Weltanschauung & Philosophie

Ökonomische Herrschaftsverhältnisse und „Verschwörungen“ im staatsmonopolistischen Klassenstaat

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 2-20, Juni 2020, S. 21-26, 79. Jahrgang

von Sebastian Bahlo

Rede auf der Konferenz des Deutschen Freidenker-Verbandes „Der tiefe Staat – oder: Wer regiert den Westen?“ am 16. November 2019 in Stuttgart

Wenn wir heute über die Erscheinung des „Tiefen Staates“ sprechen, begreifen wir diesen als eine Art Deformierung des „regulären Staates“ oder als Fremdkörper im „regulären Staat“, und die Untersuchung des „Tiefen Staates“ ist nicht zu trennen von, oder fällt sogar vollständig zusammen mit der Untersuchung seines Verhältnisses zum „regulären Staat“. Es ist daher nützlich, sich auch mit dem „regulären Staat“ zu beschäftigen.

Was ist der „reguläre“ Staat?

„Was ist der Staat?“ ist eine alte und schwierige Frage, auf die wahrscheinlich fast jeder Philosoph eine Antwort versucht hat, und noch heute werden neue Theorien zur Beantwortung dieser Frage aufgestellt. Es ist auch sicher noch nicht alles gesagt, aber ein großer Sprung in der Staatstheorie ist den Begründern des historischen Materialismus Karl Marx und Friedrich Engels gelungen, wie von Engels erstmals 1884 in seinem Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ ausführlich dargelegt.

Dort werden, gestützt auf ethnologische Forschungen Lewis H. Morgans an nordamerikanischen und australischen Ureinwohnern, unter anderem die historischen Entstehungsbedingungen des Staates aufgezeigt. Frühe Zivilisationsstufen, die bei den damaligen Autoren „Wildheit“ und „Barbarei“ genannt wurden, (wir würden sie heute alt- und jungsteinzeitliche Gesellschaften nennen), brauchten keinen Staat im heutigen Sinne. Natürlich hatten die einzelnen Stämme gesellschaftliche Ordnungen und Regeln, deren Verletzungen mitunter auch blutig geahndet wurden, es gab also eine öffentliche Ordnung, und es gab, wenn man so will, Strafrecht und Strafvollzug. Sie kannten auch Autorität und Hierarchie. Diese Phänomene, die von Anarchisten gerne in den Vordergrund gestellt werden, sind in Wirklichkeit keine charakteristischen Elemente unseres modernen Staatsbegriffs.

Was bei diesen Völkern fehlte, war eine „besondere öffentliche Gewalt“, wie Engels, eine „besondere Formation bewaffneter Menschen“, wie Lenin sich ausdrückt. Die öffentliche Gewalt befand sich in den Händen des Kollektivs, der ganze Stamm war einheitlich bewaffnet. Dies war möglich, weil der ganze Stamm ein einheitliches kollektives Interesse hatte: in gemeinschaftlichem Tun sich die Früchte der Natur anzueignen und sich im Kampf ums Dasein gegen konkurrierende Stämme zu behaupten.

Die Notwendigkeit einer besonderen Staatsgewalt entsteht erst, wenn verschiedene gesellschaftliche Klassen mit gegeneinandergerichteten Interessen dasselbe Territorium bevölkern. Es ist also nicht, wie eine bis heute weit verbreitete Auffassung meint, der Gegensatz zwischen Individuum und Kollektiv, der durch die Staatsgewalt neutralisiert werden muß, sondern der Gegensatz zwischen Teilkollektiven, den Klassen. Engels:

„Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungne Macht; ebensowenig ist er ,die Wirklichkeit der sittlichen Idee‘, ,das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft‘, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist.

Klassenkampf

Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ‚Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“

Nun ist natürlich die Lehre vom Klassenkampf und den Klassen überhaupt in Westdeutschland seit 1933 geächtet, und man muß vielleicht eine Erläuterung anfügen. Sprechen wir von den Klassen, wie sie bei uns im modernen Kapitalismus bestehen, so geht es nicht um eine bloß quantitative Unterscheidung nach der Größe des Besitzes, also um „arm und reich“, ein Begriffspaar, das leider viel zu oft, auch von Linken gebraucht wird und den Kern der Sache verschleiert: es geht um den qualitativen Unterschied, die unterschiedliche Funktion der Klassen im Wirtschaftssystem.

Die wichtigsten Klassen: Kapitalisten und Arbeiter unterscheiden sich nicht primär dadurch, daß die einen weniger besitzen als die anderen, sondern durch die Art des Besitzes: Der materielle Besitz der Arbeiter, das sind alle Menschen, gleich ob sie Maschinenöl an den Händen oder den Doktorhut auf dem Kopf haben, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf ihrer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bestreiten, besteht im wesentlichen aus Konsumptionsmitteln, die sie brauchen, um ihre Arbeitskraft zu erhalten; Die Kapitalisten besitzen, neben üppigen Konsumptionsmitteln, vor allem Produktionsmittel und kaufen Arbeitskraft ein mit dem Ziel, ihren Besitz zu vergrößern.

Alle Manifestationen des zwischen diesen Klassen bestehenden Interessenskonflikts, ob bewußt oder unbewußt, offen oder subtil, nennen wir Klassenkampf.

Der Staat ist nicht „neutral“

Der Staat hält nicht nur die widerstreitenden Klassen wie Streithähne auseinander, sondern er ergreift Partei für eine dieser Klassen. Engels: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“ Der Staat ist eine reale gesellschaftliche Erscheinung. Er besteht nicht in der abstrakten Ordnung abstrakter Institutionen, sondern wird von wirklichen Menschen unter den jeweils konkreten historischen Bedingungen der Gesellschaft gestaltet, mit der er in unauflösbarer Wechselwirkung steht.

Grundlegend für die Existenzweise des Staates in kapitalistischen Ländern ist die ökonomische Herrschaft des Kapitals. Sie führt dazu, daß in allen politischen Fragen, welche die Ökonomie einbeziehen, (und das sind fast alle), die Kapitalisten als ökonomisch herrschende Klasse die natürlichen Ansprechpartner des Staates sind.

Ein konkreteres Machtmittel sind Staatsschulden, deren Bedeutung darin liegt, daß sie faktisch nie zurückgezahlt werden, aber trotzdem immer weiter vergrößert werden können, solange der jeweilige Staat „ein gutes Rating hat“, also dem Finanzkapital ergeben ist. Sie sind, etwas überspitzt gesagt, aber auf den Punkt gebracht, eigentliche keine Schulden, sondern „Eigenkapital“, sie stellen die Beteiligung des Finanzkapitals am Staat dar; die sogenannte griechische „Staats­schuldenkrise“, die nichts anderes war als eine Machtdemonstration (und natürlich ein einträgliches Geschäft) des Finanzsektors, kann hier als klassisches Beispiel dienen.

Ein weiteres Feld der Einflußnahme des Kapitals liegt in seinen Verflechtungen mit den nichtpolitischen Beamten; Das sind Tausende von Menschen, die in sensiblen Bereichen der Staatsverwaltung arbeiten und nacheinander den verschiedenen sich gegenseitig ablösenden Regierungen dienen.

Der gegenwärtige Konflikt in den USA zwischen Trump und diesem Beamtenapparat führt uns die Kraft dieses Instruments vor Augen. Dabei fällt übrigens immer der Begriff „deep state“, was ich in diesem Zusammenhang nicht ohne Einschränkung akzeptieren würde. Eine lustige Anekdote ist allerdings der rasante Sinneswandel der New York Times in dieser Frage. 2017 hat sie gegen Trump noch vehement bestritten, daß es in den USA einen „deep state“ gäbe. Im Oktober 2019 bringt sie einen Leitartikel unter der Überschrift: „The ‚deep state‘ exists to Battle People like Trump“.

Zur Begründung holt die Autorin weit aus zur vor über 100 Jahren erfolgten Ablösung des Systems der Ämterpatronage, also der Praxis, nach einem politischen Machtwechsel auch die höheren Beamten durch Loyalisten zu ersetzen, zum sogenannten „Eignungssystem“, in dem die Beamten angeblich nur nach ihrer Qualifikation ausgewählt werden, und zitiert Theodore Roosevelt, der die Ämterpatronage „unamerikanisch und undemokratisch“ nannte.

Man möchte sarkastisch folgern, daß die amerikanische Demokratie also in höchster Blüte steht, wenn die Staatsgeschäfte fest in der Hand der immergleichen grauen Eminenzen liegen, unbeeinflußt vom Theater der gewählten Politclowns.

Natürlich ist ein entscheidendes Feld der Einflußnahme des Kapitals die Steuerung der öffentlichen Meinung und der Kultur im weiteren Sinne durch die Massenmedien und das riesige Unterhaltungsgeschäft. Das Schlimmste sind wahrscheinlich nicht die direkten Lügen, die im Nachrichtengeschäft verbreitet werden, sondern die Werte, die subtil durch den Kulturbetrieb in die Köpfe gepflanzt werden; nicht zu vergessen ist auch die pure Verblödung ganzer Schichten. Dies dient indirekt, aber vielleicht wirkungsvoller als alles Vorerwähnte der politischen Machtabsicherung des Kapitals und ist nebenbei noch ein Riesengeschäft.

Logischerweise hat das Kapital auch durch Parteienfinanzierung und die Förderung in seinem Sinne „talentierter“ Politiker unvergleichlich größere Möglichkeiten als die Arbeiterklasse, Einfluß auf die Politik zu nehmen. Alle genannten Mechanismen greifen ineinander und machen in Abwesenheit einer starken Gegenmacht den Staat faktisch zu einem kapitalistischen Klassenstaat.

Kapitalkonzentration und Meinungskontrolle

Ich habe jetzt vom Staat unter kapitalistischen Bedingungen im Allgemeinen gesprochen. Der Kapitalismus entwickelt sich seinem inneren Gesetz folgend zum Imperialismus. Dieser ist gekennzeichnet ökonomisch durch hohe Kapitalkonzentration (Monopolismus), Verschmelzen des Bank- und Industriekapitals und Kapitalexport, politisch durch verstärkte Unterordnung des Staats unter das Monopolkapital, Staatsmonopolismus, aggressiver Kampf der Großmächte um Rohstoffe und Absatzmärkte (Aufteilung der Welt unter die Großmächte).

Die Kapitalkonzentration ist der zugrundeliegende ökonomische Motor dieser Entwicklung. Es sind nur die oben genannten Mechanismen zur Beherrschung des Staates durch das Kapital, die unter monopolistischen Bedingungen um Vieles wirksamer werden, einfach, weil viele kleinere gegeneinander konkurrierende Kapitalisten ihren jeweiligen Einfluß nicht alle in der gleichen Richtung ausüben und weil die zu Beeinflussenden sie auch zu eigenem Gewinn gegeneinander ausspielen können. Konzentriertes Kapital hat einheitlichere politische Interessen und effektivere und direktere Wege sie durchzusetzen.

Die Kontrolle der öffentlichen Meinung nimmt unter monopolistischen Bedingungen Züge der „Gleichschaltung“ an, es gibt klare Vorgaben, welche Meinungen erlaubt und welche verboten sind. So ist eine moralisierende Kapitalismuskritik erlaubt und gehört sogar zum guten Ton. Aber wehe, sie wird ein bißchen konkret. Als der Juso-Vor­sitzende Kühnert, sicher im redlichen Bemühen, das „linke Profil“ der SPD zu schärfen, über das Ziel hinausschoß und sich in einem Interview eine Verstaatlichung von BMW ausmalte, da traf ihn sofort ein medialer Bannstrahl, und der Betriebsratsvorsitzende von BMW erklärte, sich schützend vor die Aktionäre werfend, daß von nun an kein Arbeiter mehr die SPD wählen könne.

Keine Illusionen über den Staat

Alles bisher Geschilderte ist nach meinem Verständnis des Wortes noch nicht der „Tiefe Staat“. Es scheint mir, daß ein Hauptmotiv, das vor allem in den USA anzutreffen ist, das Phänomen der Beherrschung des Staates durch eine „Elite“, nämlich die Monopolkapitalisten, als Manifestation des „Tiefen Staates“ anzusprechen, Illusionen über das Wesen des „regulären Staates“ bilden.

Es gibt gewisse, vor allem bei US-ameri­kanischen Konservativen verbreitete Idealvorstellungen, die den perfekten Staat im Geist und in den Buchstaben der Verfassung erblicken und jede Abweichung davon für fremd, anomal, usurpatorisch halten. Die „Elite“, die doch einfach nur die aus normalen kapitalistischen Wirtschaften heraus ent­standene Klasse von Monopolkapitalisten ist, erscheint dann als dunkle Macht, die sich auf geheime Verschwörungen und Geheimgesellschaften stützt.

Alternativ ist auch bei manchen US-amerikanischen Konservativen die Auffassung beliebt, die USA hätten sich in Wirklichkeit nie von England unabhängig gemacht und würden heimlich noch immer von England regiert. Ebenfalls anzutreffen ist die Auffassung, daß Israel eigentlich die USA regiere.

Alles läuft daraus hinaus, die konkreten Bedingungen, unter denen der reale Staat notwendig existieren muß, nicht ernstzunehmen. Die Monopolkapitalisten sowohl eines Landes als auch mehrerer Länder treffen garantiert jetzt in diesem Augenblick Geheimabsprachen, bestechen und erpressen in diesem Augenblick Gesetzgeber und Regierungsmitglieder, planen vielleicht eine „bunte Revolution“ etc. Aber alles das erklärt sich einfach aus ihrer Rolle als Monopolkapitalisten und ihren entsprechenden ökonomischen Interessen.

Ich habe bisher nicht von bestimmten Staatsformen gesprochen. Die politische Herrschaft des Kapitals kann dank den zuvor beschriebenen Mechanismen grundsätzlich unter sehr verschiedenen Staatsformen gesichert werden; die dem Kapital angenehmste, seiner klassischen Daseinsweise am besten entsprechende ist aber die parlamentarische Demokratie, (die natürlich auch eine konstitutionelle Monarchie sein kann).

Wenn wir das Wort „Demokratie“ ohne Anführungszeichen gebrauchen wollen, muß klar sein, daß es sich natürlich nicht um eine echte „Herrschaft des Volkes“ handelt, sondern nur um die prinzipielle, formale Möglichkeit aller Teile der Bevölkerung, auf die Staatsgeschäfte Einfluß zu nehmen, durch Wahlen, Rechtsmittel, öffentliche Meinungsäußerung. Tatsächlich spiegelt sich im Parlamentarismus das Prinzip des freien Marktes wider, was von den großen Vordenkern dieses Systems auch explizit so ersehnt wurde: Die Parteien oder Kandidaten konkurrieren um die Gunst der Wähler, und dafür müssen sie die besten politischen Ideen entwickeln, so daß persönliches Machtstreben ungewollt dem Allgemeinwohl dient, ganz analog Adam Smiths „unsichtbarer Hand des Marktes“. Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen ist auch in beiden Sphären derselbe.

Real ist hingegen die Tatsache, daß die Freiheit des Proletariers, als Inhaber der vollen Bürgerrechte über seine Arbeitskraft zu verfügen, also darüber, ob und welchem Kapitalisten er sie andient, im Unterschied zur mittelalterlichen Leibeigenschaft oder zum Zünftewesen, die Grundlage des Kapitalismus bildet. Deshalb war der noch gesunde, vorimperialistische Kapitalismus tatsächlich ein Freund der bürgerlichen Demokratie, und diese Beziehung ist bis heute noch nicht restlos beseitigt. Man darf nicht ignorieren, daß die bürgerliche Demokratie, wenn sie auch grundsätzlich der Sicherung der Kapitalherrschaft dient, eine politische Arena für den Klassenkampf bietet, und es wäre falsch, zu glauben, daß ausnahmslos jedes Gesetz, das in einem bürgerlich-demokratischen Staat verabschiedet wird, den Gesetzgebern von Kapitalvertretern in die Feder diktiert wurde.

Diktatur von Monopolisten

Das Bestreben des Monopolkapitals, die Staatsgewalt direkt als Diktatur zur Unterdrückung der Arbeiterklasse einzusetzen, steigt in ökonomischen Krisenzeiten. Wenn die Profite einbrechen, lechzen die Monopole nach „Extraprofiten“, d. h. außerökonomisch generierten Einnahmen, z. B. durch politisch durchgesetzte Enteignung der Arbeiterklasse, des Kleinbürgertums, selbst kleinerer Kapitalisten und durch gewaltsame Erschließung neuer Rohstoffquellen und Absatzmärkte, also durch volksfeindliche Maßnahmen. Deren Implementierung erfordert ein Zurückschrauben der politischen Einflußnahme der Arbeiterklasse. Im Extremfall führt dies zu einer neuen Staatsform, dem Faschismus.

Der Faschismus wurde von der Kommunistischen Internationale 1934 treffend charakterisiert als „die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, imperialistischen und chauvinistischen Elemente des Finanzkapitals“. (Finanzkapital meint bei Marxisten seit Lenin immer die monopolistische Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital.)

Ich will an dieser Charakterisierung hervorheben, daß sie den Faschismus nicht als die Diktatur des gesamten Finanz- oder Monopolkapitals auffaßt, sondern als Diktatur gewisser extremer Elemente, d. h. einer Gruppe führender Kapitalisten. Tatsächlich zeichneten sich die klassischen Fälle faschistischer Diktaturen, die bisher historisch erschienen sind, dadurch aus, daß sie auch Teilen der Kapitalistenklasse diktatorisch und terroristisch gegenübertraten, z. B. mit der Enteignung jüdischer Kapitalisten. Der Faschismus kommt tatsächlich nicht ohne geheime Verschwörungen zur Welt, denn die Beziehungen zwischen den Elementen des Finanzkapitals und den faschistischen Erfüllungsgehilfen kommt nicht durch den einfachen Gang der ökonomischen Prozesse zustande, sondern erhebt sich über diese.

Die Errichtung und Festigung der faschistischen Diktatur ist ein außergewöhnlicher Kraftakt und bleibt deshalb in vollkommener Gestalt historische Ausnahme. (Was nicht ausschließt, daß die Gefahr des Faschismus jederzeit imminent ist, tatsächlich ist sie derzeit groß.)

Welche Stellung zum bisher Gesagten nimmt nun der „Tiefe Staat“ ein? Die bloße Tatsache, daß in der parlamentarischen Demokratie wirtschaftliche Eliten auf zahlreichen sichtbaren und unsichtbaren Wegen Einfluß auf die Staatsgeschäfte nehmen, ist meiner Meinung nach vornehmlich dem „regulären Staat“ unter Berücksichtigung seiner konkreten Existenzbedingungen zuzuschreiben.

Schnittstellen zum „Tiefen Staat“

In die „Tiefe“ geht es doch da, wo diese ver­deckten Beziehungen ein mit krimineller Energie unterhaltenes, ständiges System bil­den, durch welches die so genannten „Eliten“ der demokratisch verfaßten Gesellschaft ihren Willen aufzwingen oder sie in eine bestimmte Richtung lenken können. Bei diesen „Eliten“ handelt es sich nun wieder nicht um die gesamte Kapitalisten- oder Monopolkapitalistenklasse, sondern um aggressive Elemente derselben, die sich der Öffentlichkeit normalerweise nicht zu erkennen geben werden.

Das Getriebe des „Tiefen Staates“ besteht einfach in der gegenseitigen Durchdringung von Organisierter Kriminalität und sogenanntem politischem Extremismus einerseits und staatlichen Geheimdiensten andererseits. Da die Organisierte Kriminalität mit dem Finanzkapital und die Geheimdienste mit Polizei, Staatsanwaltschaften, Innenministerien, Regierungen und Medien verknüpft sind, ist ein ständiger Kanal abseits der regulären Kanäle für Instruktionen vorhanden. Der „Tiefe Staat“ ist also ein wesentlich faschistisches Element unter der Oberfläche des demokratisch verfaßten Staates.

Ideologisch verworren kann es nun werden, wenn Nazis als Agenten des „Tiefen Staates“ auftreten, wie im Fall des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ oder der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke. Denn daß der „Tiefe Staat“ eine faschistische Erscheinung ist, bedeutet natürlich nicht, daß er sich zwangsläufig aus altmodischen Hitlerverehrern rekrutieren muß. Hier liegt ein Instrument, um gerade die politische Linke aufs Glatteis zu führen.

Aufklärung – eine Aufgabe für Linke

Glaubt ernsthaft jemand, daß neun zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende Morde an türkischen und griechischen Kleingewerbetreibenden in Deutschland auch nur das Geringste mit einer „rassistischen Mordserie“ zu tun haben, ganz zu schweigen davon, daß den natürlich toten Mördern auch noch der Mord an einer deutschen Polizistin in die Schuhe geschoben wurde, dessen Aufklärung unter anderen durch die aufsehenerregende „Wattestäbchenaffaire“ verhindert worden war, abgesehen davon auch, daß DNA-Spuren eines der mutmaßlichen Mörder an der Leiche eines jahrelang vermißten Mädchens gefunden wurden, was dann aber mit einem Fehler der Kriminaltechniker erklärt wurde, und abgesehen von hundert kleineren Merkwürdigkeiten?

Manche Linke glauben es leider, denn die Beschuldigten waren schließlich Nazis, also ist der Fall klar. Und der Kasseler Regierungspräsident Lübcke wurde 2019 ermordet, vier Jahre nachdem er auf einer Bürgerversammlung erklärt hatte, daß jeder, der die der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung angeblich zugrundeliegenden Werte nicht teile, das Recht habe, Deutschland zu verlassen, was natürlich eine bodenlose Frechheit war; aber wie glaubwürdig ist es, daß der als Tatverdächtiger präsentierte angebliche Neo­nazi seine Wut darüber vier Jahre lang im Zaum halten konnte, bevor er zur Tat schritt?

Manche Linke verbitten sich leider jeden Zweifel daran. Da stört es nicht einmal, daß eine schillernde Figur des „NSU“-Falls, der ehemalige V-Mann-Führer Andreas Temme (Spitzname „Klein-Adolf“) eine neue Anstellung just im Kasseler Regierungspräsidium unter Leitung des Gutmenschen Lübcke fand.

Als bekannt wurde, daß eine angeblich beim Zwickauer „NSU“-Trio gefundene Waffe vom gleichen Typ ist und eine ähnliche Seriennummer aufweist wie die Waffe des angeblichen Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz Anis Amri, erklärte Linken-Obfrau im Breitscheidplatz-Untersuchungs­ausschuß des Bundestages Martina Renner:

„Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit terroristische Gruppierungen, seien es Dschihadisten oder Nazis, ihre Waffen aus den gleichen Quellen beziehen.“ Nein, Frau Renner, diese Frage stellt sich da eigentlich nicht mehr. Bedenkt man, daß Oppositionspolitiker sonst nicht auf den Mund gefallen sind, wenn es darum geht, Skandale anzuprangern, ist das doch eine merkwürdige Scheu, die Frage zu formulieren, die sich eigentlich stellt: Sind angebliche islamistische Anschläge und angebliche Nazimorde in Deutschland von derselben Hand gesteuert?

Hier haben Linke noch ein großes unbeackertes Feld vor sich, hier können sie den Herrschenden ein wichtiges Machtinstrument streitig machen, hier können sie zur Weckung eines kritischen Bewußtseins der Massen beitragen. Sie brauchen allerdings ein bißchen Mut.

Außerdem brauchen wir „Schwarmintelligenz“, um die notwendige kriminologische Detailhuberei auf viele Schultern zu verteilen. Ich möchte die Bücher unseres Verbandsgenossen Elias Davidsson empfehlen. Und ich empfehle das Internetforum geomatiko.eu, wo strukturierte, erkenntnisfördernde Diskussionen über mutmaßliche Operationen des „Tiefen Staats“ möglich sind.

Sebastian Bahlo ist stellvertretender Bundesvor­sitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes

 


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Sebastian Bahlo:  Ökonomische Herrschaftsverhältnisse und „Verschwörungen“ im staatsmonopolistischen Klassenstaat (Auszug aus FREIDENKER 2-20, ca. 158 KB)


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  Der Vortrag ist hier als Video verfügbar: https://www.freidenker.org/?p=7354#ref3


Beitragsbild oben: Sebastian Bahlo auf der Konferenz am 16.11.19 in Stuttgart, © arbeiterfotografie.com /
Börse Frankfurt a.M., pixabay.com / geralt / Pixabay License