Geschichte

Anfang und Ende eines bayrischen Wunders

Aus: FREIDENKER Nr. 2-19, Juni 2019, 78. Jahrgang, S. 13-25

Anfang und Ende eines bayrischen Wunders: Von der Novemberrevolution 1918 zur Räterepublik 1919

von Tilo Gräser

 

„Die Revolution in Bayern verlief anders als im übrigen Deutschland“, betonte der Historiker Sebastian Haffner in seinem 1969 veröffentlichten Buch „Die verratene Revolution“ über die Ereignisse 1918/19. „Anders als in Berlin fiel die Revolution in München nicht von Anfang an in die Hände ihrer Feinde; anders als im übrigen Reich war sie nicht das Werk führerloser Massen.“

Es sei „kein Zufall, dass die bayrische Monarchie bereits in der Nacht vom 7. auf den 8. November gestürzt wurde, während es in der Reichshauptstadt erst am 9. November zur Ausrufung der Republik kam“. Das schrieb Bernhard Grau in einem Beitrag über Kurt Eisner in der Ausgabe des Geschichtsmagazins „Damals“ vom November 2018. Grau ist Historiker, leitet das Bayrische Hauptstaatsarchiv und veröffentlichte 2001 eine Eisner-Biographie.

In seinem Beitrag beschreibt er den Weg des Berliner Journalisten zum aktiven Sozialdemokraten in Bayern, der erst den Eintritt in den Krieg befürwortete und sich später zum aktiven Kriegsgegner wandelte. Er habe in München den Streik der Rüstungsarbeiter im Januar 1918 mitorganisiert und sei dafür verhaftet worden.

Nur weil er Nachfolgekandidat der USPD für den ausscheidenden Reichstags- und Landtagskandidaten Georg von Vollmar war, kam Eisner wieder frei und agitierte sofort wieder gegen den Krieg und die dafür Verantwortlichen. Grau schreibt dazu: „Zu einem Zeitpunkt, als von der Meuterei der Nordseeflotte noch nichts zu spüren war, erfuhren seine Kundgebungen einen ständig wachsenden Zulauf.“

Was am 7. November 1918 in der bayrischen Hauptstadt geschah, beschreibt der Historiker Markus Schmalzl in der aktuellen „Damals“-Ausgabe.

Klare Führung

Zuvor seien in Bayern Stimmen laut geworden, die angesichts der Leiden in Folge des absehbar verlorenen Krieges einen separaten Friedensschluss des Königreiches forderten. Da sei sogar so weit gegangen, dass eine Loslösung vom deutschen Reich gefordert wurde, schreibt in dem Magazin der Historiker Gerhard Hirschfeld. Doch König Ludwig III. habe sich für das Reich und gegen einen Sonderfrieden entscheiden.

Eisner habe es geschafft, als Ministerpräsident drei Monate lang die Situation in Bayern souverän zu beherrschen, so Haffner, „dank einer einzigartigen Mischung von Einfallsreichtum und Tatkraft, Idealismus und listenreicher Wendigkeit, witterndem Feingefühl und Härte im Nehmen“. Er habe „eine eigenartige Mittelstellung zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Partei“, der USPD, gehabt, schrieb der Historiker Arthur Rosenberg 1928 in seinem Buch über die Entstehung der Weimarer Republik.

Klare Forderungen

Die Münchner Revolution begann den Berichten zufolge mit einer von der SPD organisierten Massenversammlung auf der Theresienwiese am Nachmittag des 7. November. Bayerns SPD-Chef Erhard Auer habe der königlichen Landesregierung zuvor zugesichert, die Massen unter Kontrolle zu haben – sowie seine Partei bereits im Januar zuvor gegen die Streiks gearbeitet hatte.

Auf der Kundgebung wurde eine Resolution verabschiedet, mit der ein sofortiger Frieden und der Rücktritt des Kaisers ebenso gefordert wurde wie der Achtstundentag und eine Arbeitslosenversicherung. Das ist in dem Buch „Der kurze Frühling der Räterepublik“ von Simon Schaupp, einem „Tagebuch der bayrischen Revolution“ auf Grundlage von Zeitzeugen-Erinnerungen, nachzulesen.

Auer hat laut Haffner einen Teil der Teilnehmenden nach der Kundgebung überredet, nach Hause zu gehen. Eisner sei dagegen mit vielen anderen zu den Kasernen im Münchner Norden gezogen. In der bayrischen Hauptstadt waren den Berichten nach immerhin 52.000 Soldaten stationiert. „Dort spielte sich am frühen Abend der entscheidende Akt jedes Staatstreichs ab, das ‚Umdrehen‘ der bewaffneten Macht“, so der Historiker.  Die Soldaten hätten sich den Demonstrierenden angeschlossen, ist bei Schaupp zu lesen. In einer Kaserne hätten Offiziere versucht, das zu verhindern, was nicht gelang.

Alleingelassener König

Während es insgesamt nicht zu Gewaltausbrüchen gekommen sei, seien in einer anderen Kaserne Schüsse gefallen, die einen 16-Jährigen verletzt hätten. Einen Sturm auf diese Kaserne durch revolutionäre Soldaten und damit großes Blutvergießen habe der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam verhindern können.

Unterdessen hat laut dem „Tagebuch“ von Schaupp Bayerns König Ludwig II. in seiner Residenz feststellen müssen, dass das gesamte Personal und die Wachen nicht mehr da waren – „Man hat ihn offensichtlich sitzen lassen.“ Daraufhin habe Ludwig III. nach entsprechenden Ratschlägen begonnen, seine Flucht vorzubereiten. Alles sei aber dafür vorbereitet gewesen, Monarchie und Regierung zu verteidigen, so der Autor. „Allerdings ist nun niemand mehr bereit, den Befehlen Folge zu leisten.“

Als der Zug der Demonstranten am Schloss angekommen sei, hätten sie sich von einigen Polizisten am Eingang aufhalten lassen, so Schaupp. „Vor dem Polizeimajor, der die Menge zur vernünftigen Ruhe und Ordnung‘ mahnt, salutieren sogar einige der aufständischen Soldaten. Am Ende lassen sich die Demonstrierenden von den Worten des Majors besänftigen und ziehen wieder ab, ohne in die Residenz einzudringen.“

Erste deutsche Republik

Eisner habe dann zusammen mit anderen die ersten Arbeiter- und Soldatenräte gegründet, so die Historiker. Danach habe sich der Revolutionsführer mit Mitstreitern zum Landtag begeben, so Schaupp. Dort rief Eisner die Republik aus und wurde von Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte zum Ministerpräsidenten des ersten Freistaates Bayern ernannt, wie Haffner berichtet.

Laut Haffner stellte Eisner am Vormittag des 8. November 1918 entscheidende politische Weichen. Er entließ den königlichen Ministerpräsidenten, machte SPD-Chef Auer zum Innenminister und präsentierte auf der ersten Sitzung des „Provisorischen Nationalrates“ sein Kabinett. „Die Münchner Revolution war komplett“, so der Historiker, „durchgeführt in einem rasanten Alleingang und innerhalb von vierundzwanzig Stunden“.

„Die SPD ist völlig überrumpelt von der ungeplanten sozialistischen Machtübernahme“, stellt Schaupp fest. SPD-Chef Auer habe noch versucht, „bei militärischen Stellen Truppen zur Niederschlagung der Revolution anzufordern. Aber sogar die preußischen Soldaten haben sich mit den revolutionären verbündet. Langsam dämmert es Auer, dass er vorerst keine andere Wahl hat, als eine gemeinsame Regierung mit der USPD unter Eisner zu bilden.“

Klare Ziele

Eisner habe nicht nur Bayern im Blick gehabt, so Haffner, sondern, „im Gegensatz zu Ebert, vom ersten Tage an einen klaren Blick für die internationale Lage des besiegten Deutschland und eine klare außenpolitische Konzeption“. Sein Ziel sei es gewesen, einen Diktatfrieden zu verhindern, indem er vor allen mit den USA Kontakt aufgenommen habe und den Bruch mit dem alten System deutlich zu machen versuchte. „Mit Russland hatte er nichts im Sinn“, schrieb Haffner über den bayrischen Revolutionär.

Dieser war laut Haffner vor 100 Jahren „der einzige Mann in Deutschland, der mit scharfem Spürsinn erfasste, worauf die deutsche Revolution hinzielte, und ihr geschickte Geburtshilfe gab“. Friedrich Ebert habe dagegen die Revolution abwürgen wollen und Karl Liebknecht etwas verlangt, was die deutschen Revolutionäre nicht wollten. „Der wahre Gegenspieler Eberts war nicht Liebknecht, es war Eisner.“

Laut dem Historiker Rosenberg hielt Eisner die revolutionäre Einführung des Sozialismus für undenkbar. „Aber er sah die Aufgabe der deutschen Arbeiter und Sozialisten darin, eine radikale bürgerliche Revolution durchzuführen. Die Revolution sollte die Militärgewalt und die Dynastien stürzen, den sofortigen Frieden sichern und in Bayern eine tätige Demokratie unter Führung der Arbeiter und Bauern sichern.“

Revolutionärer Realpolitiker

Das traf sich mit den Erwartungen der revolutionären Massen in Bayern wie im übrigen Deutschland vor 100 Jahren, auf die Haffner aufmerksam machte. „Der neue Staat sollte ein Arbeiterstaat sein; Eisner fügte hinzu: auch ein Bauernstaat. Bayern unter Eisner war das einzige deutsche Land, in dem auch Bauernräte von Anfang an eine wichtige Rolle spielten.“ Doch auch hier sei es nicht um eine Rätediktatur nach sowjet-russischem Vorbild gegangen, sondern um „eine konstitutionelle Rätedemokratie“, so Haffner. Eisner sei der „einzige revolutionäre Realpolitiker in Deutschland“ gewesen.

Zwar blieb die USPD unter Eisner bei den Landtagswahlen im Januar 1919 in Bayern in der Minderheit – Sieger wurde die Bayrische Volkspartei, die Vorgängerin der heutigen CSU. Aber die von Eisner angeführte Münchner Revolution vom 7. November war aus Sicht von Rosenberg „dadurch möglich, dass die Soldaten, die vorwiegend vom Lande stammten, die Parolen Eisners und seiner Gruppe annahmen“. Der Historiker weiter: „Die Soldaten sagten sich, dass die Taktik Eisners zumindest das sofortige Ende des Krieges für Bayern bringe.“

Rosenberg stellte zehn Jahre nach den Ereignissen fest, dass in Bayern die Mehrheitssozialisten unter Auer sofort führenden Einfluss auf den weiteren Gang der Revolution bekamen. „Denn sobald den Massen die Beendigung des Krieges gesichert erschien, setzte hier, wie überall in Deutschland und an der Front, die rückläufige Bewegung ein. Die Münchner Ereignisse am 7. und 8. November boten das direkte Vorbild für die republikanische Entwicklung im übrigen Deutschland, vor allem in Berlin.“

Blutige Konterrevolution

Haffner fragte in seinem Buch von 1969, „ob eine erfolgreiche Revolution in Bayern sich gegenüber einer siegreichen Gegenrevolution im übrigen Deutschland auf die Dauer hätte halten können“. Im „Tagebuch“ von Schaupp ist zu lesen, wie bereits am 8. November 1918 der ehemalige bayrische Kriegsminister Philipp Freiherr von Hellingrath versuchte, Truppen für die Gegenrevolution zu organisieren.

Am Ende wurde Ministerpräsident Eisner am 21. Februar 1919 von dem rechtsradikalen Offizier Anton Graf von Arco-Valley ermordet. Die folgende bayrische Räterepublik und ihre „Rote Armee“ im Mai 1919 Reichswehr und Freikorps auf Befehl von SPD-„Bluthund“ Gustav Noske blutig nieder. Die mit einem friedlichen Marsch am 7. November 1918 in München begonnene bayrische Revolution wurde etwa sieben Monate später in einem konterrevolutionären Blutbad ertränkt.

Unsägliche Verdrängungsgeschichte

Doch das Bundesland, das so stolz auf seinen Sonderstatus ist, hat nicht nur ein Problem mit den Gründen dafür, sondern auch mit der Erinnerung an seinen ersten Regierungschef nach Sturz des Königs am 7. November 1918.

Den heutigen etablierten Politikern in Bayern – egal welcher Partei – scheint unangenehm, dass der linke Sozialdemokrat Eisner im November 1918 die Revolution in München anführte und so das bisherige Königreich zum Freistaat machte. Er hat den „Freien Volksstaat Bayern“ ausgerufen – die erste Republik auf deutschem Boden –, und gezeigt, wie Revolution möglich ist. Am Ende hat er das fast vier Monate später mit seinem Leben bezahlt, während später die bayrische Revolution blutig niedergeschlagen wurde.

Der erste Ministerpräsident des revolutionären Bayerns habe nicht im Alleingang gehandelt, betonte Wolfram Kastner im Sputnik-Gespräch in München. „Es war Hunger. Es war Not. Die Menschen waren mehr als kriegsmüde und hatten von diesem Krieg die Nase voll.“

Hohe Ansprüche

Kastner hat 1989 gemeinsam mit anderen Künstlern und Kulturschaffenden die Kurt-Eisner-Kulturstiftung gegründet, um gesellschaftspolitisch engagierte Kunst zu fördern. Die Stiftung beruft sich auf ein Anliegen Eisners: „Die Kunst kann nur gedeihen in vollkommener Freiheit. […] Der Künstler muss als Künstler Anarchist sein …“

Als Journalist und Schriftsteller habe der spätere Ministerpräsident bereits eine Position bezogen, „die sehr nahe an den Nöten der Menschen war“, erklärte Kastner. Eisner sei ein Mensch gewesen, „der einen hohen ethischen, politischen und sozialen Anspruch hatte“. Zugleich habe er sich „nie als ein politischer Führer“ verstanden, „sondern als einer, der den Menschen zuhört, der auf ihre Nöte eingeht und der mit ihnen gemeinsam Perspektiven entwickelt“. So habe Eisner auch die erfolgreichen Streiks im Januar 1918 in den bayrischen Rüstungsbetrieben mitorganisiert, wofür er später verhaftet und verurteilt worden sei, berichtete Kastner.

„Er hat wohl auch den richtigen Ton gefunden“, nannte der Künstler einen der Gründe, warum der linke Sozialdemokrat später eher ungewollt zum Anführer der November-Revolution 1918 in Bayern wurde. Eisner habe einen „hohen Begriff von der Demokratie gehabt“. Die Gesellschaft solle von den Menschen, nicht von Führungsstrukturen bestimmt werden – „auch nicht durch eine Diktatur des Proletariats“ –, sei sein Anspruch gewesen.

Demokratische Schule

Der ermordete Ministerpräsident habe sich dafür eingesetzt, die in der Revolution entstandenen Arbeiter- und Soldaten-Räte als „Schule der Demokratie“ weiter zu entwickeln. Die Menschen sollten lernen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, gab Kastner Eisners Anspruch wieder. „Kein Obrigkeitsstaat, welcher Couleur auch immer“ – das sei das Ziel des linken Sozialdemokraten gewesen. Deshalb habe er gegenüber dem Modell Lenins und der russischen Bolschewiki „größte Vorbehalte“ gehabt.

Aus Sicht des Münchner Künstlers hat Eisner im Unterschied zu den Revolutionären in der Reichshauptstadt von vornherein die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen eingebunden, selbst seinen Gegner Auer von der MSPD. Er habe auch die Organisation der Bauern einbezogen, was in dem Agrarstaat Bayern sehr wichtig gewesen sei. Die politisch aktiven Künstler seien ebenso einbezogen worden.

Kastner betonte, dass der Revolutionär einen demokratischen Prozess einleiten wollte – „nicht mit einer Hauruck-Aktion sagen: Aus der Monarchie machen wir jetzt eine Demokratie. Das funktioniert ja nicht. Das hat auch nach `45 nicht funktioniert.“ Die Idee des ersten bayrischen Ministerpräsidenten sei es gewesen, die Räte als Kontrollinstanz des parlamentarischen Systems beizubehalten.

Systematische Hetze

„Das bräuchten wir heute auch sehr“, meinte Kastner mit Blick darauf, „wie heute Hinterzimmer- und Geheim-Demokratie gemacht wird“. Es werde „von der Bürgerbeteiligung gefaselt, aber da facto passiert sie nicht“.

Bei der bayrischen Landtagswahl am 12. Januar 1919 bekam Eisners USPD gar nur „ganze drei der hundertachtzig Landtagssitze“. Die Mehrheit war dagegen bürgerlich-katholisch – „wie im katholischen Bayern nicht anders zu erwarten“, wie der Historiker Haffner feststellte. Die Bayrische Volkspartei (BVP), Vorläuferin der heutigen CSU, wurde stärkste Kraft im Parlament in München.

„Es gab eine systematische Hetze gegen ihn“, schilderte Kastner die damalige gesellschaftliche Stimmung. „Von allen Kanzeln Bayerns wurden bischöfliche Hetzpredigten verkündet, bis dahin, dass er das jüdische Kapital vertrete, und sonstiger Irrsinn. Die Macht über die Köpfe in einem katholischen Agrarstaat, wie Bayern einer war fatal. Die gesamte Presse hat gegen ihn gehetzt.“

Hinterhältiger Mord

Das gehöre zu den Ursachen für das Wahlergebnis. Es habe aber auch Gebiete in Bayern gegeben, in denen es eindeutige Unterstützung für die Politik des Ministerpräsidenten gegeben habe, so in Hof und in Aschaffenburg. In der Kommunalwahl in München im Juni 1919 sei die USPD stärkste Partei im Stadtrat geworden – mit 16 von 50 Sitzen (BVP: 15; MSPD: 10).

Als der Ministerpräsident am 21. Februar 1919 ermordet wurde, war er auf dem Weg zum Landtag. Dort wollte er, auch aufgrund des Wahlergebnisses, seinen Rücktritt verkünden. Der Attentäter Anton Graf von Arco auf Valley schoss den Berichten zufolge in der Promenadengasse von hinten auf Eisner.

Die Straße mit dem Tatort wurde später umbenannt und heißt heute Kardinal-Faulhaber-Straße – der Namensgeber Kardinal Michael von Faulhaber, seit 1917 Erzbischof in München, lobte bezeichnenderweise Adolf Hitler und galt als Gegner Eisners. Auf dem Portal stadtgeschichte-muenchen.de heißt es zum 10. Juli 1934, dass er sogar den Eisner-Mörder traute: „Anton Graf von Arco auf Valley war durch seine Tat in monarchistischen und konservativen Kreisen hoch angesehen. Deshalb ist es dem Münchner Erzbischof und Kardinal ein persönliches Anliegen, die Trauung durchzuführen.“

Hilflose Revolutionäre

Bei dem Mörder von Eisner, Arco Valley, habe es sich zwar allen Informationen nach um einen Attentäter gehandelt. Aber die Stimmung für die Tat sei „systematisch vorbereitet“ worden, so der Künstler. „Es gab ja mehrere Attentate. Es gab eine systematische Hetze.“ Die sei von der MSPD, anderen politischen Kräften sowie von der Kirche gekommen.

„Dieser Mord wurde atmosphärisch und propagandistisch von den Rechtsextremisten, von den Militaristen, von den Katholiken und Antisemiten systematisch vorbereitet. Einer führt’s halt aus.“ Kastner bestätigte die Parallelen zum Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 in Berlin. „Das ist auf der gleichen Ebene.“

„Die Schüsse vom 21. Februar machten der Revolution in Bayern kein Ende, sondern setzten eine neue in Gang“, schrieb der Historiker Wolfgang Malanowski in seinem 1969 veröffentlichten Buch „November-Revolution 1918 – Die Rolle der SPD“. In der hätten aber „die von Sozialdemokraten und Bürgerlichen gefürchteten Linksradikalen erneut bewiesen, wie schwach und hilflos sie in Wirklichkeit waren“.

Furchtbare Geschichte

Eine der Folgen war die Anfang April 1919 erstmals ausgerufene Münchner Räterepublik. Daraufhin marschierten Anfang Mai auf Berliner Befehl der von der SPD-geführten Regierung Freikorps in Bayern ein. „Und nun folgte ein ‚weißer Schrecken‘, wie ihn noch keine deutsche Stadt, auch Berlin im März nicht, erlebt hatte“, beschrieb der Historiker Haffner das weitere Geschehen. „In diesem weißen Terror in München fällt ein unverkennbarer Zug von Sadismus auf.“

Es könne nur spekuliert, ob das so gekommen wäre, wenn Eisner am Leben geblieben wäre, meinte Künstler Kastner auf eine entsprechende Frage. Der Ministerpräsident sei zumindest eine populäre Integrationsfigur gewesen und habe eine größere Akzeptanz gehabt als jene, die später die Räterepublik ausriefen. „Ich gehe davon aus, dass es anders gelaufen wäre“, sagte Kastner. „Aber es hätte Zeit für die weitere Entwicklung gebraucht.“

Den Umgang des Freistaates Bayern mit seinem ersten Ministerpräsidenten bezeichnete der Künstler als „lange, furchtbare Geschichte.“ Er engagiert sich seit Jahrzehnten für die Erinnerung an den vor 100 Jahren ermordeten Eisner. Es handele sich um eine „unsägliche Verdrängungsgeschichte der Demokratie“.

Fehlendes Denkmal

„Wenn man in diesem Land in der Demokratie angekommen wäre, dann wäre man stolz darauf und hätte wie in anderen Ländern den Begründer der Demokratie verehrt. Hier hat man ihn verschwiegen, hat ihn denunziert. Man hat unsägliche Lügen über ihn verbreitet.“

Die Faschisten hätten die Gedenktafel für Eisner im Münchner Gewerkschaftshaus ebenso zerstört wie sein Grab und einen Sohn Eisners, Hans Kurt, im KZ Buchenwald ermordet sowie seine Familie verfolgt. Die MSPD habe zuvor gezeigt, was sie von der Tat hielt: Ihr bayrischer Landeschef Auer, der am 21. Februar 1919 Opfer eines Rache-Attentats wurde, habe dem Eisner-Mörder Arcor Blumen ins Gefängnis geschickt, so Kastner. Nach 1945 habe es keinerlei Wiedergutmachung oder Entschädigung gegeben.

Der Künstler schilderte verschiedene erfolglose Versuche, ein würdiges Denkmal für den vor 100 Jahren Ermordeten in München zu errichten. Die nach Eisner benannte Straße liege weitab vom Zentrum, im Stadtteil Neuperlach. Die CSU habe sogar jahrelang erklärt, es müsse auf die Witwe des Mörders Rücksicht genommen werden. Deshalb könne für den Kommunisten Eisner kein Denkmal errichtet werden.

Finsteres Denken

„So finster – ich würde sagen: schwarzbraun – war das Denken, und ist es zum Teil heute noch“, schätzte Kastner es ein. Die seit Jahrzehnten regierende Münchner SPD habe „ihre eigene fatale Geschichte dabei nicht richtig reflektiert. Heute versuchen sie ein bisschen, Eisner für sich zu vereinnahmen. Aber für ihr Bekämpfen seiner demokratischen Ziele haben sie sich noch nicht einmal entschuldigt. Sie müssten sich mal dafür entschuldigen.“

Einzelne Sozialdemokraten, die den Ministerpräsidenten ehren wollten, seien immer gescheitert – „sowohl an der SPD als auch an der CSU“. So habe er mit anderen gemeinsam Horst Seehofer in dessen Zeit als bayrischer Ministerpräsident ein Porträt von dessen ersten Amtsvorgänger Eisner übergeben. Das Bild sei aber nie in der Staatskanzlei aufgehängt worden – weil nur Ministerpräsidenten nach 1945 in der Ahnenreihe gezeigt würden, sei offiziell erklärt worden.

Der SPD in München sei mehrmals vorgeschlagen worden, einen zentralen Ort hinter dem Rathaus der bayrischen Landeshauptstadt nach dem Begründer des Freistaates zu benennen. Das sei bis heute mit formalen Argumenten abgelehnt worden. Auch die lebenden Enkel Eisners seien bis heute nicht zum Gedenken eingeladen worden.

Unermüdliche Versuche

Weder die Regierung Bayerns noch die der Stadt München hätten jemals an einem Jahrestag des Mordes an dem ersten Ministerpräsidenten einen Kranz zum Gedenken am Tatort niedergelegt – „bis heute nicht“. „Es ist einfach eine fatale Geschichte“, sagte der Künstler dazu, der versprach, nicht aufzugeben und an Eisner weiter zu erinnern.

Kastner berichtete von einer Ausstellung zum Ermordeten in der Rathausgalerie im November 2018. Es gebe eine Postkartenaktion, mit der Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) aufgefordert wird, einem Kurt-Eisner-Platz zuzustimmen. Zum 100. Jahrestag der Ermordung lud die Kurt-Eisner-Kulturstiftung zu einer Veranstaltung ein, um an den Namensgeber zu erinnern und nach vorn zu schauen. Der Kabarettist Max Uthoff, bekannt unter anderem aus der ZDF-Sendung „Die Anstalt“ gehörte zu jenen, die an Eisner erinnerten.

Eisner habe als Ministerpräsident versucht, „Staat und Gesellschaft von unten nach oben zu revolutionieren“. So beschrieb es der Historiker Ralf Höller am Samstag in der Tageszeitung „junge Welt“. Zu den bayrischen Besonderheiten vor 100 Jahren gehörte, dass es hier die einzigen Bauernräte neben denen der Arbeiter und Soldaten gab.

Zweimal Räterepublik

Doch Eisners Versuch, andere Wege zu gehen, endeten mit dem Mord an ihm am 21. Februar 1919. In der Folge kam es dazu, dass im April vor 100 Jahren in München gleich zweimal die Räterepublik ausgerufen wurde.

Die „Räterepublik Baiern“ (Originalschreibweise von damals) wurde am 5. April 1919 von einer Versammlung aus Vertretern verschiedener Räte im Freistaat sowie Funktionären der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften beschlossen. Dem waren politische Wirren nach dem Tod Eisners vorausgegangen, samt einer Regierung unter Johannes Hoffmann von den Mehrheitssozialdemokraten (MSPD), die nach Bamberg flüchtete, und einer „Räterepublik-Bewegung“. Der Historiker Sebastian Zehetmair hat die Entwicklung in der Ausgabe 117 (März 2019) der Zeitschrift „Z.“ nachgezeichnet.

Sozialdemokratischer Wunsch

Laut ihm hat es vor allem in Südbayern große Sympathien für eine Räterepublik gegeben, so in der Region um Augsburg, ebenso im südlichen Umland Münchens und in Teilen des Allgäus. Er macht klar, dass es sich keineswegs um eine kommunistische Bewegung, angeführt von der jungen KPD, handelte. Diese Legende haben ihre Gegner in die Welt gesetzt – sie wirkt bis heute. Dagegen haben dem Historiker zufolge sich vor allem die Mitglieder der beiden sozialdemokratischen Parteien USPD und MSPD seit Februar 1919 zunehmend radikalisiert.

Zehetmair über die Ziele der Rätebewegung nach dem Mord an Eisner: „Faktisch übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte in München und etlichen kleineren Ortschaften schon Ende Februar vorübergehend die Macht. Die zweite Revolution war trotzdem kein offener Aufstand gegen den Landtag: Das Hauptziel der rebellierenden Arbeiter bestand in der Sicherung der Räte und der Unterdrückung der Konterrevolution, nicht im Sturz des Parlaments.“

In Nordbayern hätten sich aber die Arbeiterräte gegen die Räterepublik ausgesprochen, so vor allem in Nürnberg und den fränkischen Gebieten um Bamberg und Bayreuth sowie in Niederbayern und Nordschwaben. Hier habe die Regierung unter Hoffmann weiterhin großen Einfluss gehabt. Besonders die Bauern, die den Großteil der Bevölkerung des Freistaates ausmachten, haben laut dem Historiker der Idee der Räterepublik mehrheitlich ablehnend und zum Teil feindlich gegenüber gestanden.

Unwillige Kommunisten

Zehetmair betont: „Die Räterepublik von 1919 war viel mehr als eine rein ‚Münchener Räterepublik‘, aber doch deutlich weniger als eine gesamt-‚bayerische‘ Räterepublik. Genau genommen war sie ein Zusammenschluss mehrerer Dutzend lokaler Räterepubliken, die über das Land verstreut waren und in ihrem Überleben von der Entwicklung in der Landeshauptstadt abhingen.“ Das trug mit zu ihrem Schicksal bei.

Treibende Kraft der Räterepublik ist die USPD in München gewesen, unterstützt von Teilen der MSPD und der freien Gewerkschaften, wie der Historiker schreibt. Dagegen habe sich die KPD anfangs davon sogar distanziert, „weil sie eine isolierte Räterepublik nicht für überlebensfähig hielt und das Risiko einer militärischen Intervention der Reichsregierung realistischer einschätzte als die Führung der USPD, teilweise auch, weil sie den Motiven der beteiligten Funktionäre der MSPD misstraute.“ Die im Januar 1919 gegründete Partei habe gar versucht, die erste Räteregierung zum Rückzug zu zwingen.

Auf das Leben in München und den Alltag haben die Ereignisse Zehetmair zufolge kaum direkten Einfluss gehabt, so Zehetmair. Die Versorgungslage habe sich sogar noch verschlechtert, weil die Bauern des Umlandes in einen Lieferstreik getreten seien. Zudem habe die in Bamberg sitzende Regierung Hoffmann eine Verkehrsblockade über die Landeshauptstadt verhängt.

Erfolgloser Putschversuch

Am 13. April 1919 gab es einen von der Hoffmann-Regierung und MSPD-Funktio­nären unterstützten Putschversuch gegen die Räteregierung: „Dieser so genannte Palmsonntagsputsch endete in München in einem politischen Desaster für die Bamberger Regierung“, so der Historiker. „Die Putschisten stießen auf unerwarteten starken Widerstand bewaffneter Räteanhänger. Aus kleinen Scharmützeln entwickelten sich binnen weniger Stunden erbitterte Gefechte zwischen Anhängern und Gegnern der Räterepublik, die insgesamt 21 Tote forderten.“

Der Putschversuch habe viele Arbeiter auf die Seite der zuvor eher abgelehnten Räterepublik gebracht. An deren Spitze standen vor allem Intellektuelle und Anarchisten, wie Erich Mühsam, Gustav Landauer und Ret Marut, der später als Schriftsteller „B. Traven“ Weltruhm erlangte. Der Historiker Höller dazu in der „jungen Welt“: „Jetzt traten die Kommunisten auf den Plan. Bislang hatten sie sich aus der Regierung ferngehalten, die in ihren Augen allenfalls eine ‚Scheinräterepublik‘ war.“

Nach den Angaben von Zehetmair unterstützten vor allem die Betriebsräte die KPD. Sie hätten die Kommunisten unter Max Levien und Eugen Leviné in den neuen Revolutionären Zentralrat und das oberste Gremium, den Vollzugsausschuss, gewählt. Nach dem Putschversuch der Revolutionsgegner sei die zweite Räterepublik ausgerufen worden.

Kommunistische Minderheit

Diese sei aber „keine kommunistische Parteidiktatur“ gewesen, wie ihre Gegner häufig unterstellten. „Die KPD stellte zwar drei von fünf Mitgliedern im Vollzugsausschuss – aber der Vollzugsausschuss selbst war in all seinen Beschlüssen vollständig auf die aktive Unterstützung der Betriebsräte angewiesen“, betont der Historiker in „Z.“. „Unter den Münchener Betriebsräten hatten auch unter der zweiten Räterepublik die MSPD und die USPD nach wie vor wesentlich mehr Vertreter als die KPD.“

Zehetmair stellt ebenso fest, dass in Folge des „Palmsonntagsputsches“ die Isolation Münchens gegenüber dem restlichen Land zunahm. In zahlreichen bayrischen Städten hätten sich die Gegner der Räte durchgesetzt. „Das Einflussgebiet der zweiten Räterepublik beschränkte sich danach nur mehr auf München und sein engeres Umland sowie Teile Süd- und Südostbayerns. Nördlich der Donau hatte die Räterepublik allen Einfluss verloren.“ Selbst in Augsburg hätten sich die Räte inzwischen auf die Seite der Regierung Hoffmann gestellt, die immer noch in Bamberg saß.

Letztere hätte Mitte April „jede Zurückhaltung bei der militärischen Mobilisierung gegen München“ abgelegt. „Die Lage der Räterepublik war trotz des Sieges in München aussichtslos“, schreibt der Historiker. „Am Ende rückten rund 35.000 Weiße Truppen, darunter ein großer Anteil professionell ausgebildeter Militärs, auf München vor. Gegen diese Truppenmassen waren auch die etwa 10 bis 12.000 Freiwilligen, die die Räteregierung eilig für die neu gebildete ‚Rote Armee‘ rekrutierte, militärisch chancenlos.“

Unaufhaltsamer Vormarsch

Die Räteregierung habe angesichts der wirtschaftlichen Isolation Münchens durch die Bauernstreiks und die blockierten Verkehrswege versucht, über einen kampflosen Rückzug zu verhandeln. Doch der selbsternannte „Bluthund“ der MSPD und nunmehrige Reichswehrminister, Gustav Noske, untersagte laut Zehetmair den aus Berlin befohlenen anrückenden Truppen jegliche politische Verhandlungen. Daraufhin hätten die Anhänger der Räteregierung lieber den aussichtslosen Kampf geführt als sich den Weißen Truppen zu ergeben.

Zwar konnte die Rote Armee gemeinsam mit Arbeitermilizen die Reichswehr- und Freikorpstruppen am 16. April bei Dachau noch zurückschlagen, wie der Historiker berichtet. Doch das sei der einzige militärische Erfolg geblieben. Dem sei ab dem 23. April die Einnahme Augsburgs und weitere Städte durch die Noske-Truppen gefolgt. Kurz vor der endgültigen Niederlage hätten die Betriebsräte in München den revolutionären Vollzugsausschuss zum Rücktritt gezwungen. „Der größte Teil der Roten Armee löste sich unter dem Eindruck dieser Stimmung einfach auf ohne zu kämpfen.“

Die Weißen Truppen seien bei ihrem Einmarsch in München am 1. Mai 1919 kaum auf organisierten Widerstand gestoßen. Zehetmair weiter: „Auf die Eroberung Münchens folgte eine zwei Wochen dauernde Kampagne des ‚Weißen Terrors‘ – willkürliche Verhaftungen von Tausenden von Räteanhängern, standrechtliche Erschießungen von Hunderten von Räterepublikanern. Auf den weißen Terror folgte der juristische Rachefeldzug gegen die Räterepublik.“

Blutiges Erbe

Historikerkollege Höller dazu: „In der ersten Woche nach dem Einmarsch der Weißen wurden im gesamten Münchner Stadtbezirk 557 Menschen getötet. 145 Soldaten fielen im Gefecht (38 Weißgardisten, 107 Rotarmisten), 186 an den Kämpfen Beteiligte wurden nach Standrechtverfahren hingerichtet, 226 Anhänger der Räterepublik in den ersten Tagen nach Einnahme der Landeshauptstadt ohne Gerichtsverfahren erschossen, die meisten von Angehörigen der Freikorps. Das ist die amtliche Statistik. Die tatsächliche Opferzahl, auch im Münchner Umland, dürfte weit höher liegen.“ Zu den Opfern gehörten auch führende Köpfe der Rätebewegung wie Landauer und Leviné.

Das zählt wie die Ereignisse zuvor in Bremen, Berlin und später im Ruhrgebiet zum blutigen Erbe der Weimarer Republik. Auf den Trümmern der Münchner Räterepublik wurde in den folgenden Monaten des Jahres das Fundament der „Ordnungszelle Bayern“ errichtet, so Zehetmair. Dabei habe es sich um einer „Polizeidiktatur mit dünner parlamentarischer Fassade“ gehandelt, „die nicht zufällig zum Geburtsort des deutschen Faschismus wurde“.

Historiker Höller verwies in der „jungen Welt“ auf die personellen Linien ab 1919 in die Zeit ab 1933: „Als Ende August die Regierung wieder nach München zog, war Oberstleutnant Adolf Herrgott, der dem Eppschen Freikorps angehörte, dort Stadtkommandant. Ihm zur Seite als Stabschef stand Ernst Röhm, die politische Polizei leitete Wilhelm Frick, beide später hochrangige Mitglieder der NSDAP. Neuer Polizeipräsident wurde Ernst Pöhner, einer der Anführer des Hitlerputschs.“

Faschistische Keimzellen

Das sind einige der Beispiele, die zeigen, dass bereits vor 100 Jahren in Deutschland die Keimzellen der faschistischen Diktatur gelegt wurden. Gleichzeitig regt das Schicksal der Münchner Räterepublik zu Zweifeln gegenüber der heute oft zu hörenden These an, die Weimarer Republik habe nicht zwangsläufig im „Dritten Reich“ der deutschen Faschisten enden müssen.

Dazu gehört auch Folgendes: „Vor dem 9. November hat in Deutschland niemand so etwas wie die Weimarer Republik gewollt, jedenfalls keine der maßgeblichen politischen Kräfte im Reichstag. Die wollten alle die deutsche Monarchie modernisieren und verbessern, aber nicht abschaffen.“ Das stellte der Historiker Lothar Machtan in einem Interview mit Sputnik im vergangenen Jahr fest, in dem es um die Novemberrevolution 1918 ging.

Das gilt erst recht für die verschiedenen Versuche, die Räte als neue Form der Demokratie neben dem Parlamentarismus zu verankern – das war zu viel Demokratie und Revolution. Auch für die Münchner Räterepublik und ihr Schicksal war entscheidend, was Heiner Karuscheit bei einem Vortrag in Berlin feststellte: Hinter der Fassade der „Weimarer Republik“ wurde die alte Ordnung wiederhergestellt. Er verwies dabei auf die konterrevolutionäre Allianz der alten Eliten, vor allem aus dem Militär, mit dem rechten Flügel der deutschen Arbeiterbewegung in Gestalt der MSPD.

Konterrevolutionärer Sieg

Karuscheit sieht die „Weimarer Republik“, die auch gegen alternative Entwicklungen in Bremen, München oder Thüringen mit Gewalt durchgesetzt wurde, nicht als eines der positiven Ergebnisse der Novemberrevolution, wie heute, 100 Jahre später, oft zu hören ist. Sie sei dagegen entstanden, weil die Revolution niedergeschlagen worden sei, als „Produkt der siegreichen Konterrevolution“.

Diese habe dafür gesorgt, dass die grundlegenden Strukturen der alten Ordnung gesichert worden seien. Damit sei auch 1918 die unvollendete bürgerlich-demokratische Revolution von 1848 nicht abgeschlossen worden, widersprach Karuscheit gängigen Historikermeinungen: „Diese Revolution ist nicht nur unvollendet geblieben: Sie ist gescheitert.“

Seine Analyse der Ereignisse vor 100 Jahren verweist auf eine ganz andere Parallele zwischen der Zeit damals und der heutigen, als sie derzeit allgemein gezogen wird. Heute ist oft zu hören, die liberale Demokratie werde „wieder ernsthaft gefährdet“, und zwar durch Populismus sowie „autoritäre und antipluralistische Parteien“. Dabei wird übersehen: Das tatsächliche Problem der „Weimarer Republik“ war: Ihre demokratische Fassade mit allgemeinem Wahlrecht sowie bürgerlichen Freiheiten verbarg Macht- und Eigentumsverhältnisse, deren Vertreter nicht an einer tatsächlichen Demokratie interessiert waren. Das ist bis heute aktuell.

Unheimliche Kontinuitäten

Darauf verweisen nicht nur die deutschen Kontinuitäten, die der Historiker Fischer und andere beschrieben. Diese wurden selbst durch den faschistischen Untergang 1945 nicht unterbrochen. Das zeigt ein nüchterner Blick in die Geschichte der Bundesrepublik. Die Demokratie wird am stärksten von jenen gefährdet, die ihre Fassade nutzen, um ihre Macht zu verbergen.

Sie sorgen dafür, dass sie nur Schauspiel mit Wahlen, die nichts grundlegend verändern, bleibt und immer wieder zu einer Farce verkommt. Das belegen Analysen und Studien über politische Entscheidungsprozesse, über Einflussmöglichkeiten der Bürger und Wähler sowie darüber, wessen Interessen von der etablierten Politik durchgesetzt werden. Deren Umgang mit dem Verhältnis zu Russland ist eines der Beispiele dafür, einschließlich der damit verbundenen Gefahr für den Frieden.

Der Protest dagegen, der heute unter anderem als Populismus diffamiert wird, ist berechtigt. Notwendig bleibt der genaue Blick, wer sich tatsächlich gegen die Ursachen wendet und wer nur gegen Symptome angeht, dabei „Sündenböcke“ missbraucht und so selbst von den wahren Verhältnissen ablenkt. Das dürften die tatsächlichen Parallelen der „Weimarer Republik“ mit den heutigen Zuständen sein.

Eine umfangreiche Sammlung von Beiträgen zur deutschen Revolution 1918/19 und den Folgen ist im Onlinemagazin „Sputniknews“ hier zu finden: https://de.sputniknews.com/trend/jahrestag-novemberrevolution/

Tilo Gräser, Berlin,
ist Diplom-Journalist,
als Redakteur und Korrespondent bei Sputniknews tätig und
Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes

 

Lesetipps:

Simon Schaupp: „Der kurze Frühling der Räterepublik – Ein Tagebuch der bayerischen Revolution“
Unrast Verlag 2018. 304 Seiten. ISBN 978-3-89771-248-5. 19,80 Euro

Heiner Karuscheit: „Die verlorene Demokratie – Der Krieg und die Republik von Weimar“
Verlag VSA 2017. 256 Seiten. ISBN 978-3-89965-765-4. 17,80 Euro

Arthur Rosenberg: „Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik“
Europäische Verlagsanstalt. E-Book (ohne Jahresangabe). ISBN 978-3-86393-506-1. 14,99 Euro

Sebastian Haffner: „Die deutsche Revolution 1918/19“
Rowohlt Verlag 2018. 256 Seiten. ISBN 978-3-498-03042-1. 15 Euro

Stefan Bollinger: „November ‘18 – Als die Revolution nach Deutschland kam“
Verlag edition ost 2018. ISBN 978-3-360-01884-7; 256 Seiten; 14,99 Euro


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Tilo Gräser: Anfang und Ende eines bayrischen Wunders: Von der Novemberrevolution 1918 zur Räterepublik 1919 (Auszug aus FREIDENKER 2-19, ca. 876 KB)


Bild: Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 7. April 1919 mit der Deklaration der bayerischen Räterepublik
Quelle:
Von WajKoenitz – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=51607883