Weltanschauung & Philosophie

Über den Begriff des Anthropozäns

Aus: FREIDENKER Nr. 4-19, Dezember 2019, 78. Jahrgang, S. 49-54

von Sebastian Bahlo

Das Philosophische Wörterbuch von M. Buhr und G. Klaus führt vier Bedeutungen des Begriffs Natur an, die wie folgt kurz paraphrasiert seien: 1. alles, was außerhalb des Bewußtseins existiert, gleichbedeutend mit Materie; 2. die den gesellschaftlichen Bewegungsformen gegenüberstehenden Bewegungsformen der Materie; 3. alles unabhängig von der Tätigkeit des Menschen entstandene; 4. Natur im Sinne von Wesen.

Oft müssen mehrere dieser Bedeutungen gemeinsam gedacht werden, wenn von Natur gesprochen wird. Sprechen wir vom Mensch-Natur-Verhältnis, denken wir zunächst an die 2. und 3. Bedeutung. Wie verhält sich der Mensch zu den physikalischen, chemischen, biologischen Bedingungen seiner Existenz – 2., und wie verhält er sich zu seiner vorgefundenen Umwelt – 3.?

Doch ein Begriff der Natur, der sie dem Menschen als ein schlechthin Anderes gegenüberstellt, ist nicht nur unvollständig, sondern falsch. Fragen wir tatsächlich nur nach dem Verhältnis des Menschen zu seinen ursprünglichen Lebensgrundlagen und seinem Verhältnis zur nichtmenschlichen Umwelt, so kann die Frage von Spezialwissenschaften (Naturwissenschaften, Ökonomie) vollständig beantwortet werden, aber nur deskriptiv und unter Annahme gewisser Vorgaben, was zu gegebener Zeit und an gegebenem Ort als Gesetz menschlichen Handelns zu gelten hat.

Um das Gesetz menschlichen Handelns selbst kritisch zu untersuchen und normative Erkenntnisse zu gewinnen, muß man sich in die Philosophie begeben. Philosophisch jedoch kann die Natur nicht willkürlich dem Menschen gegenübergestellt werden, sondern der Mensch (und zwar nicht nur als biologisches, sondern als gesellschaftliches Wesen) muß selbst als Teil der Natur begriffen werden. Als die menschliche Gesellschaft einschließend läßt sich die Natur aber nur in der 1. Bedeutung denken. Fragen wir aber nach dem Verhältnis des Menschen zu einer Natur, der er selbst angehört, so mündet dies in die Frage nach seiner eigenen Natur, Bedeutung Nr. 4.

Das Auftreten des Menschen in der Welt als eines mit Bewußtsein begabten Lebewesens entspricht dem Erreichen einer gewissen Entwicklungsstufe der Materie. Wodurch zeichnet sie sich aus?

Unbelebte Materie gehorcht, (soweit wir sie erforscht haben), physikalischen und chemischen Gesetzen. (Diesen mögen andere, noch nicht entdeckte Gesetzmäßigkeiten zugrundeliegen.) Die phyiskalisch-chemi­schen Elementarprozesse unterliegen der Zufälligkeit des Eintretens und der Reversibilität. Gesetzmäßige zeitliche Entwicklung findet nur makroskopisch statt, im statistischen Gleichgewicht riesiger Häufigkeiten individueller Reaktionen. Mit zunehmender Komplexität der Moleküle und ihrer Wechselwirkungssysteme wächst jedoch allmählich die individuelle Bedeutung des einzelnen Moleküls.

Entstehung von Leben

Auf einer bestimmten Stufe der chemischen Komplexität entsteht Leben, zunächst in Gestalt einzelner Zellen. Die Zelle ist ein bestimmtes Dasein, das als Stoffwechselsystem aufgefaßt werden muß. Während einzelne Moleküle in jedem Augenblick verändert, entfernt und ersetzt werden, bleibt das Gesamtsystem eine gewisse Zeit lang konstant, verändert sich in, verglichen mit den chemischen Wechselwirkungen, gigantischen Zeiträumen im Rahmen des Lebenszyklus der Zelle. Auf dieser Gesetzmäßigkeit gründet die Einheit der Zelle, die durch die zahllosen sie konstituierenden chemischen Prozesse hindurch erhalten bleibt.

Die Revolution des Lebens besteht in der Vermehrung. Eine Zelle kann eine neue Zelle nach ihrem Bilde hervorbringen, aber nicht nur nach ihrem Bild, sondern sie vererbt ihr auch ihre Daseinsweise, also den chemischen Stoffwechselprozeß und selbst wieder die Fähigkeit zur Fortpflanzung. Dies führt zu einer rasanten Besiedlung der Erdoberfläche mit Lebewesen. Das zelluläre Leben gehorcht neuen Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht erschöpfend durch die zugrundeliegenden physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten beschreiben lassen. Eine neue Daseinsform der Materie mit eigenen Bewegungsgesetzen ist erschienen, deren Beschreibung der Biologie zufällt.

Das so charakterisierte zellbiologische Leben bildet eine immense Vielfalt immer komplexerer Formen aus, bis sich mit der Entstehung des Zentralen Nervensystems (ZNS) im Tierreich ein weiterer revolutionärer Umschlag vollzieht. Bisher waren die Reaktionen der Lebewesen auf Umwelteinflüsse rein zellbiologisch determiniert. Das ZNS ermöglicht es, unter Berücksichtigung zahlreicher Informationen aus der Außenwelt und dem Organismus autonom zu entscheiden, welche Reaktion unter jeweils gegebenen Bedingungen Priorität hat. Das ZNS ist so veranlagt, daß sein Wirken die Erhaltung der Art sowie die Selbsterhaltung der Organismen fördert. Mit der Entwicklung des ZNS geht die Ausbildung von Trieben, Instinkten der Lebewesen einher; diese stellen ein neues Bewegungsprinzip der Materie dar, das Gegenstand der Verhaltensforschung oder Ethologie ist.

Das Auftreten des Menschen in der Entwicklungsgeschichte ist ein kompliziertes Ereignis. Es zu begreifen setzt bereits eine erste Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? voraus. Der Mensch geht aus der biologischen Evolution der Lebewesen hervor, tritt in die Welt als biologisch determiniertes Wesen, also als Tier, erhebt sich aber unter Ausnutzung seiner biologischen Anlagen über das biologisch bestimmte Dasein. Auch der einzelne Mensch kommt, entsprechend dem Zusammenhang von Phylogenese und Ontogenese, in einem tierischen Zustand auf die Welt, aus dem er durch das Erlernen der Kulturtechniken herauswächst.

Biologie und Kultur

Fraglich ist jedoch, ob die biologischen Anlagen des Menschen – die Beschaffenheiten des Gehirns, des Skeletts, der Hände, des Kehlkopfes, des Zungenbeins u. a. –, die ihm die Beherrschung der Kulturtechniken so glücklich erleichtern, schon vor der Entwicklung dieser Techniken (zufällig?) fertig durch die biologische Entwicklung herausgebildet waren, oder ob sie sich gemeinsam mit dieser Kulturentwicklung und mit ihr wechselwirkend gebildet haben. Letzterer Annahme neigte Darwin in seinem Buch „Die Abstammung des Menschen“ (1871) zu, wo er ausdrücklich vererbbare „Wirkungen des vermehrten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs von Teilen“ annimmt.

Noch weiter geht Engels in seinem berühmten Fragment „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ (1876): „(S)o ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt.“ „(D)ie werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam, aber sicher um (…)“. Diese Hypothesen sind von der Wissenschaft lange nicht gezielt weiterverfolgt worden, weil das unselige „Zentrale Dogma der Molekularbiologie“ einen Riegel vorschob, wonach die DNS die Baupläne aller Eiweiße und damit des Organismus ent­hält, und dessen Anwendung auf die Evolutionsbiologie gebot, daß nur rein zufällige Mutationen der DNS durch natürliche Selektion in langfristige erbliche Umgestaltungen der Arten einfließen könnten und insbesondere im Lauf des individuellen Lebens erworbene Eigenschaften niemals erblich werden könnten; eine gesetzmäßige Rückwirkung der Lebensbedingungen auf die Evolution der Lebewesen wurde also nur in extrem langen Zeiträumen für möglich gehalten.

Dank umfassender moderner Einsicht in das komplizierte Wechselwirkungssystem von Nukleinsäuren und Eiweißen im Vererbungs- und „Exprimierungs“-Prozeß ist das „Zentrale Dogma“ jedoch unhaltbar geworden und steht kurz davor, endgültig vom Sockel gestoßen zu werden. Dies wird weitreichende Folgen, auch für die neuerliche Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der kulturellen und der biologischen Entwicklung des Menschen haben.

Bewußtsein und Ökonomie

Für das Verhalten des Menschen ist das Bewußtsein von entscheidender Bedeutung als einer neuen Daseinsform der Materie. Das Bewußtsein hat Vorläufer im Tierreich. Es übertritt die Schwelle zu einer neuen Qualität durch seine Funktion bei der Arbeit – Arbeit ist nach Marx „gesellschaftlich vermittelter Stoffwechsel mit der Natur“, (Natur hier in der 3. Bedeutung als vorgefundene Umwelt verstanden). Das menschliche Bewußtsein und mit ihm der Mensch kann nur in diesem gesellschaftlich vermittelten Stoffwechsel mit der Natur verstanden werden.

Mit dem Menschen beginnt wieder ein neues Bewegungsprinzip der Materie zu wirken: das ökonomische. Als gesellschaftlich arbeitendes, die vorgefundene Umwelt bewußt umgestaltendes Wesen erhebt sich der Mensch nicht nur über das ihm vorgehende Instinktwesen, sondern über die biologische Sphäre überhaupt. Denn allen rein biologischen Lebensformen ist gemeinsam, daß sie an die vorgefundene Umwelt erblich angepaßt sind. Der Mensch paßt die Beziehung zwischen seiner Lebensweise und der Umwelt unabhängig von seinen biologisch ererbten Eigenschaften seinen veränderlichen Bedürfnissen an. So wie das chemische Bewegungsgesetz auf dem physikalischen und wie das biologische auf dem chemischen, so beruht auch das ökonomische Bewegungsgesetz auf dem biologischen. Wie jedoch die Chemie nicht hinreichend die biologischen Gesetzmäßigkeiten beschreibt, so beschreibt die Biologie nicht hinreichend die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten.

Die menschliche Gesellschaft ist nicht denkbar ohne ihre bewußte Beziehung zur vorgefundenen (und auch zum stets wachsenden Teil der bereits umgestalteten) Umwelt, die Arbeit und die Verteilung der Arbeitsprodukte. Der dem Marxismus oft vorgeworfene „Ökonomismus“ besteht in nichts anderem als darin, diese fundamentale Bedeutung des Mensch-Natur-Verhältnisses für die Natur des Menschen anzuerkennen.

Stoffwechsel mit der Natur

Das ökonomische Bewegungsprinzip der Materie wirkt nicht nur in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als einer Summe von Menschen, sondern es schließt auch den ganzen gesellschaftlich vermittelten Stoffwechselprozeß mit der Natur ein. Feuerstelle, Pfeil und Bogen, Keramik, domestiziertes Vieh und Getreide, Streitwagen, Dampfmaschine, Computer, Äcker und Weiden, Straßen und Schienen, Suez- und Panamakanal, künstliche Satelliten und Raumstationen – alle diese und zahllose weitere Gestalten nimmt die Materie nur dank des ökonomischen Bewegungsprinzips an.

Mitnichten „reduziert“ der Marxismus die menschliche Gesellschaft auf das Ökonomische, sondern er dehnt sie auf ihr Verhältnis zur Natur aus. Der Begriff der Gesellschaft bleibt eine einseitige, reduzierte Abstraktion, solange ihre permanente bewußte Wechselwirkung mit der Natur nicht als ihre Existenzbedingung verstanden wird – ganz so, wie wenn der Begriff des Fischs davon absähe, daß er im Wasser lebt.

Andererseits bleibt auch der Begriff der Natur eine falsche Abstraktion, solange er entsprechend seiner 2. und 3. Bedeutung der Gesellschaft und dem vom Menschen Geschaffenen kategorisch gegenübergestellt wird.

Mit welchem Recht heißt das Kulturgetreide „unnatürlich“? Das aus Erz geschmolzene Eisen? Der gentechnisch veränderte Mais? Erstens sind es die „natürlichen“, vom Menschen vorgefundenen, entdeckten Eigenschaften der Ausgangsstoffe, die in der Herstellung der fertigen Erzeugnisse nutzbar gemacht werden. Zweitens ging das ökonomische Bewegungsprinzip aus dem biologischen hervor wie einst das biologische aus dem chemischen. Es war die gesetzmäßige Entwicklung der chemischen Sphäre, die aus sich selbst heraus in das biologische Entwicklungsprinzip umschlug, welches jedoch die Chemie negiert, auf den Kopf stellt, indem sich über die allgegenwärtigen unablässigen chemischen Verwandlungen die beständige Einheit des Organismus erhebt.

Das Leben ist also gegenüber der chemischen Welt höchst „unnatürlich“. Und doch liegt dieses Negieren der alten Natur selbst in der Natur der Materie. Die Negierung des biologischen Entwicklungsprinzips durch den Menschen hat einen analogen Charakter. Sie stellt den Bruch mit einer bestimmten Stufe der Naturentwicklung dar, freilich durch diese selbst herbeigeführt, aber nicht mit der Natur überhaupt, denn die Ausbildung immer höherer Daseinsweisen der Materie – das ist die Natur. Auch die Industrieprodukte sind in diesem allgemeineren Sinn auf natürliche Weise entstanden.

Das Wirtschaften des Menschen, d. h. die bewußte Umgestaltung der Natur einschließlich der menschlichen Gesellschaft selbst, stellt eine gesetzmäßige Entwicklungsstufe der Materie, der Natur dar. Geologen haben den Begriff des Anthropozäns zur Benennung des gegenwärtigen Erdzeitalters vorgeschlagen. Wenn auch nicht unproblematisch in ihrer Intention und erst recht nicht in ihrer Begrenzung, scheint diese Begriffsbildung doch für die oben bestimmte Epoche der Naturentwicklung durchaus attraktiv.

Anthropozän?

Die Philosophie des Anthropozäns ist mit ontologischen, gnoseologischen und ethischen Fragestellungen konfrontiert. Der Mensch ist das erste Lebewesen, das stets bewußt handelt, also in allem, was er tut, prinzipiell aufgrund der Entscheidung handelt, von allen möglichen Handlungen gerade die eine vorzunehmen. (In dieser Entscheidung ist er alles andere als frei, aber das ändert nichts daran, daß er sie trifft.) Die Instinktwesen können zwar je nach Situation verschieden reagieren, aber die Zwecke dieser Reaktionsmuster sind ihnen eingeboren, nicht hinterfragbar. So ergibt sich von allen Lebewesen nur für den Menschen die Frage nach dem Sollen. Angewendet auf das Anthropozän lautet die Frage: In welcher Weise, nach welchen Maßstäben soll der Mensch die Natur umgestalten?

Von dem, was jetzt Ökologie heißt, hören wir immer, daß wir die Natur „bewahren“, „Ressourcen schonen“ müßten, usw. Das ist einseitig. Natürlich müssen wir die Natur (d. i. die vormenschliche, vorökonomische Natur) bewahren. Der nächstliegende Grund dafür ist unser Interesse, unsere eigenen Lebensgrundlagen zu bewahren. Dies ist im Kern ein ökonomisches Interesse, das über die gewöhnliche (und besonders über die kapitalistische) Ökonomie insoweit hinausgeht, daß es weiter blickt und sich auf größere Zeiträume bezieht. Selbst die Bewahrung der Natur um ihrer Schönheit, ihres Reichtums willen oder aus Ehrfurcht vor ihrer Gewaltigkeit ist auf menschliches Interesse, natürlich weniger rohes Interesse als das eigentlich ökonomische zurückzuführen.

Doch ein kategorischer Imperativ zur Naturbewahrung, der von menschlichem Interesse unabhängig ist, läßt sich rational nicht herleiten, er bedarf einer fremden rechtsetzenden Macht, und so verwundert es nicht, daß die Ökologie ein großes Einfallstor für religiöse und idealistische Anschauungen in der Gesellschaftswissenschaft ist.

Es ist übrigens keineswegs sicher, daß der Mensch durch ungebremsten technologischen Fortschritt die vorgefundene Natur in einem immer größeren Ausmaß zerstören muß, wie folgende Gegenbeispiele zeigen.

Durch die Nutzbarmachung von kohlenstoffhaltigen Brennstoffen aus der Tiefe der Erde wurde die Notwendigkeit der Abholzung von Wald zur Brennstoffgewinnung verringert. Der für eine bestimmte Energiemenge nötige Eingriff in die Umwelt fällt also kleiner aus als zuvor. Durch Nutzbarmachung der Atomkraft läßt sich aus einem Kilogramm Natururan soviel Energie wie aus 20 Tonnen Steinkohle gewinnen, was den erforderlichen Eingriff in die Umwelt pro Energieeinheit weiter deutlich verringert hat. Molekularbiologische Eingriffe in die erblichen Eigenschaften von Nutzpflanzen können den Einsatz umweltschädlicher Pestzide überflüssig machen. Diesen Effekten steht natürlich die absolute Zunahme der Produktion entgegen, doch im Allgemeinen kann gesagt werden, daß erweiterte Fähigkeiten zur Umgestaltung der Natur die Naturbewahrung begünstigen.

Umgestaltung

Dem Menschen das Recht zur Umgestaltung der Natur kategorisch absprechen zu wollen, wäre nicht nur rational nicht begründbar, sondern es wäre auch angesichts der oben hergeleiteten Stellung des Menschen in der Naturgeschichte unsinnig. Die Veränderung ist die Natur der Natur. Es gehen Stadien der Naturgeschichte aus sich selbst heraus in höhere über, kompliziertere Bewegungsgesetze der Materie entstehen auf Grundlage früherer. Jedesmal geschieht eine Umgestaltung der alten Natur. Die Lebewesen haben die Beschaffenheit der Erdoberfläche, der Erdkruste und der Erdatmosphäre, wie sie aus dem physikalisch-chemischen Bildungsprozeß des Sonnensystems hervorgegangen waren, radikal verändert.

Als das Leben entstand, gab es keinen molekularen Sauerstoff in der Atmosphäre oder im Wasser. Die ersten Lebewesen waren daher Anaerobier, deren Reaktionsmechanismen zur Energiegewinnung aus Kohlenwasserstoffen, weniger effizient, andere Stoffe als Sauerstoff verbrauchten. Dann trat eine Entwicklung ein, die man wohl als industrielle Revolution bezeichnen muß: Durch Photosynthese wurden einige Lebewesen in die Lage versetzt, Sonnenenergie in chemische Energie umzuwandeln. Bei diesem Prozeß wird Kohlenstoffdioxid abgebaut und molekularer Sauerstoff freigesetzt. Die erfolgreiche Ausbreitung der zur Photosynthese fähigen Organismen führte zu zwei Entwicklungen:

Einer radikalen Umgestaltung der Atmosphäre und Hydrosphäre – der hohe Kohlenstoffdioxidgehalt wurde auf den jetzigen Stand eines Spurengases reduziert, demgegenüber wurde der Anteil des vorher nicht existenten molekularen Sauerstoffs auf extreme Konzentrationen gebracht; da der molekulare Sauerstoff für viele anaerobe Organismen giftig war, setzte ein gewaltiges, vielleicht bis dahin einmaliges Artensterben ein. War das nicht fürwahr ein „Ökozid“ auf dem Altar der modernen Technik, der Photosynthese? Und dies ist nur einer von vielen folgenden dramatischen und kleineren Veränderungen der Ökosysteme durch die Entstehung und Ausbreitung neuer, erfolgreicher Lebensformen.

In der Natur gibt es keinen dauerhaften Zustand, zu dessen Bewahrung der Mensch sich verpflichten könnte. Die Natur ist Entwicklung, und der Mensch ist Produkt und Motor dieser Entwicklung in einem. Die Natur in einem fixen Zustand erhalten zu wollen, hieße ihr immanentes Gesetz negieren, hieße wider die Natur handeln. Statt der Pflicht zur Bewahrung könnte man mit gleichem Recht eine Pflicht zur radikalen Umgestaltung der Natur proklamieren.

Daß der Mensch bewußt auf eine Natur einwirken kann, der er selbst angehört, daß er Produkt dieser Natur und Fortsetzer ihres Entwicklungswegs ist, allerdings im besonderen Stadium ihrer bewußten Umgestaltung, und daß er sich über die Richtung und das Ziel dieser Entwicklung zu verständigen hat, will er seiner „naturgeschichtlichen Mission“ gerecht werden, das macht die eigentümliche Dialektik der politischen Ökologie aus.

Um diese Probleme zu lösen, braucht die Menschheit ein einheitliches kollektives Interesse. Sie muß die Klassengegensätze beseitigen, um den ökologischen Verständigungsprozeß beginnen zu können. Erst wenn der Mensch die ökonomischen Gesetze beherrscht und seine Selbstentfremdung überwunden hat, wird er wissen, was der moderne, die Natur umgestaltende Mensch eigentlich ist und sein will, erst dann kann er auch die Entfremdung von der Natur überwinden, erst dann kann er erkennen, in welcher Weise er die Natur umgestalten soll.

Die „naturgeschichtliche Mission“ des Menschen ist kein allein aus den früheren Entwicklungsstufen der Natur abzuleitendes Gesetz. Sie wird in der Menschheitsgeschichte selbst entwickelt. Doch nicht in der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ (Marx), der Klassengesellschaft. Die ausgebeuteten Menschenmassen haben zwar ein anderes Verhältnis zur Natur als die kleine Parasitenschicht, aber deswegen weder das richtige noch das falsche. Umweltschutz kann in bestimmten Fällen ein Motiv für den antikapitalistischen Kampf sein, in anderen Fällen profitieren die Kapitalisten davon.

Daß menschliche Industrie für eine Zunahme von Wetterkatastrophen verantwortlich sei, ist nicht bewiesen. Aber selbst wenn das stimmt, ist es nicht rational, den Schluß zu ziehen, daß eine weltweite Beschränkung des industriellen „Treibhausgas“-Ausstoßes die negativen Folgen für den ärmeren Teil der Weltbevölkerung mildern könnte. Nur industrielles Wachstum, das notwendig mit „Treibhausgas“-Emission einhergeht, kann diese negativen Folgen mildern. Völlig falsch ist es daher, die Ökologie in den gleichen Rang wie die soziale Frage zu setzen. Der Kapitalismus wird am Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zugrunde gehen, nicht an der Umweltzerstörung.

Sebastian Bahlo, Frankfurt am Main, ist Mathematiker und
stellv. Bundesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes


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Sebastian Bahlo: Über den Begriff des Anthropozäns (Auszug aus FREIDENKER 4-19, ca. 389 KB)


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