
Odessa – kein Vergessen
Am 02.05.2025 fand in Berlin eine Gedenkveranstaltung „Odessa – kein Vergessen“ statt. Wir dokumentieren die Reden von Ingrid Koschmieder und Dr. Hartmut König und fügen eine kleine Bildergalerie bei.
Webredaktion
Mich ängstigt eine verheerende Geschichtsverfälschung
Rede von Ingrid Koschmieder
gehalten auf der Gedenkveranstaltung „Odessa – kein Vergessen“ am 02.05.2025 in Berlin
Seid alle, die ihr trotz Regenwetters hierher gefunden habt, herzlich begrüßt !
Odessa ist ein Symbol für politisches Unrecht in der Ukraine geworden. Ein anderes Symbol sind die Brüder Kononowisch von der Kommunistschen Partei der Ukraine, die seit Jahren politisch verfolgt sind.
Nun hat nach der Zeitspanne von elf Jahren vor ein paar Wochen das höchste Menschenrechtsgericht der EU ein Urteil zu den brutalen Ausschreitungen Anfang Mai 2014 in Odessa gefällt. Dieses Urteil hilft, sich ein klares Bild von den beweisbaren Vorgängen zu machen. Der Rechtsstaatlichkeit der Ukraine stellt es ein schlechtes Zeugnis aus: keine Schutzmaßnahmen im Vorfeld, obwohl gewaltsame Zusammenstöße absehbar waren, unerklärliche Verzögerungen bei der behördlichen Hilfe, später bei Gerichtsverfahren, unerklärliche Freisprüche, Verfahrenseinstellungen, ein „Abwarten“ bis zur Verjährung usw. usf.
Was geschah am 2. Mai 2014 in Odessa?
Hunderte gewaltbereite Hooligans und Neofaschisten wurde nach Odessa transportiert, um dort Jagd auf Kritiker des Maidan-Putsches zu machen, die seit Wochen ein Protestcamp vor dem Gewerkschaftsgebäude organisierten. Die Aktivisten hatten ihrerseits von Angriffsplänen auf sie erfahren und wollten sich und das Protestcamp schützen.
Es kam zuerst zu Straßenschlachten mit Schusswechseln im Zentrum Odessas, bei denen 6 Menschen getötet wurden, zwei Regierungsanhänger und vier Anti-Maidan-Aktivisten. Wie bekannt, gelang es letzteren nicht, die Übergriffe auf das Camp, das in Brand gesetzt wurde, abzuwehren. Hunderte flüchteten ins Gewerkschaftshaus; dort kamen 42 Menschen zu Tode und über 200 wurden verletzt, zum Teil schwer. Die Todesursachen konnten nur teilweise geklärt werden.
Nach der absichtlich verspäteten Löschung des Brandes wurden weitere 64 Menschen im Gebäude inhaftiert, inhaftiert wurden überhaupt nur Oppositionelle.
Noch 17 Tage lang war das Gewerkschaftshaus und der Platz davor frei zugänglich. Deshalb konnten keine Beweismittel gesichert werden.
Die ukrainischen Behörden beeilten sich nun, das Urteil anzukennen und sicherten die Umsetzung der anhängigen Verfahren zu. Die vielen Fehler wurden den Behörden unter den vorherigen Regierungen zugeschrieben. Das Justizsystem befinde sich im Aufbau – seit 2014! Erklärungen für die vielen „Unerklärlichkeiten“ gab es nicht.
Politischer Hintergrund
Der politische Hintergrund, dass es um die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern des von den USA gelenkten Staatsstreichs ging, wird im Urteil ausgespart. Im Donbass, in Mariupol und weiteren Orten wurden Rathäuser und Polizeistationen besetzt. Große Teile der russisch-sprachigen Bevölkerung im Osten und Südosten des Landes wollten keine scharfe Ablehnung von Russland und des Russischen hinnehmen. Diese Bewegung sollte mit allen Mittel unterdrückt werden. Die Verfolgung und Nötigung der politischen Opposition wurde seither weiter perfektioniert.
Das hält unsere Politiker und Medien nicht davon ab zu behaupten, die Ukraine sei demokratisch und verteidige „unsere Werte“, vorzugsweise gegen Russland. Diese Verzerrung der Realität vorort verbindet uns – vor allem in Deutschland – in irritierender Weise mit der Ukraine.
Im Hinblick auf die jüngere deutsche Geschichte ängstigt mich eine verheerende Geschichtsverfälschung. Die Anführer der damaligen ukrainischen Freiwilligenverbände der Wehrmacht im 2.WK werden heute in der Ukraine als Nationalhelden verehrt! Deren Mega-Verbrechen sind unter den Teppich gekehrt, ihre langjährige Unterstützung in den westlichen Besatzungzonen Deutschlands durch deutsche und US-Stellen wird, sogar schon vor der Gründung der BRD 1949, verschwiegen oder gleich geleugnet.
Die Verletzung des Friedensgebots des Grundgesetzes auf unbestimmte Zeit, auch des 2+4-Vertrages, durch Hochrüstung und unentwegte Eskalation der Spannungen zu Russland verändert das Verhältnis Deutschlands zum Völkerrecht und zur UNO, zur Welt insgesamt auf verstörende Weise. Kriegsfähigkeit, das Wort Göbbels‘, ist in der Öffentlichkeit gängig geworden. Das verbindet Deutschland mit dem gegen seine Bevölkerung aggressiven ukrainischen Regime. Odessa 2014 hält uns den Spiegel vor über die neue Normalität. Unwillkürlich kommt mir der Schwur von Buchenwald in den Sinn:
„Wir werden den Kampf erst aufgeben, wenn der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist. – Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.“
Danke!
Ingrid Koschmieder ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes, Landesverband Berlin
Bewahren wir uns den Glauben in die völkerverbindende Kraft der Literatur
Rede von Dr. Hartmut König
gehalten auf der Gedenkveranstaltung „Odessa – kein Vergessen“ am 02.05.2025 in Berlin
Direktlink zum Video von AntikriegTV auf odyssee.com: https://odysee.com/@anti-kriegTV:a/aufstehen:e
Ich bin hier, um mit Euch der Opfer des antirussischen Massakers im Gewerkschaftshaus von Odessa zu gedenken, Opfer, die vor dem Ukrainekrieg zu beklagen waren.
Die Geschichte lehrt uns, wo Bücher vernichtet werden, da werden im schlimmsten Fall auch Menschen vernichtet. Vernichtet in der Ukraine sind die Bücher von Dostojewski, Gogol, Gorki oder Majakowski. Die Menschen, die in Odessa verbrannt wurden, wollten diese ihre Sprache nicht preisgeben.
Die Literatur Puschkins oder Dostojewskis, sagte 2022 die Direktorin des Ukrainischen Literaturinstituts, seien sehr schädliche, verstörende Literatur, denn sie hätten die Grundlage der „russischen Welt“ gelegt.
Was da als Altpapier geschreddert wurde, las und liest ansonsten die ganze Welt. Der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko, der den russischen Literaten Dostojewski, Nekrassow oder Leskow so nahestand, die ihm auch das letzte Geleit gaben, würde sich im Grabe umdrehen, müsste er mit ansehen, wie die Werke seine Geistesgefährten aus ideologischer Verblendung zerhäckselt werden.
Ich bitte uns alle: Bewahren wir uns den Glauben in die völkerverbindende Kraft der Literatur.
Lesen wir mit Genuss gerade jetzt wieder Taras Schewtschenko, der seine Ukraine so liebte, dass er jeden Nationalismus scheute, dessen Verse von bedeutenden russischen Komponisten vertont wurde und der in seinem berühmt gewordenen Gedicht „Sapowit“ (Vermächtnis) schrieb:
Wenn ich sterbe, sollt zum Grab ihr
Den Kurgan mir bereiten.
In der lieben Ukraine.
Auf der Steppe, der breiten,
Wo man weite Felder sieht,
Den Dnepr und seine Hänge,
Wo man hören kann sein Tosen.
Die Übersetzung stammt von der antifaschistischen deutschen Schriftstellerin Hedda Zinner, geschrieben im sowjetischen Exil während der Nazizeit. Vertrauen wir dem völkerverbindenden Gestus der Literatur heute und für die Zeit danach, wenn Frieden sein wird!
Zum Abschluss möchte ich Euch noch ein Gedicht lesen, das ich für den bevorstehenden Jahrestag der Befreiung geschrieben habe.* Es erzählt die Geschichte eines neunzehnjährigen Rotarmisten, der kämpfend von Stalingrad bis Berlin gekommen war, den am Brandenburger Tor die letzte Kugel des Krieges traf, der aber weiterleben will, um uns eine Mahnung auf den Weg zu geben.
Birke im Mai
Neunter Mai. Gestern wurde ich hundertundeins.
Die Lieder sind alle gespielt.
Ging noch einmal am Ufer der Wolga entlang.
Auf Patronenhülsen wie Muscheln und Tang.
Habe wieder den Krieg gefühlt.
Weiter oben die Birke steht immer noch fest.
Und das Wort, das ich einschnitt, wurd groß.
Ich war siebzehn. Ein Junge. Im Graben ein Mann,
dreiundvierzig beim Sieg am Mamajew Kurgan.
Und so zogen wir westwärts los.
Birke im Mai. Der blutige Schnee
ist getaut. Die Erde liegt still.
Ich weiß, was geschah. Erinnerung schreit.
Und Trauer zieht ihre Spur durch die Zeit,
weil sie niemals mehr heilen will.
Sah die Hungerskelette in Leningrad.
Partisanen erstochen im Korn.
Die verscharrten Juden in Babyn Jar.
In Auschwitz Gebirge von menschlichem Haar.
Und die Mörder drei Schusslängen vorn.
In Berlin Untern Linden stand noch das Tor.
Und dahinter war Maigrün zu sehn.
Da traf mich die letzte Kugel des Kriegs.
Ich sah nicht mehr die Fahne des Siegs
auf den Dächern vom Reichstag wehn.
Birke im Mai. Der blutige Schnee
Ist getaut. Die Erde liegt still.
Ich weiß, was geschah. Die Erinnerung schreit.
Und Trauer zieht ihre Spur durch die Zeit,
weil sie niemals mehr heilen will.
Neunter Mai. Gestern wurde ich hundertundeins.
Die Lieder sind alle gespielt.
Ging noch einmal am Ufer der Wolga entlang.
Auf Patronenhülsen wie Muscheln und Tang.
Habe wieder den Krieg gespürt.
Weit oben die Birke steht immer noch fest.
Das Wort, das ich einschnitt, heißt MIR.
Dass Frieden nun einkehrt für alle Zeit.
In jedem Haus und weltenweit.
Ihr Lebenden, kämpft dafür!
Hartmut König (2025)
Dr. Hartmut König ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes
* Anmerkung: Das Gedicht wurde aufgrund des Wetters nicht mehr verlesen. Stattdessen verwies Hartmut König auf seinen Auftritt am Folgetag.
Bildergalerie
alle Fotos: privat
Bild ganz oben: privat