Russische Warnungen und taube deutsche Ohren
Eigentlich nicht überraschend: Wenn Russland vor irgendetwas warnt, wird in Deutschland geradezu aufdringlich weggehört. Das war schon Anfang 2022 so. Aber die Risiken werden von Runde zu Runde größer, wenn man weiter Waffen schickt, statt zuzuhören.
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 13.09.2024 auf RT DE
Irgendwann sollten auch deutsche Politiker ihre narzisstische Blase verlassen, in der sie immer Recht haben. Im eigenen Interesse. Weil es Augenblicke gibt, in denen man durch mangelndes Nachdenken vor allem sich selbst schadet.
Die gestrige Warnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin war so ernst gemeint, wie sie klingt. Offenkundig haben aber die deutschen Politiker jenen Moment Anfang 2022 bereits vergessen, als der russische Vorschlag für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa von einer ebenso klaren Warnung begleitet wurde, dass andernfalls „militärisch-technische Maßnahmen“ ergriffen würden. Inzwischen müsste mehr als klar sein, was diese Maßnahmen sind, aber dennoch wird mit Vergnügen weiter so getan, als sei das alles nicht ernst zu nehmen. So beispielsweise der CDU-Politiker Norbert Röttgen:
„Die Einschüchterungspropaganda von Putin ist ebenso bekannt wie absurd. Der Westen kann sich nur daran orientieren, was zweifelsfrei mit dem Völkerrecht übereinstimmt und was der Wiederherstellung des Friedens in Europa dient.“
Der zweite Satz besitzt sogar eine unfreiwillige Komik. Zumindest für den, der die Vorgeschichte in der Ukraine kennt. Denn die Unterstützung eines Putsches stimmt nicht mit dem Völkerrecht überein, genauso wenig, wie die Aufrüstung einer Putschregierung, die als erste bedeutende Handlung einen Bürgerkrieg beginnt.
Die Minsker Abkommen waren, laut Ex-Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Ex-Präsidenten Francois Hollande, immer nur als Täuschung gemeint, um die Kiewer Regierung aufrüsten zu können. Dumm nur: Auch dieses Abkommen war Völkerrecht. Es war, so wie es geschrieben steht, mitsamt dem darin enthaltenen Zeitplan für die einzelnen Handlungen, die zur Befriedung des Bürgerkriegs führen sollten, vom UN-Sicherheitsrat beschlossen worden. Aber nie hat man sich in Deutschland offiziell mit der Frage befasst, ob daraus nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Verpflichtung für Russland als eine der Garantiemächte entsteht, die Umsetzung, wenn nötig, zu erzwingen.
Allerdings gibt es noch eine weit tiefere Ebene, in der diese Aussage Röttgens zum Völkerrecht und zum Frieden absurd wird. Der Ursprung des modernen Völkerrechts war die Beendigung eines Krieges, des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland. Andere wichtige Bestandteile, wie die UN-Charta, wurden hinzugefügt mit einer zentralen Vorgabe: menschliches Leben zu bewahren, und wenn möglich, nicht als tierisches Vegetieren, sondern unter den für eine menschliche Entwicklung erforderlichen Bedingungen. Was man praktisch sehen kann, ist, wie mit dem vermeintlich völkerrechtlichen Verweis auf „territoriale Integrität“ Hunderttausende in den Tod geschickt werden. Selbst wenn man ignoriert, dass tatsächlich geopolitische Interessen einer dritten Partei dahinterstehen ‒ auch das Völkerrecht kennt eine Rangfolge der Rechtsgüter, und das Leben dieser Hunderttausenden steht weit höher als die Kategorien, die für solche wie Röttgen „zweifelsfrei mit dem Völkerrecht übereinstimmen“.
Wobei die Veränderung des Sprachgebrauchs, die NATO-weit durchgesetzt wurde und nach der immer die Rede von einem „gerechten“ Frieden ist statt von einem Frieden, auch ein Manöver ist, um behaupten zu können, einen gerechten Krieg zu führen, ohne dies auszusprechen. Letztlich ist da eben nicht die Rede von Frieden, sondern die Rede von Kriegszielen, an denen eisern festgehalten wird ‒ mit einer Verbissenheit und Wirklichkeitsverleugnung, die historisch bestenfalls ein Vorbild in den Tiefen des Führerbunkers hat.
Röttgen betrachtet Putins Aussage, einen Einsatz von Präzisionsraketen mit großer Reichweite als Kriegsbeteiligung der NATO zu werten, als „Einschüchterungspropaganda“. Damit ist er ziemlich repräsentativ für die Reaktionen, die bisher auf diese Feststellung erfolgten. Der aktuelle Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte beispielsweise: „Er [Putin] droht, wann immer es ihm beliebt, und lockt, wann immer er es für richtig hält.“ Einige Erzeugnisse der Lokalpresse haben sogar ein neues Wort erfunden, um den möglichen Einsatz dieser Raketen zu verniedlichen: „Weitschusserlaubnis“. Als ginge es nur darum, den Wasserhahn ein bisschen weiter aufzudrehen.
Was bestenfalls als russische Übertreibung wiedergegeben wird, ist die nüchterne, technische Begründung, warum die russische Regierung den Einsatz dieser Raketen als Kriegsbeteiligung der NATO sieht: weil eigentlich alle entscheidenden Handlungen dabei gar nicht von ukrainischer Seite vorgenommen werden können. Das beginnt mit den Satellitendaten, die mögliche Ziele lokalisieren, und endet mit der Programmierung dieser Daten in die Waffensysteme. Nachdem unübersehbar auch die Entscheidung über den Einsatz dieser Systeme nicht in der Ukraine fällt und die gesamte Planung für das militärische Vorgehen längst bei EUCOM liegt und nicht in Kiew, ist damit der Anteil der NATO, in welcher ihrer vielen Gestalten auch immer, so groß, dass ukrainische Soldaten, die in der Nähe herumstehen, höchstens als Dekoration gelten können.
Diese Entwicklung begann bereits mit Systemen wie der Panzerhaubitze 2000, also, sobald die reine Lieferung nicht mehr genügte, sondern mindestens noch die Ausbildung hinzukam. Glaubt wirklich irgendjemand, die Patriot- oder IRIS-Systeme würden von Ukrainern bedient? Oder dass die Kiewer Truppen ohne die Versorgung mit westlichen Aufklärungsdaten auch nur imstande wären, die Krim zu attackieren?
Wäre die Ukraine auch nur noch ansatzweise ein Staat, der fähig ist, im eigenen Interesse zu agieren, wäre das Friedensabkommen in Istanbul unterzeichnet worden und in Kraft getreten, und all die Opfer der zweieinhalb Jahre danach wären noch am Leben. Hätten die Hobbyvölkerrechtler von Außenministerin Baerbock bis Norbert Röttgen auch nur ansatzweise begriffen, warum der Frieden im Völkerrecht einen so hohen Stellenwert hat ‒ nämlich weil es um die Bewahrung des menschlichen Lebens geht ‒, wären sie nicht imstande gewesen, stetig neues Öl ins Feuer zu gießen.
Aber es ist wichtiger, das Narrativ zu retten, das man unter so großem Aufwand mit Strafverfahren und Zensur durchgesetzt hat, als die Wirklichkeit wahrzunehmen. Wenn die Wirklichkeit lautet „Krieg der NATO gegen Russland“, dann könnte das nur die Existenz kosten. Ein Bruch des Narrativs aber kostet den Status, und wie bei allen tief narzisstisch Gestörten ist der Status selbst wichtiger als das eigene Leben.
Nicht, dass man tatsächlich fürchten müsste, dass Russland irrational reagiert. Das, was da erfolgt ist, war ein sehr ruhiger und gut bedachter Hinweis, der natürlich einige Konsequenzen haben könnte. Beispielsweise, dass die Aufklärung, die bisher für den Krieg in der Ukraine, aber mit Mitteln der NATO erfolgt, nicht mehr ungestört stattfinden kann. Das reicht von den Aufklärungsdrohnen, die regelmäßig rund um die Krim fliegen, bis hin zu Satelliten. Ab dem Moment, ab dem Russland die Entscheidung trifft, die längst schleichend eingeführte Beteiligung der NATO auch als solche zu behandeln, sind das alles legitime Ziele. Insbesondere, wenn sie konkret dazu beitragen, die beabsichtigten Angriffe auf Russland zu ermöglichen. Und dann gibt es die kreativen Möglichkeiten ‒ viele US-Gegner weltweit wären für kleine Geschenke dankbar.
Wenn im Westen immer behauptet wird, die arme Ukraine werde daran gehindert, sich zu wehren ‒ mit eigenen Mitteln hätte sie diesen Krieg gar nicht führen können. Ohne dieses westliche Eingreifen hätte sie sich, trotz des ursprünglich großen Bestandes an alten sowjetischen Waffen, gerade ein wenig besser gestellt als ein Drittweltland, mit Aufklärungsmöglichkeiten knapp über jenen des Zweiten Weltkriegs. Was diese massive westliche Unterstützung bewirkt, ist ein völliger Realitätsverlust auf Seiten der ukrainischen Führung (sofern sie nicht ohnehin völlig in fremdem Auftrag agiert) ‒ ein Begreifen der Bedingungen der eigenen Existenz ist immer eine nötige Voraussetzung rationaler Politik. Aber der vermeintlich hilfreiche Westen war ja nicht einmal imstande, selbst seine Produktionsmöglichkeiten vorher zu überprüfen.
Es ist bisher, entgegen den in Deutschland kursierenden Behauptungen, Russland, das sich zurückhält. Was sich auch in der Bezeichnung „militärische Spezialoperation“ zeigt. Weil es darum geht, eine Ausweitung dieses Krieges zu vermeiden. Weil das Ziel eben nicht lautet, den Westen militärisch niederzuringen, sondern, die Ukraine zu demilitarisieren und zu entnazifizieren. Diese westlichen Drohnen über dem Schwarzen Meer fliegen nicht, weil Russland sie nicht abschießen könnte. Sie fliegen, weil Russland sie hingenommen hat, um diesen Konflikt begrenzt zu halten. Nebenbei bemerkt, auf eigene Kosten.
Wäre es Russland nämlich um einen Krieg gegen die NATO gegangen, wären genau diese Mittel der Aufklärung das erste Ziel gewesen. Das Zweite die Kommandozentralen. Um zu wissen, wo EUCOM liegt, reichen zur Not auch noch alte sowjetische Karten. Und wer Hyperschallraketen besitzt, braucht keine Atomwaffen, um selbst tiefe Bunker zu knacken.
Natürlich steckt auch hinter dieser Runde Unvernunft ein politisches Spiel. Weil es nicht gelungen ist, durch den Stellvertreterkrieg in der Ukraine eine Revolte aus dem liberalen Lager auszulösen, um „Putin zu stürzen“ (die Anführungszeichen nur als leiser Hinweis, dass es nie um eine einzelne Person ging), wird es jetzt andersherum versucht: Die ganzen Provokationen sollen dazu führen, dass dann eben die Hardliner aufbegehren.
Irgendwann, und sei es Sonntagnachmittag beim Kaffeetrinken, sollten unsere deutschen Politiker vielleicht doch einmal ihren Wirklichkeitssinn reaktivieren und die verborgenen Überreste ihrer Menschlichkeit ausgraben. Wahrnehmen, dass sie sich gerade auf eine Schwelle zubewegen, die die gleiche Qualität hat wie jene Anfang 2022, als klar angekündigt wurde, was erfolgen würde, aber die Mischung aus Hochmut und Knechtsgeist zu mächtig war, um zuzuhören und angemessen zu reagieren. Genau das gleiche Problem zeigt sich heute wieder. Sie sind zu hörig und zu unterwürfig, um zu erkennen, dass die deutschen Interessen sehr wenig mit den US-amerikanischen zu tun haben, und zu hochmütig, um die russischen überhaupt hören zu wollen.
Der Respekt für das Leben der anderen, dieser erste Gedanke, diese erste Notwendigkeit, aus der das Völkerrecht erwachsen ist, würde es gebieten, die „Unterstützung“ dieser Kiewer Regierung sofort einzustellen, statt stetig weiter nachzufeuern. Aber die Sicht auf das Völkerrecht, die in Deutschland vorherrscht, ist die eines Winkeladvokaten (wenn nicht gleich einer Trampolinspringerin) ‒ man dreht und biegt es so lange, bis es passt, und wessen Leben da in die Quere kommen, ist gleich. Wobei man sich bizarrerweise darauf verlässt, dass genau das Russland, das man von früh bis spät zum Ursprung aller Übel erklärt, zurückhaltend, rational und menschlich reagiert.
Doch genau aus diesem Grund sollte man darauf verzichten, noch eine Runde dumme Propaganda zu spinnen, und zuhören, wenn sich die Botschaft, die mitgeteilt wird, auf fünf Buchstaben reduzieren lässt: G E N U G.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Außenministerin Baerbock, Kanzler Scholz und Verteidigungsminister Pistorius bei einem Treffen des Nordatlantikrats in Schweden, 11. Juli 2023
Foto: NATO, CC BY-NC-ND 2.0
Quelle: https://www.flickr.com/photos/nato/53038733834