Reaktionen auf Putin-Interview: Die große Dunning-Kruger-Show
David Dunning und Justin Kruger entdeckten um die Jahrtausendwende, dass oft die am wenigsten Kompetenten besonders selbstsicher sind. Nun, die selbstsichere Inkompetenz ist zu neuer Höchstform aufgelaufen. Und pflegt das Misstrauen gegen Kompetente.
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 12.02.2024 auf RT DE
Der Dunning-Kruger-Effekt ist die Kurzform einer psychologischen Paradoxie. Und auch wenn es Forscher gibt, die zumindest das Ausmaß des Effekts anzweifeln, eine längere Beobachtung der Wirklichkeit liefert eher Bestätigungen. Kurz gesagt: Dunning und Kruger stellten fest, dass Selbsteinschätzung und tatsächliche Leistung zwei Linien bilden, die sich kreuzen; wobei jene, deren Leistung schwach ist, sich eher über-, und jene, deren Leistung stark ist, sich eher unterschätzen.
Die ursprüngliche Untersuchung bezog sich nicht auf allgemeine Intelligenz, sondern auf Kenntnisse in einem spezifischen Fachgebiet. Aber man kann diese Erkenntnis durchaus verallgemeinern, und der Grund ist sehr simpel – Selbstzweifel setzen Intelligenz voraus.
Sie nehmen sogar weiter zu, wenn die Intelligenz zunimmt. Während andererseits wirklich Dumme nicht einmal wissen, was Selbstzweifel sind, und die banalste Begründung ihnen genügt, sofern das Ergebnis mit ihren eigenen unmittelbaren Interessen harmoniert. Lebendes Beispiel dafür ist Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die vermutlich schon an der Aussprache des Wortes „Selbstzweifel“ scheitern würde.
Aber eigentlich soll es hier ja um das Putin-Interview gehen, und um die westlichen Reaktionen darauf. Dabei spielt der Dunning-Kruger-Effekt allerdings eine gewaltige Rolle. Und eine unheimliche Nebenwirkung, die er hat – dass die Intelligenteren auf die weniger Intelligenten grundsätzlich bedrohlich wirken. Und zwar völlig unabhängig davon, ob sie mit ihren Argumenten recht haben oder nicht, und ob ihre Handlungen mit ihren Argumenten übereinstimmen oder nicht. Weil diese Reaktion unbewusst stattfindet.
Ich gehe mal davon aus, dass das Interview selbst bekannt ist. Verglichen mit seinen Reden hat der russische Präsident Wladimir Putin sogar einfach argumentiert, man könnte sagen, die Informationsdichte pro Zeiteinheit war niedriger, als sonst bei ihm üblich. Auch Tucker Carlson hat sich zurückgenommen; wer ihn öfter gesehen hat, weiß, dass auch er immer nur einen Teil seines Wissens preisgibt. Eine Art intellektuelle Camouflage, die man häufig findet, und die ein wenig neugierig macht, was die beiden miteinander gesprochen haben, als die Kamera aus war und die Notwendigkeit entfiel, für ein allgemeines Publikum verständlich zu bleiben.
Es war ein sehr klassisches Interview, und Carlson tat das, was gute Interviewer tun: Er nahm sich zurück, um seinem Gesprächspartner Raum zu geben. Eine Herangehensweise, die einmal journalistischem Selbstverständnis entsprach, da der Zweck eines Interviews schließlich nicht darin besteht, die eigene Überzeugung des Interviewers zu dokumentieren, sondern dem Zuhörer oder -schauer die Möglichkeit zu verschaffen, selbst zu einem Urteil zu kommen.
Und niemanden überrascht es noch, dass genau diese Haltung als verwerflich gesehen wird. Als Musterbeispiel für die unzähligen Kommentare, von Boris Johnsons „Lügengewebe“ bis hin zum „nützlichen Idioten“, den auch der Focus in Carlson sieht, mag der Kommentar der Tagesschau von Demian von Osten dienen:
„Putins Halbwahrheiten und verzerrte Narrative bleiben ohne Einordnung und ohne Widerspruch einfach so stehen.“
Da ist sie, die geliebte „Einordnung“, der Denkverhinderungsmechanismus, die offizielle Meinungsvorgabe. Nicht, dass von Osten bezüglich der behaupteten „Halbwahrheiten und verzerrten Narrative“ irgendetwas lieferte, das einem Argument auch nur entfernt ähnelte. Aber von Osten ist nun einmal Journalist der Tagesschau, das steht vermutlich ebenso automatisch für die Wahrheit wie das Amt eines Dominkaner-Inquisitors im 16. Jahrhundert.
Weshalb er seinen Kommentar auch in der Aufforderung gipfeln lässt, von der Frucht vom Baume der Erkenntnis nicht zu kosten:
„Über zwei Stunden Interview, das für den normalen Zuschauer eine Zumutung ist und doch nichts Neues bringt. Das Beste, was man tun kann, ist es einfach zu ignorieren.“
Interessant an diesem Kommentar ist, dass er sich selbst und seine unübersehbare Abneigung gegen Geschichte gleich als Modell für den „normalen Zuschauer“ nimmt. Von Osten ist niemand, der sich durch geistige Herausforderungen locken lässt, oder gibt sich zumindest so. Er ist auch niemand, der sich versucht fühlte, die historischen Informationen, die Putin genannt hat, zu überprüfen.
Als „langjähriger Moskau-Korrespondent“ sollte er die erforderlichen Fakten eigentlich im Kopf haben, weil die Lektüre von ein, zwei Büchern über russische Geschichte die Voraussetzung für diese Tätigkeit sein sollte. Wäre dem so, und wäre Putins Darstellung tatsächlich falsch gewesen, hätte er ja mühelos ein, zwei Punkte in seinem Kommentar erwähnen und damit seine eigene Ablehnung begründen können. Er reiht lieber eine Behauptung an die andere.
Aber nun zu Dunning-Kruger. Eine zentrale Aussage, die von Osten zu Putins Ausführungen macht, lautet:
„An sämtliche getätigten Aussagen von ihm muss man sowieso ein großes Fragezeichen setzen.“
Nun, wenn man sich die Mühe macht, Putins Reden und die tatsächliche russische Politik zu beobachten, über einige Jahre hinweg, fällt einem auf, dass Aussagen und Handlungen zueinander passen, und die Aussagen in der Regel um Einiges konkreter sind, als man es derzeit von westlichen Politikern gewohnt ist, die sich gerne in Sprechblasen und Wertegeschwalle ergehen.
Natürlich könnte es sein, dass von Osten nur um das Verständnis jener buhlt, die ungerne Informationen aufnehmen und am Liebsten vom Nachdenken verschont bleiben. Dass er nur die Botschaft weitergeben will, Fragen, die sich aufdrängen, zu ignorieren und die eigene Neugier zu zügeln. Dass all seine Formulierungen, wie, „Putins Geschichtsmonolog dürfte eher abschrecken“ oder „Wer will sich schon mit der mittelalterlichen Geschichte auf dem Territorium der Ukraine im Detail beschäftigen?“ nur den Eindruck vermitteln sollen, er sei so, wie er seine Zuschauer darstellt.
Der letzte Satz könnte sogar ein Hinweis in diese Richtung sein, schließlich hat er es nicht über sich gebracht, von einer „mittelalterlichen Geschichte der Ukraine“ zu schreiben, also immerhin noch Hemmungen, völligen Unfug zu formulieren. Aber der ganze Text hat so einen gewissen Tonfall: Unwissenheit ist Stärke.
Die eine Seite der Haltung, die von Osten geradezu begrüßt, lautet, doch bitte nicht mit Fakten belästigt zu werden. Welch ein Abstieg für die Tagesschau, deren satzungsgemäßer Auftrag wäre, den Bürgern des Landes dabei zu helfen, selbst ein informiertes Urteil zu fällen, und nicht, ihnen ein Urteil vorzubeten! Welch ein Armutszeugnis für das Land, dass derartige Kommentare in einem bedeutenden Medium möglich sind!
Aber es gibt eben noch eine zweite Seite. Von Osten schreibt so, als wäre ein Verweis auf die Geschichte grundsätzlich verdächtig. Als wäre Argumentation verdächtig. Und das ist der Moment, in dem Dunning-Kruger zuschlägt. Paradox, wie üblich.
Weil die grundlos Selbstsicheren eben ihr eigenes Handeln nicht in Frage stellen, nicht gegenüber einer inneren Instanz begründen müssen, verstehen sie jene nicht, die für jedes Handeln nachvollziehbare Gründe brauchen. Es gibt nur eine Ausnahmesituation, in der auch sie, gezwungenermaßen und entsprechend ungern, sich Argumente zurechtlegen – wenn sie etwas angestellt haben, das gravierend genug ist, dass sich ihr Gewissen meldet.
Nun, es gibt Menschen, denen bereitet das Denken Vergnügen, und es gibt solche, denen es Schmerzen zu bereiten scheint. Oder Angst. Oder es fehlten die geistigen Erfolgserlebnisse. Oder sie sind schlicht nicht dafür gerüstet. Auf jeden Fall resultiert dies in einem tiefen, beständigen Misstrauen gegenüber allen, die ihnen zu schlau scheinen.
Es ist im Grunde eine kindliche Sicht, weil die eigene Erfahrung einfach auf andere übertragen wird. Weil sie selbst nur dann über Gründe nachdenken, warum sie etwas tun wollen oder getan haben, wenn sie sich vor Strafe retten wollen, gehen sie davon aus, dass das bei anderen ebenso sein muss; dass also eine logische, klare, überzeugende Begründung des Handelns gleichsam Schuld schon voraussetzt. Und je klarer die Begründung ist, desto heimtückischer ist die eigentliche Absicht oder desto verwerflicher die begangene Verfehlung. Jede Argumentation erweckt bei ihnen den Eindruck verborgener Motive, weil die einzige Argumentation, mit der sie wirklich vertraut sind, die Ausrede ist.
Das ist eine kognitive Falle, denn das Bemühen um eine Vermittlung der Wahrheit erzeugt einen Eindruck der Lüge. Ein Punkt, von dem aus man sich in ganz andere Gefilde bewegen könnte. Etwa, ob die in vielen unterschiedlichen Religionen und Kulturen vorzufindenden Techniken der Gewissensbefragung nicht ein Trick sind, um auch jene, die an einem Mangel an Selbstzweifeln leiden, gewissermaßen durch Übung an die Grundlagen des Gedankenaustauschs heranzuführen, und der Verzicht auf jede Variante der Selbstrechtfertigung, wie er die aktuelle westliche Kultur prägt, am Ende zu einem Triumph der Dummheit führt. Und zwar nicht nur, weil die ungeheure Selbstsicherheit, die mit ihr einhergeht, schwer zu übertreffen ist, sondern auch, weil gerade das vernünftige, klar begründete Handeln einen wahren Abgrund an Verdächtigung auslöst.
Was natürlich dadurch, dass jeder Mensch mit einer Intelligenz oberhalb des Durchschnitts schnell lernt sich äußerlich anzupassen, noch gefördert wird, weil das simple Motiv, dadurch Aggressionen der Dümmeren zu entrinnen, von diesen nicht wahrgenommen wird. Wenn es keine kulturelle Vorgabe gibt, die den Verstand begrüßt und fördert, entsteht eine sich selbst verstärkende Schleife aus Zurückweisung und Verdächtigung.
Allerdings ist die Nutzung eines solchen Mechanismus für Zwecke der Propaganda alles andere als unschuldig. Und auch in den Beschimpfungen, die mittlerweile all jenen gewidmet werden, die an falscher Stelle zu viel oder womöglich überhaupt nachdenken – Russlandversteher, Putintrolle, Querdenker und dergleichen – steckt dasselbe Misstrauen mit denselben Wurzeln wie gegenüber dem dämonisierten russischen Präsidenten selbst. Der schon alleine deshalb die ideale Projektionsfläche für all diese paradoxen Empfindungen ist, weil er gar keinen Grund hat, sich dümmer zu geben als er ist (etwas, was er im Interview selbst sogar den beiden US-Präsidenten Bush attestierte). Und weil er natürlich als ein Politiker, der seinen Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig ist (ja, so etwas gibt es, Herr Scholz), sein Handeln in jedem Punkt begründen kann.
Was auf der Skala der Ausreden-Denker geradezu die Apotheose des Bösen sein muss. Und denjenigen, der versucht, die emotionalisierte Propaganda zu durchbrechen, die täglich aus den Hauptmedien rinnt, vor ein geradezu unlösbares Problem stellt. Denn emotionale Überwältigung lässt sich nur mit Vernunft wirklich durchbrechen; aber wenn Vernunft auf das Ausreden-Problem des Dunning-Kruger-Effekts trifft, löst sie eine entgegengesetzte Wirkung aus, sie kann die Propaganda nicht mehr entwaffnen, sondern verstärkt sie noch.
Was eine Erklärung dafür liefern könnte, warum die Wahrnehmung der Welt in unterschiedlichen Teilen der deutschen Gesellschaft immer weiter auseinanderfällt, aber weder einen Ansatz bietet, das Dilemma der Aufklärung zu lösen, noch, eine Kultur des Arguments wiederherzustellen. Denn dafür bräuchte es eine Gesellschaft, in der Verstand und Vernunft mehr zählen als Willfährigkeit und Reichtum; und nie war Deutschland davon weiter entfernt als heute.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
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Foto: Mark Dixon from Pittsburgh, PA , CC BY 2.0
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