Demokratie – Medien – Aufklärung

Jahre des großen Wandels

Kaum ein Staatsmann der „westlichen“ Welt ruft so viel Aufregung und Missfallen in politischen Institutionen und abfällige Kommentare in den Mainstream-Medien hervor wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Ohne dass es begründet wird oder begründet werden müsste, wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Mann ein „Rechter“ ist, und auch „Linke“ melden zu diesem Befund selten Zweifel an. Die Folge: man braucht ihn nicht ernst zu nehmen und sich nicht mit seinen Positionen argumentativ auseinanderzusetzen.

Mit diesem Beitrag soll das verbreitete Bild des Politikers Orbán nicht von schwarz in weiß verwandelt, aber zu einer differenzierten Betrachtung angeregt werden. Orbán ist fest in einer christlich-konservativen Weltsicht verwurzelt, was Freidenkern fernliegt, dem sie aber mit Toleranz begegnen. Wenn er für zahlreiche zu Recht kritisierten Missstände allerdings die Aufklärung und die „Abkehr von Religion und Christentum“ verantwortlich macht, wird es aus Freidenker-Sicht problematisch, zumal aus einer falschen Diagnose selten eine erfolgreiche Therapie wächst. Und wenn Viktor Orbán sich felsenfest an der Seite Israels mit seiner völkermörderischen Politik positioniert, ist dies aus unserer Sicht völlig inakzeptabel.

Was uns aber hier interessiert (und zu den eingangs genannten Missfallenskundgebungen führt), sind die Bewertung der internationalen Lage durch den Ministerpräsidenten und das darauf gründende Handeln der Republik Ungarn. Die jüngste Aufregung entspringt der Ankündigung des EU-Ratspräsidenten Michel, bei der bevorstehenden Wahl zum EU-Parlament zu kandidieren, was zum Ende seines Bürokraten-Jobs führen wird. Falls sich die Regierungschefs der EU nicht rechtzeitig einen Nachfolger einigen, würde Viktor Orbán interimsmäßig einrücken, da Ungarn am 1. Juli 2024 für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft übernimmt. Diese Aussicht „löst Abwehraktivität aus“ (euronews, 08.01.2024), EVP-Chef Weber will „Orban verhindern“ (ntv, 07.01.2022) und Bild (08.01.2024) weiß: „Putin würde es lieben“.

Womit hat sich Orbán seinen „guten Ruf“ verdient, außer mit Plakatkampagnen wie oben dokumentiert? Er war der einzige EU-Regierungschef auf dem Forum der Seidenstraßeninitiative im Oktober 2023, worauf der Londoner The Guardian weiß, „die EU finde Ungarns Verhalten in der aktuellen geopolitischen Lage immer mehr besorgniserregend. Dies zeige das jüngste Treffen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin in Peking. Ein hochrangiger europäischer Diplomat erklärte diesbezüglich, es sei derzeit nicht klar, ob Brüssel dem osteuropäischen Land als Verbündetem und Partner noch vertrauen könne.“ Beim EU-Gipfel war das Motto „Alle gegen einen – einer gegen alle“: „Die Beschlüsse zugunsten der Ukraine erfordern Einstimmigkeit, Orban hat damit ein Vetorecht.“ „Ungarn blockiert weitere EU-Hilfen für die Ukraine“ (ARD tagesschau, 14./15.12.2023). Orbán sehe keinen Grund, „warum er ungarisches Steuergeld in die Ukraine schicken sollte, um damit eine Strategie zu unterstützen, die nicht funktioniere. Das Ziel sei, der Ukraine zu einem Sieg über Russland zu verhelfen, um dadurch auch die Regierung in Moskau zu stürzen. Dieses Ziel sei nicht realistisch.“

In den seltensten Fällen kann man Ungarns Premier im O-Ton zur Kenntnis nehmen, und sich ein eigenes Urteil bilden. Aus diesem Grund dokumentieren wir auf Vorschlag der Freidenker Ungarns Viktor Orbáns jene Teile seiner Rede am 22. Juli 2023 in Tusnádfürdő, in der er seine grundsätzliche Sicht auf die internationale Entwicklung dargelegt hat. Auch diese Rede des „rechtsnationalen Premiers“ (Der Standard, 23.07.2023) war wieder Anlass für die Mainstream-Medien des Westens, ihn als „Vorbild für die Systemfeinde“ (Süddeutsche Zeitung, 20.07.2023) anzukündigen und ihm „sarkastische, streckenweise bösartige Polemik gegen den Westen, die USA und die EU“ (Focus, 23.07.2023) vorzuwerfen.

Wir danken Jan Mainka, Chefredakteur und Herausgeber der Budapester Zeitung, für die freundliche Genehmigung zur Nutzung von Text und Bildern.

Klaus Hartmann, Präsident der Weltunion der Freidenker


Auszüge aus Victor Orbans Rede im Juli 2023 bei der Freien Sommeruniversität in Tusnádfürdő

Meine lieben Freunde!

Wir erleben einen besonders gefährlichen Zeitraum der Geschichte der Menschheit, dies sind die Jahre der großen Veränderung. (…) Das Wesentliche dessen, was ich sagen möchte, ist, dass sich das Kraftgleichgewicht der Welt verändert hat und wir leiden jetzt unter den schwerwiegenden Folgen dessen. Erinnern wir uns nur, nach dem Zweiten Weltkrieg gab es über achtzig Jahre in der Welt ein Gleichgewicht der Kräfte.

Jetzt aber hat China das Gleichgewicht der Welt bewegt. Das ist eine alte Befürchtung der westlichen Welt. Schon Napoleon hatte gesagt, ich zitiere ihn: „Lasst ihr China schlafen, wenn es erwacht, wird es die Welt erschüttern.“ Es ist lehrreich, wie diese Situation entstanden ist.

Taktische, strategische und historische Zeit

Ich mache einen kleinen Exkurs, einen methodischen Exkurs. Aufgrund meiner Erfahrung muss man, wenn man eine politische Entscheidung trifft, gleichzeitig drei Zeitebenen vor sich sehen, und man muss auch die zu entscheidende Frage zuallererst in irgendeine davon einreihen, und wenn man sie eingereiht hat, darf man erst danach die konkrete Entscheidung treffen. Also die drei Zeitebenen, auf denen die Politik existiert: die taktische Zeit, die strategische Zeit und die historische Zeit. Wenn du sie falsch einordnest, dann führt deine Entscheidung zu unerwarteten Folgen.

Ich nenne zwei Beispiele. Als Frau Bundeskanzler Merkel 2015 sich mit den Migrantenströmen konfrontiert sah, hat sie das Problem der taktischen Zeit zugeordnet und gesagt: „Wir schaffen das!“ Heute ist es schon offensichtlich, dass in der Wirklichkeit diese Frage zu der strategischen Zeit gehörte, denn die Folgen ihrer Entscheidung werden die gesamte Kultur Deutschlands umformen.

Tektonische Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses

Wir sind bei China angekommen. Das zweite Beispiel, die vereinigten Staaten zu Beginn der 1970er Jahre. Damals entscheiden die USA, China aus der Isolation zu befreien, offensichtlich um leichter mit den Russen fertig werden zu können, deshalb ordnen sie diese Frage der strategischen Zeitebene zu. Doch es stellt sich heraus, dass in Wirklichkeit diese Frage, die Befreiung Chinas, zur historischen Zeit gehört, denn als Ergebnis der Befreiung stehen heute die Vereinigten Staaten und wir alle einer größeren Kraft gegenüber, als jene, die wir besiegen wollten.

Eine falsche Einordnung, unerwartete Folgen. Doch jetzt ist das, was geschehen ist, bereits geschehen, Tatsache ist, dass es noch nie eine so schnelle und tektonische Veränderung im globalen Gleichgewicht der Kräfte gegeben hat als jene, in der wir heute leben. Erinnern wir uns daran oder beachten wir, dass China anders aufsteigt als die Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten sind geworden, und China gibt es, das heißt in Wirklichkeit können wir über eine Rückkehr sprechen, wir sprechen über die Rückkehr einer fünftausend Jahre alten, eine Milliarde und 400 Millionen Menschen umfassenden Zivilisation.

In vielen Bereichen das stärkste Land der Welt

Und es ist ein Problem, das gelöst werden muss, denn von selbst löst es sich nicht. China ist ein Produktionskraftwerk geworden, in Wirklichkeit hat es die USA bereits überholt oder überholt sie gerade in diesen Minuten. Autoherstellung, Computer, Halbleiter, Medikamente, Infokommunikationssysteme, in jeder dieser Sparten sind sie heute die stärksten auf der Welt. Was geschah, ist, dass den etwa 300 Jahre dauernden Weg der westlichen industriellen Revolution und der globalen Informationsrevolution China innerhalb von dreißig Jahren zurückgelegt hat. Als Ergebnis dessen haben sie hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit und heute ist der Gesamtwohlstand und das Gesamtwissen der Menschheit größer als es früher war. Doch wenn dem so ist, wo steckt dann hier die Gefahr?

Die Gefahr, meine lieben Freunde, ist die, die Situation ist aus dem Grund gefährlich, weil die Goldmedaille bereits einen Besitzer hat. Die Vereinigten Staaten sind nach ihrem eigenen Bürgerkrieg, nach den 1870er Jahren so aufgewachsen, dass sie das Land Nummer 1 sind, das weltwirtschaftliche Primat ihr unveräußerliches Recht ist, Teil ihrer Nationalidentität, eine Art Glaubensgrundsatz. Und als diese Position herausgefordert wurde, haben das die Vereinigten Staaten immer mit Erfolg zurückgeschlagen. Sie haben die Sowjetunion zurückgeschlagen und, rufen wir uns das in Erinnerung, sie haben auch die Europäische Union zurückgeschlagen.

Vor einigen Jahrzehnten war es noch der Plan der Europäischen Union, neben den Dollar, als Weltwährung, dann auch den Euro aufsteigen zu lassen. Wir können es uns anschauen, wo heute der Euro ist. Und wir hatten auch einen Plan, den wir dahingehend formuliert hatten, eine große Freihandelszone muss sich von Lissabon bis Wladiwostok erstrecken. Was sehen wir heute? Dass die Freihandelszone sich heute von Lissabon bestenfalls bis zum Rand von Donezk erstreckt. 2010 haben zur Gesamtproduktion der Welt sowohl die USA als auch die Europäische Union noch jeweils 22-23% beigetragen. Heute geben die USA 25 und die Europäische Union 17, das heißt die Vereinigten Staaten haben mit Erfolg den Versuch der Europäer, der Europäischen Union zurückgeschlagen, dass sie an ihre Seite tritt oder sie gar überholt.

Abstieg der USA

Es gibt hier einen einfachen Zusammenhang in der internationalen Politik, laut dem je größer dein GDP, dein Bruttosozialprodukt ist, desto größer ist dein Einfluss auf die internationalen Angelegenheiten. Das heißt, heute sehen wir, dass die amerikanische Dominanz auf der Weltbühne kontinuierlich zurückgedrängt wird. Und die ersten der Welt mögen so etwas nicht.

Ihre Denkweise ist einfach, man kann sie im Großen und Ganzen so zusammenfassen, dass wir hier auf dem Dach der Welt sind, wir sind deshalb hochgeklettert, um für immer hier zu bleiben. Es gibt natürlich diese Sache namens „Geschichte“, die unangenehm ist, doch ist das Wesentliche, dass sie immer mit anderen Ländern und anderen Völkern geschehen muss, für uns ist sie zu Ende gegangen und wir bleiben für immer hier oben auf dem Dach der Welt. Das ist ein verführerischer Gedanke, doch ist es die unangenehme Wahrheit der heutigen Tage unseres Lebens, dass es keine ständigen Sieger und keine ständigen Verlierer in der Weltpolitik gibt.

Eine noch unangenehmere Wahrheit ist, dass die derzeitigen Prozesse Asien und China begünstigen, mag es um die Wirtschaft, den technologischen Fortschritt oder eben um die militärische Stärke gehen. Eine noch unangenehmere Wahrheit ist, dass sich auch in den internationalen Institutionen eine Veränderung vollzieht. Wir alle kennen den Zusammenhang, dass wer die internationalen Institutionen erschafft, dem sichern sie einen Vorsprung. Deshalb hat China ganz einfach seine eigenen geschaffen. Da haben wir vor uns die BRICS, die Neue Seidenstraße und die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank, deren Entwicklungsquellen mehrfach die Entwicklungsressourcen aller westlicher Länder übertreffen.

Das heißt Asien bzw. China steht in einem kompletten Großmachtgewand vor uns. Es besitzt ein Zivilisationsbekenntnis, es ist der Mittelpunkt des Universums und das befreit innere Energie, Stolz, Selbstachtung und Ambitionen. Es besitzt einen perspektivischen Plan, was sie dahingehend formulieren, „das Jahrhundert der Erniedrigung zu beenden“, das heißt China wieder groß zu machen, um die Amerikaner zu paraphrasieren. Es besitzt ein mittelfristiges Programm, jene Dominanz in Asien wieder herzustellen, die existierte, bevor der Westen kam. Und es besitzt ein Gegenmittel gegen die Hauptwaffe der USA, die hauptsächliche weiche Waffe der USA, die wir „universale Werte“ nennen. Heute lachen die Chinesen diese einfach aus und sagen, das sei ein westlicher Mythos und die Rede von den universalen Werten sei in Wirklichkeit eine feindliche Waffe gegenüber den anderen nichtwestlichen Zivilisationen, und von dort aus gesehen, steckt darin auch etwas Wahrheit.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bei seiner Rede in Tusnádfürdő

Kriegsgefahr

Das heißt meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrte Teilnehmer am Sommerlager, heute leben wir so, dass wir von Tag zu Tag uns auf den Zusammenstoß zubewegen, die Eine-Million-Dollar Frage lautet, ob der Zusammenstoß vermieden werden kann? Hierüber erscheinen immer mehr Studien und Bücher (…). Eine bemerkenswerte sagt, in den vergangenen dreihundert Jahren gab es 16 Fälle, in denen an der Seite der weltweit führenden Macht bzw. vor ihnen ein neuer Champion aufstieg. Die schlechte Nachricht ist, dass von den 16 identifizierten Fällen 12 mit einem Krieg endeten und nur vier friedlich verliefen.

Das heißt, meine lieben Freunde, in der Weltpolitik befinden wir uns heute im gefährlichsten Moment, in dem sich die Weltmacht Nummer 1 auf den zweiten Platz herabsinken sieht. Die Erfahrung ist, dass die herrschende Großmacht sich selbst im Allgemeinen als gutmütiger, über bessere Absichten verfügend sieht, als sie es ist, und dem Herausforderer häufig böse Absichten zuschreibt, als dies begründet oder nötig wäre. Folgerichtig gehen die einander gegenüberstehenden Seiten nicht von den Absichten des anderen aus, sondern von den Fähigkeiten, das heißt also nicht davon, was sie tun wollen, sondern davon, wozu sie in der Lage wären, und schon ist der Krieg fertig. Dies nennt man die Falle des Thukydides, der die Geschichte des Peloponnesischen Krieges zwischen Sparta und Athen geschrieben und dieses Problem als erster erkannt hat.

Meine Damen und Herren!

Hinsichtlich unseres Lebens folgt daraus, dass der Zusammenstoß der beiden Großen, hierzu auch den militärischen Zusammenstoß gerechnet, wahrscheinlicher ist, als dass wir das heute von hier aus Tusnádfürdő sehen. Eine gute Nachricht, oder zumindest ein Hoffnungsstrahl ist, dass der Krieg nicht unvermeidbar ist. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Welt in der Lage sein muss, anstelle des verrückten Gleichgewichts ein neues Gleichgewicht zu finden. Die Frage ist, wie? Die Wahrheit ist, dass das die Sache der großen Jungs ist, hierbei hat man an uns keine Karten ausgeteilt, wir sollten unsere Rolle nicht missdeuten. Wir können nur so viel sagen, dass man jetzt irgendetwas der Art machen müsste, wofür es noch kein Beispiel gab, die Großen müssten akzeptieren, dass es zwei Sonnen am Himmel gibt. Das ist eine radikal abweichende Denkweise, als jene, mit der wir in den vergangenen einigen hundert Jahren gelebt haben.

Sicherheitspartnerschaft

Die einander gegenüberstehenden Parteien müssten sich als gleichrangige Partner anerkennen, unabhängig davon, wie gerade die aktuellen Kräfteverhältnisse aussehen. Auch Sie können sehen, wie in Peking die amerikanischen führenden Politiker einander die Klinke in die Hand geben, das ist das Zeichen dafür, dass man auch in den Vereinigten Staaten die Gefahr und das Problem sieht. Dort war der Außenminister zu Besuch, dort war der Finanzminister zu Besuch und zuletzt auch Herr Kissinger, Hauptberater für Fragen der nationalen Sicherheit. Und wenn auch Sie die Nachrichten lesen, dann haben Sie sehen können, vor einigen Tagen haben die Japaner angekündigt, sie würden ihre Militärausgaben verdoppeln und eine der stärksten Armeen der Welt aufbauen.

Nun, was geht uns aus dieser Situationsanalyse an? Es lohnt sich für uns, zu verstehen, meine lieben Freunde, dass die Einstellung des neuen Gleichgewichts nicht von einem Tag zum anderen gehen wird, ja nicht einmal von einem Monat zum anderen. Die Einstellung solch eines neuen Gleichgewichts erfordert den Zeitraum einer ganzen Generation, das heißt nicht nur wir, sondern auch unsere Kinder werden noch in diesem Weltzusammenhang, in dieser Weltzeit, in diesem Zeitgeist ihr Leben leben, und wir, Ungarn, müssen in dieser globalen Situation und in diesem Zeitgeist unser Glück machen, und dies beachtend muss man die ungarischen nationalen Pläne formen.

Treten wir einen Schritt näher an Tusnádfürdő heran, sprechen wir einige Sätze über die Europäische Union. Wenn Sie heute einen Blick auf die Europäische Union werfen, dann kann der Eindruck entstehen, dass sie von Angstzuständen geplagt wird und sich umzingelt fühlt. Sie hat alle Gründe dafür. Die EU, jene ungefähr vierhundert Millionen Menschen, wenn ich die westliche Welt hierzu zähle, dann sind das weitere vierhundert, also achthundert Millionen Menschen, um die herum sich weitere sieben Milliarden befinden. Und die Europäische Union sieht sich selbst gut, das ist eine reiche und schwache Union. Das ist eine solche reiche und schwache Union, die eine rebellierende Welt um sich herum sieht, undurchdringlicher Lärm, alte Ressentiments, viele hungrige Münder, brutaler Fortschritt, riesiger Verbrauch, Millionen Menschen, die nach Europa losgehen wollen. Sie sieht die Welle der Millionen von Menschen, die sich in der Sahelzone versammeln, die, wenn wir sie nicht dort halten können, auf die europäische Seite des Mittelmeeres herüberkommen können.

Anfang der Woche gab es ein Gipfeltreffen zwischen Lateinamerika und der Europäischen Union in Brüssel, wo ich all das mit meinen eigenen Ohren hören und meinen eigenen Augen sehen konnte. Im Wörterbuch der führenden lateinamerikanischen Politiker lauteten die häufigsten Ausdrücke „native genocide“, was, glaube ich, die Ausrottung der Ureinwohner bedeutet, „slave trade“, also Sklavenhandel, „reparatory justice“, was eine Art Wiedergutmachung durch Entschädigung bedeutet. Sie denken in diesen Kategorien. Kein Wunder, wenn die Europäische Union sich umzingelt fühlt.

Die EU in der Isolation

Und wenn wir einen Blick auf die Landesliste des Internationalen Währungsfonds werfen, die aufgrund der Größe der Wirtschaften, aufgrund der nationalen GDPs die Reihenfolge aufstellt, dann sehen wir, dann sehen wir, dass bis 2030 in der genannten Reihenfolge die heute noch dort vorkommenden Großbritannien, Italien, Frankreich hinausfallen und das heute noch vierte Deutschland auf den zehnten Platz zurückrutschen wird. Das ist die Realität. Heute treibt diese Angst, dieses Gefühl der Umzingelung unsere Europäische Union in Richtung der Abschottung. Sie ist erschrocken durch den Wettbewerb, ist so wie ein zu alt gewordener Boxchampion, sie zeigt ihre Meistergürtel, möchte aber nie mehr in den Ring steigen. Daraus folgt eine Abschottung, ein Sich-Einschließen in ein wirtschaftliches, politisches und kulturelles Ghetto. Man hat die sprachlichen Formen dessen ausgearbeitet, darin sind sie im Übrigen stark, darin sind sie noch immer am stärksten, wie man Formulierungen aufstellen kann, eine komplizierte Situation kurz beschreiben. Dies, die Abschottung nennen sie „decoupling“, Abtrennung oder auf zartere Weise „de-risking“, was so eine Risikominderung bedeutet.

Von hier aus betrachtet ist auch die Politik gegenüber Russland ein Versuch der Abtrennung, sie haben Russland durch Kriegssanktionen von der europäischen Wirtschaft abgetrennt. Und man kann natürlich auch Europa von der russischen Energie abtrennen, doch ist das in Wirklichkeit wirkungslos und eine Illusion, denn man kann Russland nicht von den anderen Teilen der Welt abtrennen. Die russischen Rohstoffe kauft jemand anders und wir leiden in der Zwischenzeit unter der Kriegsinflation und verlieren unsere Wettbewerbsfähigkeit. Ich nenne ihnen zwei Zahlen. Die durch die Europäische Union für den Gas- und Ölimport gezahlte Summe, die beiden zusammen betrugen vor dem russischen Krieg 300 Milliarden Euro und im vergangenen Jahr 653 Milliarden.

Heute funktioniert also die europäische Wirtschaft auf die Weise, heute wollen wir so am Wettbewerb teilnehmen, dass die Energie heute das Doppelte des früheren Energiepreises kostet, die aber in den anderen Teilen der Welt auch weiterhin zum Preis des vorherigen Zeitraums erreichbar ist. Das ist die große Debatte Europas für die kommenden Jahre, wir, Ungarn, müssen uns darauf einstellen, uns abtrennen oder am internationalen Wettbewerb teilnehmen. De-risking oder connectivity, wie man das in Brüssel sagt.

Ich mache eine Art populärwissenschaftlichen Exkurs. Die großen europäischen Firmen wollen sich nicht abtrennen, wollen nicht mehr aus Russland weggehen. Ich habe in den Statistiken hierüber nachgeblättert, 8,5% der 1.400 größten westlichen Firmen haben ihre Betriebe aus Russland zurückgezogen. 8,5. 88% der Pharmaindustrie ist dort, 79% der europäischen Bergbauindustrie sind auch weiterhin dort in Russland, 70% der energetischen Firmen und 77% der Produktionsfirmen. Und Sie werden es nicht erraten, im vergangenen Jahr, 2022, haben die dortgebliebenen westlichen Firmen insgesamt eine Summe von 3,5 Milliarden Dollar in den russischen Haushalt eingezahlt.

Jetzt ist von hieraus gesehen jener Angriff, den die Ukrainer gegen die ungarische, arme, kleine Bank OTP eröffnen nichts anderes als eine Äußerung der Hungarophobie, deshalb müssen wir ihn auch zurückweisen! Über so listige kleine europäische Tricks spreche ich nicht einmal, wie dass unerwartet, im Laufe eines einzigen Jahres sich die Menge der aus Deutschland nach Kasachstan transportierten Waren verdoppelt hat. Warum wohl?

Souveränität statt EU-Regierung

Der andere europäische Prozess der kommenden Jahre, in dem sich die Ungarn positionieren müssen, ist der Kampf der Föderalisten und der Souveränisten. Imperium oder Nationen? Hier haben wir einen ernsthaften Schlag auf die Rippen erlitten, als unsere englischen Freunde mit dem Brexit die Europäische Union verlassen haben. Damit ist innerhalb der EU das Gleichgewicht zwischen den Souveränisten und den Föderalisten durcheinandergeraten. Das sah so aus, dass da auf der einen Seite die Franzosen und die Deutschen als Föderalisten waren, auf der anderen die Engländer und wir, die V4. Wenn die Engländer heute in der Europäischen Union wären, dann müssten wir derartige Ausdrücke wie rechtsstaatlicher Mechanismus, Konditionalität und Wirtschaftsregierung nicht einmal lernen, diese würden nicht existieren. Diese konnten sie nur deshalb in der Europäischen Union einführen, weil die Briten ausgestiegen sind und wir, die V4, das nicht verhindern konnten, ja, die Föderalisten haben einen Angriff auf die V4 gestartet, das Ergebnis sehen wir alle. (…)

Was kann und was muss Ungarn in dieser internationalen Lage tun, in diesem europäischen Milieu, inmitten dieses Treibeises? (..) Die neue ungarische Verfassung ist das Dokument, das uns auf die offensichtlichste Weise von den anderen Ländern der Europäischen Union unterscheidet. (…) Unser geistiger Ausgangspunkt in der Verfassung ist, dass im menschlichen Leben jene Dinge am wichtigsten sind, die man allein nicht erringen kann. Deshalb steht das Wir im Mittelpunkt der Verfassung. Man kann allein nicht den Frieden, die Familie, die Freundschaft, das Gesetz und den Gemeinschaftsgeist erringen, ja, sehr geehrte Teilnehmer am Sommerlager, nicht einmal die Freiheit, denn der Mensch, der allein ist, ist nicht frei, sondern einsam. Alle guten Dinge im Leben basieren im Wesentlichen auf dem Zusammenwirken mit anderen, und wenn das die wichtigsten Dinge unseres Lebens sind, sagt die ungarische Verfassung, dann muss die Gesellschaft und das Rechtssystem diese schützen. (…)

Das zieht sich auch entlang in der Tiefe der Konflikte zwischen der Europäischen Union und Ungarn. Und hier ist ein LGBTQ-Genderfeldzug, über den sich herausgestellt hat, dass man ihn nur auf gemeinschaftlicher Grundlage, auf der Grundlage des Schutzes der Kinder zurückschlagen kann. (…) Um einen Fall aus diesen Tagen zu nennen, Litauen, das ein wirklich braves, bemerkenswertes, großartiges Kinderschutzgesetz besaß, das auch wir als Ausgangspunkt genutzt hatten, als wir das unsere konstruierten, ich sehe jetzt, dass auf den großen Druck hin die Litauer ihre früheren, noch 2012 angenommenen Gesetze zum Schutz der Kinder zurückgenommen und annulliert haben. Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen. Hierhin führt die amerikanische Freundschaft, meine lieben Freunde.

Nun, wir müssen also sagen, in Europa ist heute eine eigene politische Klasse entstanden, die keine Rechenschaft abgeben muss. Sie besitzt weder eine christliche noch eine demokratische Überzeugung und wir müssen sagen, dass die föderalistische Regierung in Europa zu einem Reich ohne Rechenschaft, zu einem Imperium geführt hat, das nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wir haben keine andere Wahl, auch wenn wir Europa lieben, auch wenn es uns gehört, wir müssen dennoch kämpfen.

Unser Standpunkt ist klar, wir wollen nicht, dass alle den gleichen Glauben besitzen sollen, wir wollen nicht, dass alle ein gleiches Familienleben leben sollen, dass alle an den gleichen Feiern teilnehmen sollen, doch wir bestehen darauf, dass wir ein gemeinsames Zuhause haben, eine gemeinsame Sprache besitzen, eine gemeinsame öffentliche Sphäre, eine gemeinsame Kultur haben und das ist die Grundlage für die Sicherheit, die Freiheit und den Wohlstand der Ungarn, und deshalb müssen diese um jeden Preis verteidigt werden. Deshalb werden wir keinen Kompromiss schließen, werden wir in Europa nicht zurückweichen, werden wir auf unsere Rechte bestehen. Wir geben weder der politischen noch der finanziellen Erpressung nach. In Fragen, die zur taktischen Zeit, ja auch in denen, die zur strategischen Zeit gehören, kann man, jedoch in denen, die zur historischen Zeit gehören, darf man niemals einen faulen Kompromiss eingehen. (…)

Quelle: KABINETTSBÜRO DES PREMIERMINISTERS, Übersetzung: Budapester Zeitung, Fotos: Ministerpräsidentenamt / Vivien Cher Benko, Zwischenüberschriften: Freidenker-Redaktion


Bild oben: Plakataktion in Ungarn: „Lasst uns nicht nach Brüssels Pfeife tanzen“