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Das Geschenk zum 75. Jahrestag der NATO: Unterstützung durch Frankreichs Oppositionsparteien

Bisher hatte sich die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Partei La France insoumise, die sich als „radikale Linke“ bezeichnet, eher durch ihre grundsätzliche Ablehnung der Nordatlantischen Allianz hervorgetan. Nun scheint sich das Blatt zu wenden.

Von Pierre Levy

Erstveröffentlichung am 09.04.2024 auf RT DE

Wenn Russland Polen angreift, „haben wir die Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung, (…) wir werden ihnen helfen müssen, sich zu verteidigen„. In dem von den Mainstream-Medien geschaffenen russophoben Klima erscheint diese Erklärung vom 3. April traurig banal. Sie spiegelt getreulich das Hauptargument der EU wider: Militärische Hilfe für die Ukraine sei notwendig, um Moskau davon abzuhalten, seine Nachbarn bei lebendigem Leib zu verschlingen. Bis zur Oder und zur Donau. Und warum nicht bis zum Rhein und dann, wer weiß, bis zur Spitze der Bretagne?

Was auf der politischen Bühne Frankreichs eigentlich hätte auffallen müssen, ist die Autorin des Satzes. Es ist nämlich Manon Aubry, scheidende Europaabgeordnete und Spitzenkandidatin der Partei La France insoumise (LFI) für die Europawahlen, die sich damit einem bereits gut besetzten Lager anschließt: dem der Befürworter der NATO, die als kollektives Verteidigungsinstrument des Westens gesehen wird, der von den Ambitionen des Kreml bedroht werde. Bisher hatte sich die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Bewegung, die sich als „radikale Linke“ bezeichnet, eher durch ihre grundsätzliche Ablehnung des Atlantischen Bündnisses hervorgetan.

So bekräftigte das Programm der LFI ihre Absicht, „den sofortigen Rückzug Frankreichs aus dem integrierten Kommando der NATO und dann schrittweise aus der Organisation selbst vorzuschlagen„. Dieser Wille scheint heute vergessen zu sein. „Wenn morgen ein europäisches Land angegriffen wird, müssen wir natürlich Solidarität zeigen„, so die Europaabgeordnete. Eine bewaffnete Solidarität, natürlich.

Unter diesen Umständen fällt es schwer, in der Erklärung von Frau Aubry keine politische und ideologische Kehrtwende zu sehen. Die NATO-Führer, die sich darauf vorbereiten, vom 9. bis 11. Juli in Washington das 75-jährige Bestehen der Organisation zu feiern, dürften eine solche Unterstützung auf jeden Fall zu schätzen wissen. Ein schönes Geburtstagsgeschenk, zweifellos.

Umso mehr, als es nicht allein kommt. Am anderen Ende des politischen Spektrums hat das Rassemblement National (RN) gerade eine sehr ähnliche Entwicklung bekannt gegeben. Regelmäßig wird die Partei von Marine Le Pen von ihren Gegnern beschuldigt, „pro-russisch“ zu sein und sogar vom Kreml finanziert zu werden – ähnlich wie die AfD, die in der gleichen Fraktion im Straßburger Parlament sitzt.

Jordan Bardella, der junge Vorsitzende der Partei und Spitzenkandidat bei den EU-Wahlen im Juni, erklärte einige Tage vor Manon Aubry, dass der Vorschlag des RN, Frankreich aus dem integrierten Kommando der NATO zu entlassen, nicht mehr auf der Tagesordnung stehe, so lange „der Krieg noch immer im Gange ist„. Das Argument ist paradox: Gerade weil der Krieg noch im Gange ist, sollte es dringend geboten sein, sich nicht in ihn hineinziehen zu lassen, und zwar von einem Bündnis, dessen Hauptmerkmal nicht darin besteht, nach Beschwichtigung zu streben.

Man kann sich daher fragen: Was veranlasst die beiden letzten parlamentarischen Parteien in Frankreich, die bislang ein Image der Opposition gegen den „Mainstream“-Bellizismus gepflegt hatten, dazu, de facto ihren Anschluss zu bekunden?

Ist es Opportunismus, d. h. die Befürchtung, dass sie durch eine zu weiche Anprangerung Russlands Stimmen verlieren könnten? Das ist möglich, auch wenn es in Wirklichkeit ein zweifelhaftes Kalkül ist, das die Existenz einer pazifistischen Gesinnung bei vielen Bürgern, die nicht der herrschenden Ideologie unterworfen sind, unterschätzt.

Oder eine grundlegende Bekehrung? Diese könnte durch die langsame Beeinflussung begünstigt werden, die sich aus dem ständigen Eintauchen ihrer Führer in die europäischen Institutionen – hier das Europaparlament – ergibt. Das Phänomen ist bekannt: Es wäre nicht das erste Mal, dass ein „radikaler“ Oppositioneller – oder, der sich als solcher ausgeben will – in eine EU-Institution eintritt, indem er seine Absicht verkündet, sie „von innen heraus umzugestalten“, und am Ende … selbst umgestaltet wird.

Die beiden Hypothesen schließen sich nicht aus, könnten sich sogar ergänzen. Dies ist auf jeden Fall ein möglicher Grund zur Freude für den amerikanischen Außenminister, der sich auf einer Express-Tour durch den alten Kontinent befand. Bei seinem Besuch in Paris am 2. April plädierte Antony Blinken dafür, dass die Europäer ihre Produktion von Waffen, Munition und Ausrüstung für die Ukraine verstärken. Er betonte, dass es sich dabei um „Investitionen in uns selbst“ handele.

Dieses Argument scheint nun von Frau Aubry und Herrn Bardella geteilt zu werden.

Pierre Lévy war Gewerkschaftsfunktionär der CGT-Metall und von 1996 bis 2001 Redakteur bei “L’Humanité“. Er lancierte 2000 eine „radikal eurokritische, fortschrittliche Monatszeitung“ unter dem symbolischen Titel „Bastille-République-Nation“, die ab Frühjahr 2015 als „Ruptures“ (dt. „Brüche“) fortgesetzt wird, zusätzlich mit der Webseite: https://ruptures-presse.fr/


Bild oben: Manon Aubry im EU-Parlament 2022
Foto: European Parliament – https://www.flickr.com/photos/36612355@N08/51988134343/, CC BY 2.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=116731303