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Die Hände des Tantalos

Erstveröffentlichung am 25.03.2020 in der Rubrik STANDPUNKTE auf KenFM

Der Beitrag ist auch auf YouTube verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=MkQ-1qPK3G8

STANDPUNKTE • Die Hände des Tantalos

Ein Standpunkt von Dagmar Henn.

Nach 30 Jahren Neoliberalismus benimmt sich der Staat plötzlich wieder als Staat… allerdings nur seinen Bürgern gegenüber. An anderen Stellen wird immer noch so getan, als seien ihm die Hände gebunden. Dabei wäre eine Wiederentdeckung anderer staatlicher Möglichkeiten dringend geboten – der Kontrolle über wirtschaftliche Prozesse.

Die sich entwickelnde Corona-Krise häuft Peinlichkeit über Peinlichkeit. Zwei ganz besonders ausgeprägte Beispiele fanden sich auf der Facebook-Seite (1) des Münchner Privatsenders Radio Gong 96,3. Erst, am 20. März, ein Aufruf an Tattoo-Studios und Schönheitssalons, doch bitte nicht benötigtes Desinfektionsmittel an das Kinderhospiz weiterzureichen; dann, am 22.03., ein Aufruf des Krankenhauses Dritter Orden, ihm doch bitte Mundschutzmasken zu nähen.

Das ist weder für den Sender noch für die Kliniken peinlich, nicht, dass wir uns missverstehen, es ist peinlich für die Behörden dieses Landes, für die gesamte politische Kaste. Denn wenn es ein Land in Europa gibt, das solche Aufrufe nicht nötig haben dürfte, dann Deutschland. Es scheint nur bei den Verantwortlichen völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Denn jegliches Handeln folgt dem Glauben, das, was die heilige unsichtbare Hand des Marktes nicht auf den Tisch legt, darf nicht sein… und so kann es geschehen, das in dem Land, das den größten Chemiekonzern der Welt beheimatet und die Produkte seines Maschinenbaus in die ganze Welt exportiert, in Bezug auf einfache Dinge wie Schutzmasken und Desinfektionsmittel so gehandelt wird, als wären wir ein Land in, sagen wir mal, Zentralafrika, das über nichts davon verfügt und gar keine anderen Möglichkeiten hat, als an den guten Willen einzelner Privatleute zu appellieren.

So ähnlich wurde ja schon seit 2015 gehandelt. Man nahm viele Menschen im Land auf und überließ es dann einer Mischung aus Geschäftemacherei und Zufall, ob und wie sie irgendwo unterkommen, und gab sich dann völlig verblüfft, dass die ohnehin schon hohen Zahlen Wohnungsloser noch weiter nach oben gingen. Weil ein Staat ja kein Wohnungsbauprogramm auflegen kann, um dem abzuhelfen. Weil ein Staat ja nicht wissen kann, dass Menschen, die neu ins Land kommen, auch ein Dach über dem Kopf brauchen werden. Und so ging es weiter, Schritt für Schritt – die Sprachkurse wurden nicht über das öffentliche Schulsystem organisiert, nein, weil man da womöglich Menschen richtig einstellen müsste, ging das über private Sprachschulen, die dann – voraussehbar – vor allem ein Interesse an Anschlussaufträgen und weniger Interesse am Erfolg des Unterrichts hatten; Ausbildungsplätze sollten die Neuankömmlinge so finden wie alle anderen auch, wohl wissend, dass die Ausbildungskapazitäten gerade in der Industrie längst auf das absolute Minimum heruntergefahren wurden, um nicht ja einen zu viel auszubilden.

Klar, das hätte durch staatlich organisierte Berufsausbildungen gelöst werden können, aber dafür hätte man ja Menschen richtig einstellen… Beim Rückblick auf den Umgang mit der letzten – nennen wir es mal nicht Krise, nennen wir es Herausforderung, zeigte sich schon deutlich, dass mit einem vernünftigen, geplanten Herangehen nicht zu rechnen ist.
Leute, spendet doch Desinfektionsmittel… Wir leben in dem Land, das die chemische Industrie einmal erfunden hat. Weiß das noch irgendwer von denen da oben? Wartet man ab, bis die hiesige Industrie das Produkt Desinfektionsmittel für attraktiv genug hält, um ein Angebot zu unterbreiten? Oder will man das gar europaweit ausschreiben, um ja keine der EU-Richtlinien zu verletzen, die vor allem Berlin allen aufs Auge gedrückt hat?

Da steht allen Ernstes der mit der größten Kanone von allen, der Staat, herum und heult uns eins vor, wie hilflos er sei und wie schwierig doch alles ist. Dabei könnte er auf seine große Kanone zeigen und trocken sagen: „Wirtschaft, produziere!“ Ja, das geht. Zu exakt diesem Mittel greift inzwischen sogar Trump in den USA (2). Selbst in gewöhnlichen kapitalistischen Gesellschaften ist die Antwort auf größere Krisen eine zumindest partielle Planwirtschaft, in der der Staat vorgibt, was benötigt wird, was produziert werden muss. So eine kleine Vorgabe an die chemische Industrie, jetzt doch Desinfektionsmittel in den erforderlichen Mengen zu produzieren, wäre ein Schritt in die richtige Richtung; und sollte sich herausstellen, dass eine Firma alleine das nicht kann, dann müssen eben mehrere kooperieren.

Nein, ganz ernsthaft, der Staat müsste nicht einmal zur großen Kanone greifen. Vermutlich nicht einmal anordnen oder enteignen. Wahrscheinlich wäre die leise Drohung ausreichend, Namen und Adressen jener zu veröffentlichen, deren Betriebe trotz vorhandener Möglichkeiten die Kooperation verweigern. Es müssten auch nicht die Lieferanten die Preise bestimmen…

Und übrigens, Maschinenbau. Vermutlich müsste man stundenlange Zwangsvorführungen der Sendung mit der Maus veranstalten, damit endlich der Groschen fällt, was Maschinenbau bedeutet. Im Maschinenbau werden Maschinen gebaut. Diese Maschinen können Dinge herstellen. Man kann also beispielsweise zu Maschinenbauern gehen und sagen: baut mir eine Produktionsstraße für Mundschutzmasken. Weil Maschinenbauer sowas jeden Tag tun, und es in Deutschland ganz viele davon gibt (das muss man so einfach schreiben, damit auch Merkel das versteht), kann das sogar ziemlich schnell gehen, und besonders schnell geht das für einen Kunden, der sich mit Gewalt vordrängeln kann, weil es im allgemeinen Interesse ist.

Oder, noch einmal deutlicher wiederholt – es wäre gelacht, wenn der Weltmeister im Maschinenbau nicht im Stande wäre, innerhalb einer Woche eine moderne Produktionsanlage für etwas so lächerliches wie Mundschutzmasken auf die Beine zu stellen. Gesetzt den Fall natürlich, der Staat erinnert sich daran, dass er so etwas veranlassen kann. Man könnte natürlich auch nachfragen, ob die vollautomatische Turnschuhfabrik von Adidas in Herzogenaurach nicht im Stande ist, vorübergehend mal lebenswichtigere Produkte zu erzeugen.

Schauen wir mal auf einen anderen Punkt. Es kommt mittlerweile zu Problemen im Transportwesen. Warum? Weil es in Deutschland zu wenig LKW-Fahrer (und mittlerweile auch zu wenig LKWs) gibt. Auch hier wurde lange die Ausbildung zurückgefahren, und die überwiegend osteuropäischen Fahrer und Fuhrunternehmen waren schlicht billiger. Nur, jetzt stehen sie nicht zur Verfügung, auf gar keinen Fall im gewohnten Ausmass. Deshalb existieren schon Pläne, die Bundeswehr als Ersatz einzusetzen; könnte sich nur herausstellen, dass auch das nicht reicht.

Aber was soll der ganze Zirkus? Die Ausbildung zum LKW-Führerschein dauert als Intensivkurs zwei Wochen. Die Ausbildungskapazitäten sind da. Warum also nicht an alle, die momentan nicht arbeiten können, weil ihre Arbeitsstätte geschlossen ist, oder die nicht studieren können, weil die Universitäten still stehen, das Angebot, im Austausch gegen eine Arbeitsverpflichtung für einen gewissen Zeitraum einen LKW-Führerschein finanziert zu bekommen?

Das heißt nicht, dass die alle jetzt zu Brummifahrern werden, aber ein momentaner Mangel kann so relativ schnell beseitigt werden, insbesondere, wenn man auch die Ausbildungskapazitäten der Bundeswehr mit einbezieht. Und die LKWs? Werden immerhin in großer Zahl in Deutschland produziert, bei MAN und Daimler etwa, daran sollte es nicht mangeln. Aber nein, da muss die Bundeswehr fahren, und wenn das nicht reicht, wird Merkel die Augen gen Himmel verdrehen wie eine barocke Heiligenfigur und sagen, „wir haben alles in unseren Kräften Stehende versucht.“

Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hat unzählige Stellen geschaffen, an denen jetzt Brüche auftreten können, niemand hat all diese Stellen im Blick, und Abhilfe kann nur durch direktes staatliches Eingreifen geschaffen werden. Ein kleines Beispiel: die städtischen Klinken München haben vor einiger Zeit, gegen jahrelangen Widerstand, ihre eigene Wäscherei abgeschafft und als Auftrag an die Billigsten vergeben, nach europaweiter Ausschreibung, versteht sich. Das Ergebnis war, dass jetzt die eine Hälfte der Wäsche nach NRW, die andere Hälfte nach Österreich geht. Als ich davon das erste Mal hörte, dachte ich nur mit Schrecken an eine Grippewelle mit Schneefall.

Ob die Münchner Kliniken das im Moment noch im Griff haben, weiß ich nicht, aber ich denke, in der jetzigen Lage ist jedem sofort klar, wo da der Hase im Pfeffer liegt: Transport und Grenze… Genau solche Details dürften sich bundesweit an Tausenden unterschiedlicher Stellen finden, und die Lösung besteht in jedem einzelnen Falle nicht in europaweiten Ausschreibungen und monatelangem Abwarten, was der Markt so ausspucken möge, sondern stets in der nötigenfalls erzwungenen Mobilisierung lokaler Ressourcen.

Übrigens, auch Beatmungsgeräte fallen in die Kategorie Maschinenbau. Eine der größten Medizintechnikfirmen weltweit heißt – kleiner Trommelwirbel – Siemens. Das heißt, die haben zumindest Pläne und Patente für solche Maschinen. Auch die könnte ein Staat an andere Maschinebaufirmen geben, um auf dieser Grundlage eine vermehrte Produktion zu beginnen. Die Kapazitäten im Maschinenbau sind grundsätzlich groß genug, um ganz Europa damit zu versorgen. Man müsste nur bei den üblichen deutschen Gemischtwarenläden, die halb Maschinenbau, halb Rüstung betreiben, die Trennwand wieder ein wenig weg von den Granaten für die Kriege der Welt hin zur friedlichen Produktion verschieben. Und, man kann es nicht oft genug sagen, ein Staat kann das anordnen, der muss da nicht bitte-bitte machen und sich auch nicht erpressen lassen. Schon zweimal, wenn dieser selbe Staat durchaus im Stande ist, Ausgangsbeschränkungen zu verhängen und das ganze gewöhnliche Leben still stehen zu lassen.

In den griechischen Sagen gibt es eine Gestalt namens Tantalos, die im dortigen Gegenstück zur christlichen Hölle, dem Tartaros, ganz besonderen Qualen ausgesetzt wurde. Er war an einen Obstbaum gefesselt, und stand bis zum Kinn im Süßwasser. Aber immer wenn er nach den Früchten greifen wollte, die vor seinem Gesicht hingen, schnellten die Äste nach oben, und immer, wenn er den Kopf senkte, um Wasser zu trinken, sank der Wasserstand. Die sprichwörtlichen Tantalusqualen bestanden also darin, alles, was man benötigt, ständig unmittelbar vor Augen zu haben und dennoch Hunger und Durst zu leiden.

Bezogen auf das Potential dieses Landes leiden wir gerade Tantalusqualen. Nur, dass dieser Tantalos gar nicht an den Baum gefesselt ist. Er redet sich das nur ein. Oder er hat es so lange allen anderen eingeredet, dass er es inzwischen selbst glaubt. Die Hände des Staates sind nicht gebunden. Es sind Merkel und ihresgleichen, die um jeden Preis so tun wollen, als seien sie es. Der Preis beziffert sich in diesem Fall in Menschenleben.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

Quellen:

  1. https://www.facebook.com/radiogong96.3/
  2. https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/coronavirus-donald-trump-will-gesetz-zur-kriegswirtschaft-aktivieren-a-076e74f3-b35c-473b-b5ee-ebfe8a80fce4

Bild: Tantalusqualen, Kupferstich von Bernard Picart (1673–1733) [Ausschnitt] Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/archive/3/3c/20170822173742%21Tantal.jpg, Gemeinfrei