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Putsch gegen das Volk, für das Monolkapital

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 3-23, September 2023, S. 3-11, 82. Jahrgang

von Manfred Sohn

Am 11. September 1973 morgens um 1 Uhr läuft ein Verband chilenischer Kriegsschiffe in den Hafen von Valparioso ein, nachdem er vorher gemeinsam mit US-amerikanischen Flottenverbänden an einer Übung vor der chilenischen Küste teilgenommen hatte. Die Kriegsschiffe der US Navy bleiben vor Ort.[1]

Um 4 Uhr erhalten die Regimenter der Armee die Anweisung, alle Rundfunk­stationen und Regierungsgebäude zu beset­zen. Um 6 Uhr wird die 2. Panzerdivision Richtung Santiago in Marsch gesetzt, bis 8:30 sind Truppen rund um die Hauptstadt zusammengezogen. Um 6:20 erhält der gewählte Präsident Chiles, Dr. Salvador Allende, einen Telefonanruf, mit dem er über den Militärputsch informiert wird. Er versetzt umgehend seinen Persönlichen Schutz in Alarmbereitschaft und eilt – eskortiert von 23 Männern, die mit 23 Maschinenpistolen, zwei MGs und drei Panzerbüchsen bewaffnet sind – in den Präsidentenpalast.

Um 8:15 fordert die Junta, geführt von General Augusto Pinochet den Präsidenten auf, sich zu ergeben. Sie bietet ihm an, in Begleitung seiner Familienangehörigen und seiner Mitarbeiter auf dem Luftweg das Land zu verlassen. Der Präsident antwortet ihnen, daß „sie als Verrätergeneräle nicht wissen, was Ehrenmänner sind“ und weist das Ultimatum empört zurück.

Die Truppen greifen den Präsidentenpalast mit Infanterie, Panzern und Flugzeugen an. In einer Kampfpause verlassen die Unbe­waffneten und die Frauen – darunter zwei Töchter Allendes – den in Rauch gehüllten Palast. Die rund vierzig Verteidiger kämpfen weiter, ziehen sich unter dem Feuer der weit überlegenen Angreifer in das Obergeschoss zurück. Von Kugeln durchlöchert stirbt Allende am frühen Vormittag des 11. September.

Wogegen putschten Pinochet und seine Mordkumpanen?

5. November 1970: Vor 100.000 begeisterten Chileninnen und Chilenen hält gleich nach der offiziellen Amtseinführung der neu­gewählte Präsident Salvador Allende die Siegesansprache und betont: „Es ist ein Sieg, der mit einem sehr präzisen und klaren Programm erkämpft wurde, mit einem großen Nationalbewußtsein und einer ausgesprochen antiimperialistischen Einstellung.“

Wie ein Prolog heutiger Kämpfe gegen die NATO-Bemühungen, die Unterdrückung der ihnen nicht gehorchenden Welt auf ewig zu zementieren, klingt es, wenn Allende fort­fährt: „Die Wahrheit ist – und das wissen wir alle –, daß Rückständigkeit, Unwissenheit und Hunger unseres Volkes und aller Völker der dritten Welt einigen wenigen Privi­legierten Gewinne bringen. Aber jetzt ist end­lich der Tag gekommen, um Schluß zu sagen: Schluß mit der wirtschaftlichen Ausbeutung! Schluß mit der sozialen Ungerechtigkeit! Schluß mit der politischen Unterdrückung!“

Der Sieg von Dr. Salvador Allende war der Abschluß eines langen Kampfes, an deren Beginn Allende 1952 lediglich 57.000 Stim­men für seinen Kurs auf ein neues Chile errungen hatte. Wie bitter nötig eine neue Politik war, machen einige Zahlen deutlich:

Unter den Vorgängerregierungen Jorge Alessandri (Nationalpartei) und Eduardo Frei (Christdemokraten) waren die Lebenshal­tungskosten innerhalb eines Jahrzehnts um 1000 Prozent gestiegen. Die Altersrenten waren durch diese Inflation praktisch ver­nichtet. Allein in der Hauptstadt Santiago lebten 600.000 Menschen in Elends­quartieren. Zwei Drittel aller Bauernhäuser besaßen keinen festen Fußboden, nur zehn Prozent hatten Strom. 1,5 Millionen Kinder waren unterernährt, 600.000 aufgrund dauerhafter Unterernährung geistig zurückge­blieben. Die Kindersterblichkeit auf den Dörfern lag bei 30 Prozent. 15 Prozent aller Chilenen über 15 Jahren waren Analpha­beten.

Auf der anderen Seite und auf Kosten Chiles, vor allem in den USA, häufte sich der Reichtum: 80 Prozent des Acker- und Weidelandes befanden sich in den Händen von 4 Prozent der Bevölkerung, zwei Prozent der chilenischen Familien verfügten über 46 Prozent des Geldeinkommens. 50 Prozent des Aktienkapitals der 30 größten Industrieun­ternehmen Chiles befanden sich im Besitz ausländischer Konzerne. Der Bergbau, aus dem rund 85 Prozent aller Exporterlöse Chiles stammten, war fast vollständig in der Hand von US-Konzernen. Allein diese Konzerne erwirtschafteten jeden Tag 1,5 Millionen Dollar Profit aus ihren Beteiligungen.

Der Protest gegen die Unerträglichkeit der Lage der Arbeiter, der Landbevölkerung, der Kinder und der Alten und die schreiende soziale Spaltung des Landes führte zur Her­ausbildung mehrerer sozialistisch orientierter Organisationen, die aber gegenüber den herrschenden konservativen und reaktionären Kräften, vor allem durch ihre Zersplitterung, letztlich erfolglos blieben. Das begann sich Ende der 1960er Jahre zu ändern.

Das Programm der Unidad Popular

Am 17. Dezember 1969 unterzeichneten sechs politische Parteien ein gemeinsames Programm und beschlossen, bei künftigen Wahlen unter dem Namen „Unidad Popular“ (UP) – Geeintes Volk – anzutreten.

Diese sechs Parteien waren:

  • Sozialistische Partei
  • Kommunistische Partei
  • Radikale Partei
  • Bewegung der Einheitlichen Volksaktion (MAPU)
  • Unabhängige Volkspartei und
  • Sozialdemokratische Partei.

Im Jahre 1971 schloss sich auch die „Christliche Linke“ (IC) der Unidad Popular an.

Das Programm der UP, mit dem sie 1970 in den Wahlkampf zog, war, wie ihr Präsident­schaftskandidat Allende formulierte, „präzise und klar“.

Das „zentrale Ziel der Politik der geeinten Volkskräfte“ wird darin erklärt, ist es, „die ge­genwärtige ökonomische Struktur zu ver­ändern und die Macht des in- und aus­ländischen Monopolkapitals und der Großgrundbesitzer zu brechen.“ Als „erste Maßnahme“, so wird angekündigt, „werden diejenigen rundlegenden Reichtümer nationa­lisiert werden, die sich – wie der große Kup­fer-, Eisen- und Salpeterbergbau und andere Industrien – in der Hand des ausländischen Kapitals und der inländischen Monopole befinden.“

Exakt werden in dem Programm die Berei­che beschrieben, die von der Nationalisierung erfaßt werden sollten – neben den erwähnten Rohstoffindustrieen auch Privatbanken, Versicherungsgesellschaften, der Außenhan­del und die Rüstungsmonopole. Enteignet werden sollen auch die Großgrundbesitzer und alles Bodeneigentum, das der Nutzung entzogen wird, also der Spekulation dient – die „enteigneten Ländereien werden vorzugs­weise in genossenschaftliche Eigentumsfor­men organisiert. Die Bauern werden Besitz­recht auf Haus und Garten haben…“.

Die Arbeitslosigkeit soll schnell beseitigt, die schreiende Wohnungsnot bekämpft wer­den – „Ziel der Wohnungspolitik der Volksre­gierung wird es sein, daß jede Familie eine eigene Wohnung besitzt“, deren „Miete in der Regel 10 Prozent des Familieneinkommens nicht überschreitet.“

Ein besonderes Augenmerk richtet die Unidad Popular auf die Kinder des Landes: Als „Erstmaßnahme“ wird angekündigt, Schulbücher und Schulmaterialen für alle Kinder der Grundschulen kostenlos auszu­geben und allen Kinder täglich einen halben Liter Milch kostenlos zur Verfügung zu stellen sowie das System der Kinderkrippen und –gärten „rasch“ zu erweitern.

Und schließlich sprechen Allende und seine Volkseinheit auch hinsichtlich der interna­tionalen Ausrichtung Klartext: „Auf der Grundlage der Achtung des Selbstbestim­mungsrechtes und der Interessen des chile­nischen Volkes werden Beziehungen zu allen Ländern der Erde aufgenommen werden, unabhängig von ihrer ideologischen und politischen Haltung. Die freundschaftlichen Beziehungen und der Handel mit den sozialistischen Ländern werden sich verstärkt entwickeln.“

Versprochen und gehalten – die drei Jahre der UP-Regierung

Die Einigkeit der vorher zersplitterten Links­kräfte in Kombination mit ihrer klar sozia­listischen Ausrichtung, ihrer antimonopo­listischen Orientierung und ihrem Bekenntnis zum Bündnis mit den sozialistischen Ländern führt schließlich am 4. September 1970 zum Sieg Allendes, der mit 36,3 Prozent vor dem Rechtskandidaten Allessandri (35 Prozent) und dem Christdemokraten Tomic (28 Pro­zent) zum ersten sozialistischen Präsidenten des Landes gewählt wird. Trotz heftiger Gegenwehr der reaktionärsten Kräfte des Landes wird er am 22. Oktober 1970 im chilenischen Kongress mit den Stimmen der Christdemokraten zum Präsidenten prokla­miert. Entsprechend dem Kräfteverhältnis innerhalb des Bündnisses gehören vier Minister der Sozialistischen Partei an, drei der Kommunistischen Partei und drei der Radikalen Partei.

Die Regierung der Volkseinheit macht sich sofort an die Erfüllung ihrer Wahlverspre­chungen – die Kinder bekommen ihre Milch und ihre kostenlosen Schulbücher, die Kon­zerne werden entschädigungslos enteignet, das Kupfer und andere Bodenschätze dem Zugriff US-amerikanischer Konzerne entzo­gen.

Trotz des Schäumens der Herren in Bonn wird die DDR völkerrechtlich anerkannt und die chilenischen Gruppen Quilapayun und Inti-Illimani werden im besseren Deutschland begeistert gefeiert. Fidel Castro verbringt mit Allende in Chile lange Tage und Abende, Allende selbst bereist Kiel und Moskau und wird ein weltweiter Hoffnungsträger für einen Ausbruch aus der Knechtschaft der inter­nationalen Konzerne.

Wie in einem vormals stickigen Raum, bei dem die Fenster weit geöffnet werden, herrscht Aufbruchstimmung im Lande der Anden. Das schlägt sich auch bei nach­folgenden Wahlen nieder. Am 5. April 1971 erringen Kandidatinnen und Kandidaten der UP bei den Kommunalwahlen knapp 51 Prozent der Stimmen.

Auch im vorher eher skeptischen akade­mischen Bereich wächst die Zustimmung zur neuen Politik: Bei den Wahlen zu den Vertretungen der Universitäten geht die UP mit fast 47 Prozent als eindeutig stärkste Kraft hervor. Noch deutlicher ist die Zustimmung innerhalb der Arbeiterklasse: 1972 bekommen bei den Wahlen zu den Führungsgremien der mit dem deutschen DGB vergleichbaren ein­heitlichen Gewerkschaftsorganisation CUT Vertreter der Unidad Popular fast 70 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Immer verbitterter wütet die nationale und internationale Reaktion gegen Allendes Re­gierung an, organisiert im Vorfeld der Parla­mentswahlen am 4. März 1973 Mordserien und Boykottaktionen. Es nützt alles nichts: Nach dreijähriger Regierungszeit gewinnt die UP 43,4 Prozent der Stimmen – sieben Prozent mehr als bei den Wahlen 1970. Sie erhöht die Zahl ihrer Abgeordneten von 57 auf 63.

Luis Corvalan, Generalsekretär der Kom­munistischen Partei Chiles kommentiert die­ses Ergebnis auf der Tagung des Zentral­komitees seiner Partei im März 1973 so:

„Die reaktionären Kräfte haben eine Niederlage erlitten. Ihre Ziele (Erreichung der Zweidrittelmehrheit im Parlament, Redu­zieren der Stimmen der Unidad Popular auf einen Prozentsatz, der unter den letzten Prä­sidentschaftswahlen liegt) wurden vereitelt. (…) Die Wahlergebnisse haben einmal mehr gezeigt, daß die Kommunistische und die So­zialistische Partei die Grundpfeiler der Volks­bewegung sind und daß das Einvernehmen zwischen diesen beiden immer die Schlüssel­frage für die Fortführung der chilenischen Revolution bleiben wird.“

Im Frühjahr 1973 wird nicht nur in den Reichenvierteln Santiagos, sondern auch in Washington zunehmend klar, daß die chilenische Revolution mit den üblichen Mitteln nicht mehr zu bremsen sein wird. Es ist ihnen weder gelungen, die kommunistische und die sozialistische Partei als den beiden „Grundpfeilern der Volksbewegung“, wie es Corvalan formulierte, auseinanderzudividie­ren noch war es ihnen gelungen, eine rechte Massenbewegung etwa nach dem Vorbild der faschistischen Bewegungen in den 1920er und 1930er Jahren in Italien und Deutschland gegen die vereinigte Linke aufzubauen.

Auch die Mord- und Boykottserien hatten nicht zum gewünschten Erfolg der Ermüdung der Bevölkerung angesichts des schweren We­ges zur Befreiung von der in- und auslän­dischen Knechtschaft geführt.

Nicht also weil die Regierung Allendes so schlecht war, sondern im Gegenteil, weil sie zunehmend erfolgreich war, entschlossen sich diese Kräfte im Sommer 1973, nunmehr die Notbremse zu ziehen und die chilenische Revolution im Blut zu ersticken.

Die Strippenzieher…

Unmittelbar nach dem Wahlsieg Allendes, auf den Tag genau drei Jahre vor dem Putsch, am 11. September 1970 wird die faschistische Organisation „Patria y Libertad“ (Heimat und Freiheit) gegründet.

Sie ist ein Ableger der großindustriellen, in den Wahlkämpfen von der Unidad Popular geschlagenen Nationalpartei. Ihr Symbol ist eine Mischung aus Hakenkreuz und Spinne. Innerhalb kurzer Zeit ist sie intensiv vernetzt mit all den Kräften im In- und Ausland, die drei Jahre später die gewählte Regierung blutig aus dem Amt putschen. Einer ihrer Anführer, Pablo Rodriguez, drängt nach dem Sieg der Unidad Popular bei den Märzwahlen 1973 – im Kern damit die oben zitierte Ein­schätzung von Louis Corvalan teilend – zur Eile mit den Worten: „Allende muß heute gestürzt werden und nicht morgen. Wenn die Wahlen 1976 stattfinden, wird der Marxismus 80 Prozent der Stimmen sammeln.“

Ende August erklärt der deutschstämmige Roberto Thieme, der gemeinsam mit Rodri­guez das Gesicht der Organisation ist: „Wir wollen Allende stürzen. Um das Land von ihm zu befreien, werden wir auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Wir sind entschlos­sen, bis zum Tode zu kämpfen.“

Er enthüllt den Generalplan, um zum Er­folg zu kommen: „Unser Ziel ist es, das Chaos bis zu dem Punkte zu beschleunigen, an dem eine Machtübernahme durch das Militär mög­lich ist.“ Als Einschüchterung ist gemeint, daß in jenen Tagen an Hauswände in Santia­go das Wort „Djakarta“ angemalt wird – Hin­weis auf die damals noch lebendige Erinne­rung an die blutigen Massaker des Jahres 1965 in Indonesien, in denen unter Regie der USA Hunderttausende, darunter die meisten Mit­glieder der damals stärksten nichtregierenden kommunistischen Partei zum Opfer fielen.

Der Generalplan zum Putsch ist nicht von Rodriguez und Thieme entwickelt worden. Das taten andere viele Kilometer weiter im Norden. Als in den Chefetagen vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien und Westdeutschland die Empörung darüber wuchs, daß die UP Ernst machte mit der Umsetzung ihres Wahlprogramms, setzte sich einer der damals größten internationalen Konzerne an die Spitze dieser Bewegung gegen Allende: ITT – die „International Telephon & Telegraph Cooperation“. In 90 Ländern schufteten damals über 420.000 Menschen für die Profite der ITT. Mit einem jährlichen Umsatz von fast 9 Milliarden Dollar übertraf der Konzern das Brutto­sozialprodukts Chiles, in dem er 200 Millionen Dollar investiert hatte, die er ungern abschreiben wollte.

Der ITT-Vizepräsident William R. Merriam wandte sich am 23. Oktober 1970 direkt an den US-Präsidenten Richard Nixon und drängt auf eine Intervention zur Korrektur der chilenischen Entwicklung.

Am 9. November bekommt er mit Briefkopf des Weißen Hauses in Washington Antwort von einem der heute noch lebenden Strip­penzieher des Mordes an Allende: „Lieber Mr. Merriam, vielen Dank für Ihren Brief vom 23. Oktober und das beigefügte Schrift­stück über die US-Lateinamerika-Politik. Ich habe es sorgfältig durchgelesen und es an die Mitglieder meines Stabes weitergegeben, die mit Angelegenheiten Lateinamerikas zu tun haben. Ihre Ansichten und Empfehlungen sind sehr von Nutzen, und wir werden sie sicherlich berücksichtigen. Ich danke Ihnen, daß Sie sich Zeit genommen haben, sie mir zu überlassen. Mit besten Grüßen, Henry A. Kissinger.“

So ermutigt arbeitet Merriam bis zum 1. Oktober 1971 einen detaillierten 18-Punkte-Plan zur generalstabsmäßigen Vorbereitung auf den Staatsstreich aus. Im Zentrum steht die Idee, stufenweise ein ökonomisches Chaos in Chile zu erwirken, das dann als Legitimation für putschbereite Kräfte in der Armee dient, die gewählte Regierung zu beseitigen. In diesem Programm ist alles enthalten, was in den Folgemonaten entfaltet und von Allende beispielsweise vor der UNO regelmäßig angeprangert wird: Kreditbe­schränkungen und -kündigungen, Boykott des Kaufes chilenischen Kupfers nicht nur durch die USA, sondern durch alle anderen Staaten, die weiterhin mit den USA Handel treiben wollen, Abzug aller Investitionen aus den USA und mit ihr verbündeten Staaten aus Chile, Einstellung aller Entwicklungshilfe-Zahlungen, Abschottung amerikanischer Märkte gegenüber Chile.

Mit dem Segen des Weißen Hauses ent­wickelt sich eine enge Zusammenarbeit der ITT mit dem US-amerikanischen Geheim­dienst CIA, der den operativen Teil des Plans übernimmt und sowohl für die Verbindungen zu Patria y Libertad als auch zu den Teilen der Armee zuständig ist, die als solchen Putsch­plänen zugeneigt identifiziert werden.

Es gehört zu den inzwischen offenen Ge­heimnissen des blutigen Erfolges vom 11. September, daß diese Verbindungen zu den späteren Schlächtern von Chile intensiv waren und von der UP letztlich nicht unter­bunden werden konnten.

Traditionell erfolgte die Ausbildung des Offizierscorps der chilenischen Armee in den USA, die dadurch ein profundes Wissen über das Bewußtsein ihrer Kader erhielt. Besonders intensiv gestaltete sich dabei die Zusammen­arbeit der US Army mit der west­deutschen Bundeswehr und hier insbesondere mit ihren offen in der Traditionslinie der faschistischen Wehrmacht wirkenden Kräften. Die Zeitung „Condor“, das Sprachrohr der nach 1945 die Tradition der NSDAP hochhaltenden, nach Chile emigrierten Kräfte, lobte in ihrer Aus­gabe vom Juni 1970 – also noch vor Allendes Sieg – die enge Zusammenarbeit von Washington und Bonn und betonte, die in den USA ausgebildeten Offiziere der chilenischen Armee würden „anschließend an diesen Kurs in die Bundesrepublik Deutschland“ fahren und dort ihre Ausbildung vollenden.

Diese Kreise schlossen sich am 11. Sep­tember 1973 und den folgenden Tagen. Augen- und Ohrenzeugen der blutigen Mas­saker wiesen übereinstimmend darauf hin, daß viele der verantwortlichen Putschisten-Offiziere in Santiago, Valparioso, Osorne und anderen Städten untereinander fließend deutsch gesprochen hätten.

Die Strippenzieher des Putsches saßen also vor allem in Washington. Aber sie hatten enge Vertraute in Bonn am Rhein. „Die Welt“ frohlockte denn auch am 13. September 1973 mit den Worten: „Das Heer ist, wenn man so sagen darf, bis auf den heutigen Tag seiner preußischen Schule treu geblieben.“ Das Hamburger Magazin „das da“ bekam eine Audienz bei Pinochet selbst und berichtete am 1. November 1973 von dessen Schwärmerei für Deutschland: „Mein größter Lehrer und Freund, Herr von Franzius, war Deutscher. Er hat mir beigebracht, militärische Opera­tionen zu leiten.“

Noch vor dem 11. September wurden Stück für Stück die regierungstreuen Kräfte in der Armee entweder aus ihren Ämtern gedrängt oder, wenn das nicht gelang, ermordet wie am 1. Oktober 1970 der Oberbefehlshaber der chilenischen Armee, General René Schnei­der, der sich geweigert hatte, den Amtsantritt Allendes gewaltsam zu verhindern.

… die Putschisten…

Es hatte daher auch innere Logik, daß die Massaker in Chile in der Armee selbst be­gannen. Die in Paris erscheinende „L’Huma­nité“ berichtete am 3. November 1973, daß noch in der Nacht vor dem 11. September re­gierungstreue Offiziere und Soldaten ver­haftet oder planmäßig getötet wurden. Die Zahl der unmittelbar um den 11. September herum getöteten Militärangehörigen wurde von dieser Zeitung mit 2.000 beziffert.

Danach tobte die in der USA und Deutsch­land ausgebildete Mordbande sich unge­hemmt aus. Arbeiter – ob bewaffnet oder un­bewaffnet – , die sich der Junta widersetzen, werden zu hunderten und tausenden in ihren Fabriken niedergemetzelt. Die Deutsche Pres­seagentur (dpa) meldet am 25. September mit Hinweis auf US-Quellen: „In den zwei Wochen seit dem Militärputsch sind allein ins Leichenschauhaus von Santiago 2796 Tote mit Schußverletzungen – meist unmittelbar unter dem Kinn – eingeliefert worden“.

Andere schaffen es nicht einmal bis dort – sie werden in Massengräbern verscharrt, aus dem Hubschrauber geworfen oder „auf der Flucht erschossen“, wie die dpa am 30. September meldet. Praktisch die gesamte politische Führungsschicht der Unidad Popular wird entweder ermordet oder aus dem Land vertrieben oder verhaftet.

Am 23. September teilt General Gustavo Leigh, Luftwaffenchef und Junta-Mitglied mit, daß allein im Fußballstadion von San­tiago rund 7000 Menschen „zur Verneh­mung“ inhaftiert seien. Das war ein Lüge. Viele von ihnen werden nicht vernommen, sondern geschlachtet – wie der weltberühmte Sänger Victor Jara, dem die uniformierten Bestien erst die Hände zerschlugen, dann, als er dennoch weitersang, um sich und den Tausenden Mut zu machen, den Schädel zertrümmerten und seine Leiche schließlich vor der Tribüne zur Abschreckung aller anderen aufhängten.

… und die Profiteure

In einer vom „Vorwärts“ am 6. Dezember 1973 veröffentlichten Lagebeurteilung schreibt der Leiter der chilenischen Nieder­lassung der Farbwerke Hoechst an seine Zentrale in Frankfurt: „Wir sind der Ansicht, daß das Vorgehen des Militärs und der Polizei nicht intelligenter geplant und koordiniert werden konnte und daß es sich um eine Aktion handelte, die bis ins letzte Detail vorbereitet war und glänzend ausgeführt wurde … Die Regierung Allende hat das Ende gefunden, das sie verdiente … Chile wird in Zukunft ein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt sein.“

Bereits zehn Tage nach dem Putsch, am 21. September, erscheint in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eine Anzeige mit der Überschrift „Chile: Jetzt investieren!“ und weist auf die „außergewöhnlichen Möglich­keiten“ hin, die sich für deutsche Anleger dort jetzt böten. Ihr eigentliches Ziel – Chile wieder zum Land der Profite zu machen – verlieren die Blutsäufer um Pinochet keinen Moment aus dem Auge.

Bereits am 12. September verkündet die Junta, bis 15:00 Uhr sollten sich alle ergeben, die Widerstand leisteten – wer danach ge­fangen genommen werde, „wird auf der Stelle erschossen“. Ab 18:00 Uhr gelte in Santiago ein Ausgehverbot. Am 14. September werden alle bei Wahlen errungenen Mandate annulliert. Am 17. September wird verkündet, wer nicht an seinem Arbeitsplatz erscheine, werde ihn umgehend verlieren.

Am 21. September werden alle marxisti­schen Parteien verboten – dazu zählt auch die „Christliche Linke“. Am 14. Oktober wird per Dekret die wöchentliche Arbeitszeit „als Beitrag für den nationalen Aufbau“ um 4 Stunden pro Woche verlängert. Es ist fast überflüssig, darauf hinzuweisen, daß bis dahin die Ausgabe von Milch an die Schulkinder längst Geschichte ist.

Die versammelten Rechtskräfte frohlocken – auch in Deutschland. Der Fraktionsvor­sitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag und spätere Bundespräsident Karl Carstens erklärt einen Tag nach dem Putsch, die „Ereignisse in Chile“ hätten bewiesen, „daß Marxismus und freiheitlich-demokra­tische Grundsätze unvereinbar seien“.

Sein Parteifreund Bruno Heck, der für die CDU/CSU nach Chile reist, um den neuen Machthabern seine Aufwartung zu machen, stellt am 18. Oktober 1973 in der „Süddeutschen Zeitung“ mit Blick auf den Ort, an dem Victor Jara starb, fest: „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.“

Der Chile-Repräsentant der Dresdner Bank, Gerhard Liedtke, der wie viele andere um Investitionen im „neuen“ Chile wirbt, tut dies am 8. Oktober 1973 auch vor ost­westfälisch-lippischen Unternehmern, worü­ber die „Neue Westfälische Zeitung“ am nächsten Tag titelt: „Putsch in Chile ist für die Banken positiv – in Südamerika kann wieder investiert werden.“

Drei Lehren

Die Hoffnungen der chilenischen Linken und er mit ihnen solidarischen Kräfte, Pinochet werde nicht durchkommen und innerhalb weniger Monate niedergekämpft werden können, gingen nicht in Erfüllung. Sie wurden, ähnlich übrigens wie die deutschen Linken nach dem 30. Januar 1933, von der Rücksichtslosigkeit und Brutalität der sie bekämpfenden Reaktion überwältigt.

Eine erste Lehre ist daher, sich keine Sekunde Illusionen über die jederzeit vor­handene Gewaltbereitschaft bürgerlicher Herrschaft zu machen. Noch im Dezember 1971 meinte der unter Linken hochange­sehene englische Historiker Eric Hobsbawm mit Blick auf Chile: „Die Gefahr eines Militärputsches ist zwar vorhanden, aber anscheinend nicht akut. Der Hauptgrund ist … ihre Einsicht (der Armee – MS), daß ein Militärputsch einen Bürgerkrieg auslösen würde. Es ist eine Sache, in aller Stille ein paar Straßen und Gebäude zu besetzen und den Präsidenten mit dem nächsten Flugzeug ins Ausland zu verfrachten, aber eine ganz andere, einen unabsehbaren bewaffneten Konflikt anzufangen.“[2] Hobsbawm irrte.

Hat sich eine faschistische Macht erst einmal etabliert, sind die linken Organi­sationen erst einmal zerschlagen und ihre Funktionäre ermordet, verjagt oder verhaftet, steht vor einem neuen Sieg ein langer Kampf.

Carlos Altamirano, Generalsekretär der Sozialistischen Partei Chiles, erklärte Mitte Dezember wohl zu Recht in einer „Botschaft an das chilenische Volk“: „Wir müssen uns auch auf einen langen, aber unausweichlich siegreichen Kampf vorbereiten und ihn organisieren.“

Wir wissen heute, daß er noch länger dauerte als von Altamirano vorausgesagt – die von Pinochet oktroyierte Verfassung ist bis heute nicht überwunden, das Programm der UP bis heute nicht verwirklicht.

Drittens zeigen die Ereignisse von 1973 uns heute, daß der Zusammenhang von Faschis­mus und Kapital nie aus dem Blick verloren gehen darf. Jürgen Lloyd, Vorstandsmitglied der „Marx-Engels-Stiftung“ hat völlig recht, wenn er in der „jungen welt“ vom 20. Juli 2023 mit Blick auf Chile betont: „Wenn … wie z.B. in der Weimarer Republik, in relevantem Umfang ein Potential entsteht, das sich … auch nach rechts wenden lässt, dann kann die daraus entstehende Massen­bewegung als Werkzeug dienen, um den Übergang zum Faschismus zu vollziehen. Ist aber der Desintegrationsprozess aus welchen Gründen auch immer nicht so verlaufen, dass eine relevante faschistische Massenbewegung entsteht, dann nutzt die Monopolbourgeoisie – sofern sie es kann – das Militär und den staatlichen Sicherheitsapparat für den Übergang zum Faschismus. … Die Existenz oder Nichtexistenz einer faschistischen Mas­senbasis ist relevant für die Möglichkeiten des antifaschistischen Kampfs, aber sie dient eben nicht als Kriterium für unseren Faschismus­begriff.“

Richard Höhmann, Sekretär für Bildungs­arbeit in der DKP, hat denselben Gedanken am 14. Juli in der Wochenzeitung „unsere zeit“ so formuliert: „Für die Widerstands­kämpfer (gegen den deutschen Faschismus – MS) … standen Flick, die IG Farben, die Deutsche Bank und andere Konzerne für den Zusammenhang von Faschismus und Finanzkapital. Diesen Zusammenhang zu sehen scheint zunehmend verloren zu gehen.“

Chile 1973 mahnt, diesen Zusammenhang wieder ins Bewußtsein zu heben.

 

Dr. Manfred Sohn ist Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung. Auszüge des Textes erschienen in der Wochenzeitung „unsere Zeit“.

Quellen:

[1] Quelle dieser wie der folgenden Fakten und Zitate ist ohne weitere Seitenangaben das „Schwarzbuch Chile“, herausgegeben von Hans-Werner Bartsch u.a., Köln 1974

[2] Eric Hobsbawm, Chile: Das erste Jahr, in: Wiener Tagebuch 12/1971, S. 16-23


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Bild oben: Pinochet und Kissinger bei einem Treffen 1976
Foto: Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile, CC BY 2.0 cl
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30561407