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Die Grundsatzrede des russischen Außenministers Lawrow im UN-Sicherheitsrat im O-Ton

Der russische Außenminister Lawrow hat im UN-Sicherheitsrat eine Grundsatzrede zur Ukraine-Krise und zum Verhältnis des Westens zum Völkerrecht gehalten, deren Inhalt die deutschen Medien natürlich verschweigen werden. Daher habe ich die Rede komplett übersetzt.

von Anti-Spiegel (d.i. Thomas Röper)

Erstveröffentlichung am 21.09.2023 auf anti-spiegel.ru

Die Rede, die Außenminister Lawrow im UN-Sicherheitsrat gehalten hat, dürfte eine der wichtigsten Reden der letzten Zeit gewesen sein, denn er hat den russischen Standpunkt zur Ukraine-Krise, zum Völkerrecht und zum Verhalten des US-geführten Westens im Detail dargelegt.

Die Rede zeigt übrigens auch den Unterschied zwischen russischen und westlichen Politikern, denn Lawrow hat alle seine Ausführungen mit konkreten Bestimmungen des Völkerrechts untermauert und ausführlich daraus zitiert, während westliche Politiker in der UNO infantile Phrasen dreschen und Parolen wiederholen, was man an den Reden, die Bundeskanzler Scholz, der ukrainische Präsident Selensky oder US-Präsident Biden am gleichen Tag vor der UN-Generalversammlung gehalten haben, sehr schön sehen konnte.

Daher habe ich die komplette Rede von Lawrow übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

Herr Präsident! Herr Generalsekretär, liebe Kollegen,

die bestehende internationale Ordnung wurde auf den Trümmern und den Ergebnissen der kolossalen Tragödie des Zweiten Weltkriegs errichtet. Ihr Fundament war die UN-Charta, das Schlüsselelement des modernen Völkerrechts. Es ist vor allem der UNO zu verdanken, dass ein neuer Weltkrieg mit einer nuklearen Katastrophe abgewendet werden konnte.

Leider hat sich der „kollektive Westen“, angeführt von den USA, nach dem Ende des Kalten Krieges willkürlich zum obersten Richter über die Geschicke der Menschheit aufgeschwungen und, getrieben von einem Exzeptionalismuskomplex, das Vermächtnis der UN-Gründerväter immer häufiger ignoriert.

Heute beruft sich der Westen selektiv auf die Normen und Grundsätze der Charta, von Fall zu Fall, ausschließlich nach seinen egoistischen geopolitischen Bedürfnissen. Das führt unweigerlich dazu, dass die globale Stabilität untergraben wird, bestehende Spannungsherde verschärft und neue angeheizt werden. Auch die Risiken eines globalen Konflikts nehmen zu. Gerade um sie einzudämmen und die Ereignisse in eine friedliche Richtung zu lenken, hat Russland darauf bestanden und besteht darauf, dass alle Bestimmungen der UN-Charta nicht selektiv, sondern in ihrer Gesamtheit und in ihrer Wechselbeziehung beachtet und angewandt werden, einschließlich der Grundsätze der souveränen Gleichheit der Staaten, der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten, der Achtung der territorialen Integrität und des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung. Das Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten stellt eine systematische Verletzung des in der Charta verankerten Gleichgewichts der Anforderungen dar.

Seit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Gründung unabhängiger Staaten an ihrer Stelle haben sich die USA und ihre Verbündeten unverhohlen und unverfroren in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt. Wie die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland Ende 2013 öffentlich und sogar stolz zugab, hat Washington fünf Milliarden Dollar ausgegeben, um in Kiew Politiker zu fördern, die dem Westen gegenüber gehorsam sind.

Alle Fakten des „Engineerings“ der Ukraine-Krise sind seit langem bekannt, aber sie versuchen, sie auf jede erdenkliche Weise zu vertuschen, um die ganze Geschichte vor 2014 zu „canceln“. Aus diesem Grund könnte das Thema des heutigen Treffens, das vom albanischen Vorsitz vorgeschlagen wurde, nicht passender sein und ermöglicht es uns, die chronologische Kette der Ereignisse zu rekonstruieren, gerade im Zusammenhang mit der Haltung der Hauptakteure zur Umsetzung der Grundsätze und zu den Zielen der Charta der Vereinten Nationen.

In den Jahren 2004 und 2005 hat der Westen, um einen pro-amerikanischen Kandidaten an die Macht zu bringen, den ersten Staatsstreich in Kiew genehmigt und das ukrainische Verfassungsgericht zu der rechtswidrigen Entscheidung gezwungen, einen dritten Wahlgang abzuhalten, der in der Verfassung des Landes nicht vorgesehen war. Während des zweiten Maidan in den Jahren 2013 und 2014 wurde die Einmischung in die inneren Angelegenheiten noch deutlicher. Damals ermutigten eine ganze Reihe von westlichen Reisenden die Teilnehmer an den regierungsfeindlichen Demonstrationen direkt zu gewalttätigen Aktionen. Dieselbe Victoria Nuland sprach mit dem US-Botschafter in Kiew über die Zusammensetzung der künftigen Regierung, die von den Putschisten gebildet werden sollte. Gleichzeitig wies sie die EU auf ihren tatsächlichen Platz, den sie in der Weltpolitik aus der Sicht Washingtons hat. Wir alle erinnern uns an ihren anzüglichen Zwei-Worte-Satz. Es ist bezeichnend, dass die EU ihn „geschluckt“ hat.

Im Februar 2014 wurden von den Amerikanern ausgewählte Personen zu den Hauptakteuren der blutigen Machtergreifung, die – ich erinnere daran – einen Tag nach der unter den Garantien Deutschlands, Polens und Frankreichs erzielten Einigung zwischen dem rechtmäßig gewählten Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, und den Führern der Opposition organisiert wurde. Der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten wurde immer wieder mit Füßen getreten.

Unmittelbar nach dem Staatsstreich erklärten die Putschisten, dass es ihre unbedingte Priorität sei, die Rechte der russischsprachigen Bürger der Ukraine zu beschneiden. Und die Bewohner der Krim und des Südostens des Landes, die sich weigerten, die Ergebnisse der verfassungswidrigen Machtergreifung zu akzeptieren, wurden zu Terroristen erklärt und es wurde eine Strafaktion gegen sie eingeleitet. Als Reaktion darauf wurden auf der Krim und im Donbass Referenden abgehalten, die in vollem Einklang mit dem in Artikel 1 Absatz 2 der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker standen.

Westliche Diplomaten und Politiker verschließen in Bezug auf die Ukraine die Augen vor dieser wichtigsten Norm des Völkerrechts und versuchen, den gesamten Hintergrund und das Wesen der Geschehnisse auf die Unzulässigkeit der Verletzung der territorialen Integrität zu reduzieren.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass in der 1970 einstimmig angenommenen Erklärung der Vereinten Nationen über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen festgelegt ist, dass der Grundsatz der Achtung der territorialen Integrität für „Staaten gilt, die in ihrem Handeln den Grundsatz der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker beachten (…) und infolgedessen Regierungen haben, die (…) alle in ihrem Hoheitsgebiet lebenden Völker vertreten“.

Dass die ukrainischen Neonazis, die in Kiew die Macht ergriffen haben, die Bevölkerung der Krim und des Donbass nicht vertreten, bedarf keines Beweises. Und die bedingungslose Unterstützung der westlichen Hauptstädte für die Aktionen des verbrecherischen Regimes in Kiew ist nichts weniger als eine Verletzung des Grundsatzes der Selbstbestimmung nach einer groben Einmischung in die inneren Angelegenheiten.

Die Verabschiedung rassistischer Gesetze, die alles Russische verbieten – Bildung, Medien, Kultur, die Zerstörung von Büchern und Denkmälern, das Verbot der ukrainisch-orthodoxen Kirche und die Beschlagnahmung ihres Eigentums -, die auf den Staatsstreich unter der Herrschaft von Poroschenko und dann Selensky folgten, waren ein eklatanter Verstoß gegen Artikel 1.3 der UN-Charta über die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle – ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Sprache oder Religion. Ganz zu schweigen davon, dass diese Maßnahmen in direktem Widerspruch zur ukrainischen Verfassung stehen, in der die Verpflichtung des Staates zur Achtung der Rechte von Russen und anderen nationalen Minderheiten festgeschrieben ist.

Wenn wir die Forderungen hören, die „Friedensformel“ umzusetzen und die Ukraine in die Grenzen von 1991 zurückzuführen, stellt sich die Frage: Sind diejenigen, die das fordern, mit den Erklärungen der ukrainischen Führung darüber vertraut, was sie mit den Bewohnern der betroffenen Gebiete zu tun gedenkt?

In der Öffentlichkeit, auf offizieller Ebene, wird ihnen immer wieder mit der juristischen oder physischen Vernichtung gedroht. Der Westen hält seine Schützlinge in Kiew nicht nur nicht zurück, sondern ermutigt ihre rassistische Politik sogar enthusiastisch.

In ähnlicher Weise haben übrigens die EU- und NATO-Mitglieder jahrzehntelang das Vorgehen Lettlands und Estlands unterstützt, die die Rechte Hunderttausender russischsprachiger Einwohner, die als „Nicht-Bürger“ bezeichnet werden, missachten. Jetzt sprechen sie schon ernsthaft über die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortung für den Gebrauch der eigenen Muttersprache. Hochrangige Beamte erklären offiziell, dass die Verbreitung von Informationen über die Möglichkeit, dass dortige Schüler russische Fernstudiengänge belegen können, fast als Bedrohung der nationalen Sicherheit zu betrachten ist und die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden erfordert.

Zurück zur Ukraine. Der Abschluss des Minsker Abkommens im Februar 2015 wurde durch eine Sonderresolution des Sicherheitsrats gebilligt – in voller Übereinstimmung mit Artikel 36 der Charta, der „jedes Verfahren zur Beilegung einer Streitigkeit, das von den Parteien akzeptiert wurde“, unterstützt. In diesem Fall von Kiew, der DNR und der LNR.

Im vergangenen Jahr haben jedoch alle Unterzeichner des Minsker Abkommens mit Ausnahme von Wladimir Putin, also Merkel, Hollande und Poroschenko, öffentlich und sogar freudig zugegeben, dass sie bei der Unterzeichnung des Dokuments nicht die Absicht hatten, es umzusetzen. Sie wollten nur Zeit gewinnen, um das militärische Potenzial der Ukraine zu stärken und das Land mit Waffen gegen Russland aufzurüsten. All die Jahre haben die EU und die NATO die Sabotage des Minsker Abkommens direkt unterstützt und das Kiewer Regime zu einer gewaltsamen Lösung des „Donbass-Problems“ gedrängt. Dies geschah unter Verletzung von Artikel 25 der Charta, wonach alle Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichtet sind, „die Beschlüsse des Sicherheitsrates zu befolgen und auszuführen“.

Ich erinnere daran, dass die Staats- und Regierungschefs Russlands, Deutschlands, Frankreichs und der Ukraine als Teil des Pakets mit dem Minsker Abkommen eine Erklärung unterzeichnet haben, in der sich Berlin und Paris unter anderem dazu verpflichtet haben, bei der Wiederherstellung des Bankensystems im Donbass zu helfen. Aber sie haben keinen Finger gerührt. Sie haben lediglich zugesehen, wie Poroschenko entgegen all diesen Zusagen eine Handels-, Wirtschafts- und Transportblockade gegen den Donbass verhängte. In derselben Erklärung verpflichteten sich Berlin und Paris, zur Stärkung der trilateralen Zusammenarbeit im Rahmen des Formats EU-Russland-Ukraine beizutragen, um Russlands Bedenken in Handelsfragen konkret anzugehen und „die Schaffung eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik“ zu fördern. Auch diese Erklärung wurde vom Sicherheitsrat gebilligt und unterlag dem bereits erwähnten Artikel 25 der UN-Charta. Doch selbst diese Verpflichtung der Staats- und Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs erwies sich als „leer“, das war ein weiterer Verstoß gegen die Grundsätze der Charta.

Andrej Gromyko, der legendäre Außenminister der UdSSR, sagte zu Recht: „Besser zehn Jahre Verhandlungen als einen Tag Krieg“. Diesem Grundsatz folgend haben wir viele Jahre lang verhandelt, den Abschluss von Vereinbarungen im Bereich der europäischen Sicherheit angestrebt, die NATO-Russland-Grundakte gebilligt, 1999 und 2010 auf höchster Ebene die OSZE-Erklärungen zur Unteilbarkeit der Sicherheit angenommen und seit 2015 auf der bedingungslosen Umsetzung des Minsker Abkommens bestanden, das das Ergebnis der Verhandlungen war. Alles geschah in voller Übereinstimmung mit der UN-Charta, die verlangt, „die Bedingungen für Gerechtigkeit und die Einhaltung der Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts zu gewährleisten“. Unsere westlichen Kollegen haben gegen diesen Grundsatz verstoßen, als sie all diese Dokumente unterzeichneten, obwohl sie im Voraus wussten, dass sie sie nicht einhalten würden.

Apropos Verhandlungen. Wir geben sie auch jetzt nicht auf. Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich bei vielen Gelegenheiten dazu geäußert, auch kürzlich. Ich möchte den verehrten US-Außenminister daran erinnern, dass Präsident Selensky ein Dekret unterzeichnet hat, das Verhandlungen mit Putins Regierung verbietet. Wenn die USA so sehr daran interessiert sind, wäre es meines Erachtens nicht schwierig, „das Kommando“ zu geben, dass Selenskys Dekret aufgehoben wird.

Heute hören wir in der Rhetorik unserer Gegner nur Parolen: „Invasion, Aggression, Annexion“. Kein Wort über die Ursachen des Problems, darüber, dass sie seit vielen Jahren ein offen nazistisches Regime fördern, das den Ausgang des Zweiten Weltkriegs und die Geschichte seines eigenen Volkes offen umschreibt. Der Westen weicht einem sachlichen Gespräch aus, das auf Fakten beruht und alle Anforderungen der UN-Charta respektiert. Offenbar hat er keine Argumente für einen ehrlichen Dialog.

Es entsteht der Eindruck, dass die Vertreter des Westens Angst vor professionellen Diskussionen haben, die ihre Demagogie entlarven. Während sie die territoriale Integrität der Ukraine beschwören, schweigen die ehemaligen Kolonialmächte zu den Beschlüssen der Vereinten Nationen, wonach Paris das „französische“ Mayotte an die Union der Komoren zurückgeben und London sich aus dem Chagos-Archipel zurückziehen und mit Buenos Aires Verhandlungen über die Malwinen aufnehmen muss. Diese „Verfechter“ der territorialen Integrität der Ukraine geben nun vor, sich nicht mehr an die Bedeutung des Minsker Abkommens zu erinnern, das die Wiedervereinigung des Donbass in die Ukraine mit Garantien für die grundlegenden Menschenrechte, vor allem das Recht auf die eigene Muttersprache, vorsah. Indem der Westen die Umsetzung verhindert hat, trägt er die direkte Verantwortung für den Zerfall der Ukraine und die Anzettelung des Bürgerkriegs in der Ukraine.

Unter den anderen Grundsätzen der UN-Charta, deren Einhaltung eine Sicherheitskrise in Europa verhindern und dazu beitragen könnte, vertrauensbildende Maßnahmen auf der Grundlage eines Interessenausgleichs zu vereinbaren, möchte ich Kapitel VIII, Artikel 2 der Charta nennen. Darin ist die Notwendigkeit verankert, die Praxis der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten durch regionale Organisationen zu entwickeln.

Im Einklang mit diesem Grundsatz hat sich Russland gemeinsam mit seinen Verbündeten stets für die Herstellung von Kontakten zwischen der OVKS und der NATO eingesetzt, um die praktische Umsetzung der oben genannten OSZE-Gipfelbeschlüsse von 1999 und 2010 über die Unteilbarkeit der Sicherheit zu erleichtern, in denen es insbesondere heißt, dass „kein Staat, keine Staatengruppe oder Organisation die Hauptverantwortung für die Wahrung von Frieden und Stabilität im OSZE-Gebiet übernehmen oder einen Teil dieses Gebiets als seinen Einflussbereich betrachten darf“.

Jeder weiß, dass die NATO genau das getan hat: sie hat versucht, sich in Europa und nun auch im asiatisch-pazifischen Raum einen Vorteil zu verschaffen. Die zahlreichen Appelle der obersten Gremien der OVKS an das Nordatlantische Bündnis wurden jedoch ignoriert. Der Grund für diese arrogante Haltung der USA und ihrer Verbündeten ist, wie heute jeder sehen kann, ihre mangelnde Bereitschaft, mit irgendjemandem einen gleichberechtigten Dialog zu führen. Hätte die NATO die Kooperationsvorschläge der OVKS nicht abgelehnt, hätte sie viele der negativen Prozesse vermeiden können, die zur gegenwärtigen europäischen Krise geführt haben, weil sie sich jahrzehntelang geweigert haben, Russland zuzuhören oder es betrogen haben.

Wenn wir heute auf Anregung des Vorsitzes über „effektiven Multilateralismus“ diskutieren, sollten wir die zahlreichen Fakten der genetischen Ablehnung gegenüber jeder Form von gleichberechtigter Zusammenarbeit durch den Westen nicht vergessen. Nehmen wir nur Josep Borrells Ausspruch, Europa sei „ein blühender Garten, umgeben von einem Dschungel“. Das ist ein rein neokoloniales Syndrom, das die souveräne Gleichheit der Staaten und die Aufgaben zur „Stärkung der Grundsätze der UN-Charta durch einen wirksamen Multilateralismus“ verachtet, die uns heute zur Diskussion gestellt wurden.

In dem Bestreben, die Demokratisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu verhindern, privatisieren die USA und ihre Verbündeten immer unverhohlener und unverfrorener die Sekretariate internationaler Organisationen und schleichen sich in die Beschlüsse zur Schaffung untergeordneter Mechanismen ein, die zwar kein Mandat haben, aber das Recht beanspruchen, diejenigen anzuklagen, die Washington aus irgendeinem Grund nicht gefallen.

In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die UN-Charta nicht nur von den Mitgliedstaaten, sondern auch vom Sekretariat unserer Organisation strikt eingehalten werden muss. Nach Artikel 100 der Charta ist das Sekretariat verpflichtet, unparteiisch zu handeln und darf von keiner Regierung Weisungen entgegennehmen.

Wir haben bereits über Artikel 2 der Charta gesprochen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf seinen wichtigsten Absatz 1 lenken: „Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.“ In Weiterentwicklung dieses Grundsatzes bestätigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der von mir erwähnten Erklärung vom 24. Oktober 1970 „das unveräußerliche Recht eines jeden Staates, sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System ohne Einmischung von irgendeiner Seite selbst zu wählen“.

In diesem Zusammenhang haben wir ernsthafte Fragen zu den Aussagen von Generalsekretär Guterres vom 29. März dieses Jahres, dass „autokratische Herrschaft keine Stabilität garantiert, sondern ein Katalysator für Chaos und Konflikte ist“, dass aber „starke demokratische Gesellschaften zur Selbstheilung und Selbstverbesserung fähig sind. Sie können einen Wandel, sogar einen radikalen Wandel, ohne Blutvergießen und Gewalt herbeiführen“.

Man kann nicht umhin, sich an die „Veränderungen“ zu erinnern, die durch die aggressiven Abenteuer der „starken Demokratien“ in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und vielen anderen Ländern herbeigeführt wurden.

Der ehrenwerte Antonio Guterres sagte weiter: „Sie – die Demokratien – sind Zentren einer umfassenden Zusammenarbeit, die auf den Grundsätzen der Gleichheit, der Teilhabe und der Solidarität beruht.“

Es ist bemerkenswert, dass alle diese Reden auf dem von Präsident Biden außerhalb der UNO einberufenen „Gipfel für Demokratie“ gehalten wurden, dessen Teilnehmer von der US-Regierung nach ihrer Loyalität ausgewählt wurden. Der Loyalität nicht so sehr gegenüber Washington, sondern gegenüber der regierenden Demokratischen Partei in den USA. Der Versuch, solche Foren zu nutzen, um globale Fragen zu erörtern, steht in direktem Widerspruch zu Artikel 1 Absatz 4 der UN-Charta, in dem es heißt, dass „die Rolle der Organisation als Zentrum für die Koordinierung von Maßnahmen zur Erreichung gemeinsamer Ziele gewährleistet werden muss“.

Entgegen diesem Prinzip haben Frankreich und Deutschland vor einigen Jahren ein „multilateralistisches Bündnis“ ausgerufen, zu dem sie auch nur die eingeladen haben, die gehorchen, was an sich schon das Fortbestehen der kolonialen Mentalität und die Haltung der Initiatoren gegenüber dem Prinzip des „effektiven Multilateralismus“ auf unserer aktuellen Agenda bestätigt. Gleichzeitig wurde das „Narrativ“ der EU als Ideal für eben diesen „Multilateralismus“ gepflanzt. Jetzt gibt es Forderungen aus Brüssel, die Zahl der EU-Mitglieder so schnell wie möglich zu erweitern, insbesondere um die Balkanländer.

Aber das wichtigste Pathos gilt nicht Serbien oder der Türkei, die sich seit Jahrzehnten in aussichtslosen Beitrittsverhandlungen befinden, sondern der Ukraine. Josep Borrell, der sich als Ideologe der europäischen Integration ausgibt, hat kürzlich nicht gezögert zu sagen, dass das Kiewer Regime so schnell wie möglich in die EU aufgenommen werden sollte. Wäre der Krieg nicht gewesen, hätte es Jahre gedauert, aber so ist es möglich und notwendig, ohne irgendwelche Kriterien. Serbien, die Türkei und andere können warten. Aber Nazis nehmen sie in der EU außer der Reihe auf.

Übrigens verkündete der Generalsekretär auf demselben „Gipfel für Demokratie“: „Die Demokratie ergibt sich aus der UN-Charta. Die ersten Worte der Charta – ‚Wir, die Völker‘ – spiegeln die grundlegende Quelle der Legitimität wider: die Zustimmung derer, die regiert werden.“

Es wäre hilfreich, diese These mit der „Bilanz“ des Kiewer Regimes in Verbindung zu bringen, das einen Krieg gegen einen großen Teil seines eigenen Volkes entfesselt hat, gegen jene Millionen von Menschen, die nicht damit einverstanden waren, von Neonazis und Russophoben regiert zu werden, die unrechtmäßig die Macht im Land übernommen und das vom UN-Sicherheitsrat gebilligte Minsker Abkommen zu Grabe getragen haben, wodurch die territoriale Integrität der Ukraine untergraben wurde.

Diejenigen, die die Menschheit im Widerspruch zur UN-Charta in „Demokratien“ und „Autokratien“ einteilen, täten gut daran, folgende Frage zu beantworten: In welche Kategorie ordnen Sie das ukrainische Regime ein? Ich erwarte keine Antwort.

Wenn wir über die Prinzipien der Charta sprechen, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Sicherheitsrates zur Generalversammlung. Das „westliche Kollektiv“ geht seit langem aggressiv mit dem Thema „Missbrauch des Vetorechts“ hausieren und hat – durch nicht ganz korrekten Druck auf andere UN-Mitglieder – erreicht, dass nach jedem Gebrauch dieses Rechts, den der Westen zunehmend bewusst provoziert, das entsprechende Thema in der Generalversammlung behandelt werden soll.

Das stellt für uns kein Problem dar. Russlands Haltung zu allen auf der Tagesordnung stehenden Themen ist offen, wir haben nichts zu verbergen, und es fällt uns nicht schwer, diesen Standpunkt erneut zu vertreten. Im Übrigen ist das Veto ein absolut legitimes Instrument, das in der Charta vorgesehen ist, um die Annahme von Beschlüssen zu verhindern, die das Risiko einer Spaltung der Organisation mit sich bringen würden.

Aber wenn das Verfahren zur Erörterung von Vetofällen in der Generalversammlung angewendet wird, warum nicht auch über die Resolutionen des Sicherheitsrates nachdenken, die nicht beachtet wurden, die angenommen wurden, auch vor vielen Jahren, aber trotz der Bestimmungen von Artikel 25 der Charta immer noch nicht umgesetzt werden? Warum sollte sich die Generalversammlung nicht mit den Gründen für diesen Zustand befassen? Zum Beispiel mit den Resolutionen des Sicherheitsrates zu Palästina und einer ganzen Reihe von Themen Nordafrikas und des Nahen Ostens, zum iranischen Atomabkommen, sowie mit der Resolution 2202, mit der das Minsker Abkommen zur Ukraine gebilligt wurde?

Auch die Frage der Sanktionen bedarf der Aufmerksamkeit. Es ist zur Regel geworden, dass der Sicherheitsrat nach langwierigen Verhandlungen unter strikter Einhaltung der Charta Sanktionen gegen ein bestimmtes Land beschließt und dass die USA und ihre Verbündeten dann „zusätzliche“ einseitige Beschränkungen gegen denselben Staat verhängen, die nicht vom Sicherheitsrat gebilligt wurden und nicht in seiner Resolution im Rahmen des vereinbarten „Pakets“ enthalten sind. Ein weiteres eklatantes Beispiel in der gleichen Reihe ist die soeben von Berlin, Paris und London durch ihre nationalen Rechtsnormen verabschiedete Entscheidung, die im Oktober auslaufenden Restriktionen gegen den Iran zu „verlängern“, die gemäß der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrats rechtlich beendet werden müssen. Mit anderen Worten: Die europäischen Länder und Großbritannien erklären, dass der Beschluss des Sicherheitsrates abgelaufen ist, aber das interessiert sie nicht, denn sie haben ihre eigenen „Regeln“.

Umso dringlicher ist die Überlegung, dass nach der Verabschiedung einer Sanktionsresolution durch den Rat keines der UN-Mitglieder das Recht hat, diese zu entwerten, indem es seine eigenen unrechtmäßigen Beschränkungen gegen dasselbe Land verhängt.

Es ist auch wichtig, dass alle Sanktionsregelungen des Sicherheitsrates zeitlich begrenzt sind, da ihr unbefristeter Charakter den Rat der Flexibilität beraubt, die Politik der „sanktionierten Regierungen“ zu beeinflussen.

Das Thema der „humanitären Grenzen von Sanktionen“ erfordert ebenfalls Aufmerksamkeit. Es wäre richtig, wenn alle künftigen Sanktionsprojekte, die dem Sicherheitsrat vorgelegt werden, von Bewertungen ihrer Folgen für die Bürger durch die humanitären Organisationen der Vereinten Nationen begleitet würden, anstatt von demagogischen Beschwörungen der westlichen Kollegen, dass „die einfachen Menschen nicht leiden werden“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Fakten sprechen von der tiefsten Krise in den internationalen Beziehungen und dem mangelnden Wunsch und Willen des Westens, diese Krise zu überwinden.

Ich hoffe, dass es einen Ausweg aus dieser Situation gibt und dass dieser auch gefunden wird. Zunächst einmal muss sich jeder der Verantwortung für das Schicksal unserer Organisation und der Welt bewusst werden – und zwar in einem historischen Kontext und nicht im Hinblick auf konjunkturelle Wahl- und Augenblicksentwicklungen bei den nächsten nationalen Wahlen in diesem oder jenem Mitgliedstaat. Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern: Vor fast 80 Jahren haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt mit der Unterzeichnung der UN-Charta darauf geeinigt, die souveräne Gleichheit aller Staaten zu respektieren – großer und kleiner, reicher und armer, Monarchien und Republiken. Mit anderen Worten: Schon damals erkannte die Menschheit die Notwendigkeit einer gleichberechtigten, polyzentrischen Weltordnung als Garantie für die Nachhaltigkeit und Sicherheit ihrer Entwicklung.

Deshalb geht es heute nicht darum, sich einer „regelbasierten Weltordnung“ zu unterwerfen, sondern darum, die bei der Unterzeichnung und Ratifizierung der Charta eingegangenen Verpflichtungen in ihrer Gesamtheit und in ihrer Wechselbeziehung zu erfüllen.

[Ende der Übersetzung]

Thomas Röper, geboren 1971, lebt seit über 15 Jahren in Russland. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.


Bild: Sergej Lawrow im UN-Sicherheitsrat in New York, September 2023
Quelle: Außenministerium der Russischen Föderation