine Metamorphose zum Kunden, und die Nation wird ein Markt.“ Um diesen Markt einzurichten, der die Profite steigert, ist es erforderlich, „mit den Verboten und Tabus der Gesellschaft der Knappheit zu brechen. Es ist erforderlich, Modelle von Emanzipation und Produktgebrauch einzuführen, die der Begehrlichkeit endlich die Möglichkeit verschafft, die Mittel und Angewohnheiten zu ihrer Realisierung zu finden“. Diese Strategie ist „repressiv gegenüber dem Produzenten, permissiv gegenüber dem Konsumenten“ gemäß dem „Gesetz“, „(je) mehr das Permissive sich ausweitet, desto größer wird die Unterdrückung. So erheischt der Kapitalismus den größten Profit: doppelte Ausbeutung – des Arbeiters und des Marktes – und Radikalisierung der Ausbeutung der Produktion und der Ausbeutung der Konsumtion.“ Das ist der „konstitutive Widerspruch dieser Strategie.“ (6) „Die Strategie entwickelt sich nach folgenden drei Modalitäten der Gestaltungsmacht: 1°) Ökonomischer Druck, der insbesondere die Arbeiterklasse und die Arbeiter im Allgemeinen betrifft; 2°) Permissivität der Sitten, die im Wesentlichen einem Gesellschaftskörper zugutekommt, der durch die kapitalistische Expansion geschaffen worden ist: den neuen Mittelschichten; 3°) Politisches Machtgerangel einer liberalen Konterrevolution, die sich von der Ausschaltung des Nationalrates der Resistance bis zum Konsens zunächst in Gestalt der Alternanz, dann der Kohabitation der politischen Kräfte Bahn bricht.“ (7)

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Klaus von Raussendorff, Bonn, ist Mitarbeiter des Verbandsvorstandes des Deutschen Freidenker-Verbandes


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Bild: Collage von Ralf Lux, unter Verwendung der Titelbilder von: 
Michel Clouscard: Les Dégâts de la pratique libérale [libertaire] ou les métamorphoses de la société française
Links: Paris, Nouvelles Éditions du Pavillon, 1987 / rechts: Paris, Delga, 2020