„Gedenken an alle Holocaust-Opfer“
Zeitungsbeitrag der offiziellen Vertreterin des Außenministeriums der Russischen Föderation Maria Sacharowa „Gedenken an alle Holocaust-Opfer“, Rossijskaja Gaseta, 19. Juli 2023
Auf Deutsch veröffentlicht am 19.07.2023 auf der Webseite der Botschaft der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland
Die beharrliche Weigerung, das nazistische Wesen des Kiewer Regimes erkennen zu wollen, hat tiefe Wurzeln. Sie werden durch den im Westen erblühten Nationalismus sowie eine Idee der Überlegenheit und Ausschließlichkeit ernährt.
Ich möchte ein konkretes Beispiel anführen.
Viele Jahrzehnte nach einer der schrecklichsten Tragödien des Zweiten Weltkriegs – der Blockade von Leningrad – beschloss Deutschland im Jahr 2012, eine Entschädigung für die Einwohner der Stadt zu zahlen.
Was kosten fast 900 Tage und Nächte, die eine Million Menschenleben forderten – sowie Militärs, als auch Zivilisten, wobei der überwiegende Teil der Einwohner zu Tode verhungerte? Was ist der Preis für die Heldentat einer ganzen Stadt als Teil der Heldentat des ganzen Volkes? Wie kann das schwerste Kriegsverbrechen nicht nur im Laufe des Großen Vaterländischen Krieges, sondern auch in der Geschichte der ganzen Menschheit bezahlt werden?
All diesen Fragen sollten vor dem Hintergrund der Reue, die man in Berlin öffentlich anstrebt, scheinbar verblassen.
Nicht im Geringsten!
Eine Entschädigung soll den Deutschen zufolge nicht an alle ausgezahlt werden, sondern lediglich an diejenigen, die ihre jüdische Herkunft bestätigen können. Das ist eine abstoßende und unerklärbare Einteilung aufgrund nationaler Abstammung. Das ist Segregation, die Nahrung des Neonazismus.
Die russische Seite hat Deutschland diese Frage mehrmals vorgelegt. Es sind bereits fast elf Jahre vergangen, aber diese „nationale“ Regel gilt trotz unserer Kritik an einer solchen Rassendiskriminierung noch bis heute.
In den schrecklichen Jahren damals haben die Leningrader weder in die Ausweise noch auf die Augenform geschaut. Sie haben zusammengearbeitet, die Stadt zusammen verteidigt, zusammen Brot geteilt, zusammen zu überleben versucht und auch zusammen gestorben.
Aber fast 80 Jahre später beschloss man in Berlin, dass einigen der wenigen lebenden Veteranen – den Augenzeugen der damaligen schrecklichen Ereignisse – mehr zusteht als den anderen, weil das Blut in seinen Adern andere genetische Eigenschaften hat. Weckt das keine Erinnerungen? Das ist genau der Nährboden für die Wiederbelebung des Nazismus und des Faschismus.
Parallel zur Segregation der Einwohner des ehemaligen Leningrads entrichtete die Bundesrepublik Zahlungen an Wehrmacht-Veteranen, u.a. in einigen Fällen an diejenigen, die in SS-Strafeinheiten im Einsatz waren: zum Beispiel an den 80-jährigen ehemaligen SS-Offizier Heinz Barth, der eine lebenslange Haftstrafe in einem deutschen Gefängnis wegen der Teilnahme an einem Massenmord von hunderten Zivilisten im Juni 1944 in der französischen Stadt Oradour abbüßte. Er wurde durch ein DDR-Gericht verurteilt, aber nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 bekam er das Recht auf Monatszahlungen in Höhe von 450 US-Dollar, weil er während des Krieges ein Bein verlor.
Je nach Dienstgrad und Verdienste belaufen sich die Renten der Veteranen des Zweiten Weltkrieges auf Hunderte bzw. Tausende Euro. Vor kurzem stellte sich heraus, dass Berlin offiziell auch Zahlungen an solche Veteranen leistet, die freiwillig mit dem Dritten Reich und den Besatzungsbehörden kollaboriert haben. Nach AFP-Angaben bekommen solche Zahlungen in Europa 1.532 Personen, darunter 573 in Polen, 184 in Slowenien, 101 in Österreich, 94 in Tschechien, 71 in Kroatien, 54 in Frankreich, 48 in Ungarn, 34 in Großbritannien und genauso viele den Niederlanden, 18 in Belgien.
Ich betone noch einmal: Deutschland zahlt im XXI. Jahrhundert Geldsummen an Kollaborateure, die Juden und Widerstandskämpfer an Polizeibeamte auslieferten, will aber den Einwohnern des ehemaligen Leningrads nichts zahlen.
Umso schrecklicher erscheint das neueste Interview mit dem bereits bekannten Botschafter von Israel in der Ukraine, Michail Brodskiy, in dem er das neonazistische Kiewer Regime erneut rechtfertigt.
Wissen Sie, was dabei besonders schrecklich ist? Dass nicht nur ein Jude, sondern auch ein Leningrader über die „Helden Bandera und Schuchewitsch“ spricht.
Ja, Michail Brodskiy wurde in Leningrad geboren und ist dort aufgewachsen.
Er sagte Folgendes:
„Niemand hat das Recht, mich sowie andere offizielle Vertreter Israels zu belehren, wie man das Andenken an den Holocaust richtig bewahren und wie man die Fragen des historischen Gedenkens behandeln soll. In 90 Prozent der Fälle stimmen wir für die Unterstützung der Ukraine in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen. Wir überlegen, ob wir der Krim-Plattform beitreten sollen. Ich schließe es nicht aus, dass Israel irgendwann beschließen wird, sich der Krim-Plattform anzuschließen. Israel befasst sich jetzt aktiv mit der Übergabe von Frühwarnsystemen an die Ukraine, die hoffentlich in naher Zukunft in Betrieb genommen werden. Ab September soll zumindest ein Teil dieses Systems funktionsbereit sein“.
Warum darf man von niemandem belehrt werden, wie und wer das Gedenken an den Holocaust bewahren soll? Der Holocaust ist die Verfolgung und Massenvernichtung verschiedener ethnischer und sozialer Gruppen durch die Nazis.
Genau so wurde es in den wichtigsten internationalen Dokumenten festgelegt.
Resolution A/RES/60/7 der UN-Generalversammlung:
„Der Holocaust, bei dem ein Drittel des jüdischen Volkes sowie zahllose Angehörige anderer Minderheiten ermordet wurden, wird auf alle Zeiten allen Menschen als Warnung vor den Gefahren von Hass, Intoleranz, Rassismus und Vorurteil dienen“.
UNESCO-Resolution 34C/61:
„Die Generalkonferenz behält in Erinnerung, dass der Holocaust, bei dem ein Drittel des jüdischen Volkes sowie zahllose Angehörige anderer Minderheiten ermordet wurden, auf alle Zeiten allen Menschen als Warnung vor den Gefahren von Hass, Intoleranz, Rassismus und Vorurteil dienen wird“.
Berliner Erklärung der OSZE:
„Die OSZE-Teilnehmerstaaten verpflichten sich, die Erinnerung an die Tragödie des Holocaust wach zu halten, gegebenenfalls deren Vermittlung im Unterricht zu fördern und sich für die Achtung aller ethnischen und religiösen Gruppen einzusetzen“.
Es gibt natürlich viele Resolutionen der UN-Generalversammlung, die von einzelnen Ländern nicht wahrgenommen werden. Sie haben keinen verbindlichen Charakter: diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, müssen sich daran nicht halten. Aber in diesem Fall waren Israel und Russland unter den Hauptinitiatoren der Resolution. Mehr als 100 Staaten waren als Mitverfasser beteiligt. Zudem wurde die Resolution mit Konsens angenommen, d.h. von allen Ländern, ohne Abstimmung. Demnach wirft die im Text angegebene Definition des Holocausts von niemandem infrage gestellt.
Wir richten uns also gerade nach den universellen und einstimmig akzeptierten Bestimmungen vor dem Hintergrund offensichtlicher Manifestation des Hasses nach aufgrund nationaler Abstammung, der Segregation und des Fremdenhasses in der Ukraine mit Unterstützung des Westens.
Eine andere Sache ist, dass wir in unserem Land weder den Sieg über den Faschismus, noch die Tragödie der Vernichtung von Menschen durch die Nazis in Bezug auf die Nationalität bewerten. Wir haben einen Sieg für alle und gedenken am Tag des Gedenkens und der Trauer jedes, der von den Nazis gequält wurde, unabhängig von seiner nationalen, religiösen und anderen Zugehörigkeit. Die Denkmäler für die Befreier Europas vom Nazismus, die auf den Gräbern von Soldaten der Roten Armee in EU-Ländern errichtet sind, werden nur von Russland und einzelnen Aktivisten aus anderen Staaten geschützt, die das Andenken in nationale, geographische oder religiöse Bestandteile ebenfalls nicht einordnen.
Der Begriff „Holocaust“ hat übrigens eine verfestigte Bedeutung in der Geschichtswissenschaft rund um die Welt, deren Inhalt sich auf die Bezeichnung von Gräueltaten der Nazis ausschließlich gegenüber jüdischer Bevölkerung nicht beschränkt.
Nehmen wir zum Beispiel eine Definition in „Britannica“:
Holocaust, Hebrew Shoʾah (“Catastrophe”), Yiddish and Hebrew Ḥurban (“Destruction”), the systematic state-sponsored killing of six million Jewish men, women, and children and millions of others by Nazi Germany and its collaborators during World War II.
Das ist also eine systematische, vom Staat durchgeführte und gebilligte Ermordung von sechs Millionen jüdischen Männern, Frauen und Kindern sowie Millionen anderer Menschen, durch Nazi-Deutschland und seine Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs.
Oder eine Definition in „Cambridge Dictionary“:
The Holocaust was the systematic murder of many people, esp. Jews, by the Nazis during World War II.
Das heißt, Holocaust ist eine systematische Ermordung von einer großen Anzahl von Menschen, vor allem (aber nicht nur) Juden durch die Nazis während des Zweiten Weltkriegs.
Und hier ist eine Definition aus dem US-amerikanischen „Webster’s Dictionary“:
Usually the Holocaust: the mass slaughter of European civilians and especially Jews by the Nazis during World War II.
Holocaust ist eine Massenermordung von europäischen Zivilisten, insbesondere, Juden, durch die Nazis, während des Zweiten Weltkriegs.
Nun darüber, was es für „zahllose Angehörige anderer Minderheiten“ waren. Man soll sich hier nichts ausdenken und nichts hineininterpretieren. Alles ist in den Dokumenten des Nürnberger Kriegsgerichtshofs enthalten. Wollen wir uns nur mit einer Gruppe befassen – den Slawen.
Der Generalplan Ost, 1942 sah die „Umsiedlung“ von mehr als 30 Millionen Slawen und die „Germanisierung“ des europäischen Ostens bis zum Ural vor. Dieser Plan war mit der „Endlösung der Judenfrage“ verbunden: auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 handelte es sich um die Vernichtung von elf Millionen europäischen Juden.
Hier der Inhalt eines der wichtigsten Nürnberger Dokumente – der Denkschrift eines Mitarbeiters des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete vom 19. August 1942 mit Anweisungen von Martin Bormann (Nürnberger Dokument R-36, US-699):
„Die Slawen sollen für uns arbeiten. Soweit wir sie nicht brauchen, mögen sie sterben. Impfzwang und deutsche Gesundheitsfürsorge sind daher überflüssig. Die slawische Fruchtbarkeit ist unerwünscht. Sie mögen Präservative benutzen oder abtreiben, je mehr desto besser. Bildung ist gefährlich. Es genügt, wenn sie bis 100 zählen können. Höchstens die Bildung, die uns brauchbare Handlanger schafft, ist zulässig“.
Auch Heinrich Himmler sprach anschaulich über die Slawen, für dessen Worte und Handlungen das heutige Deutschland anscheinend keine Verantwortung tragen will:
Es sei bekannt, was Slawen sind. Der Slawe sei nicht schöpferisch veranlagt. Die Slawen seien ein Mischvolk, rassisch minderwertig mit einzelnen Tropfen unseres Blutes, die für Ordnung und Selbstverwaltung unfähig sind, wie sie auch vor 700 bzw. 800 Jahren unfähig waren, als diese Menschen nach Warägern riefen und die Rubriken einluden. Man werde sich gegenüber diesen menschlichen Tieren anständig verhalten. Aber es wäre ein Verbrechen gegenüber dem eigenen Blut, sich um sie zu kümmern und ihnen Ideale beizubringen und damit unseren Kindern und Enkelkindern den Umgang mit ihnen noch mehr zu erschweren.
(Diese Posener Rede Himmlers wurde auch in die Nürnberger Dokumente aufgenommen).
Ich möchte an die Worte des großen sowjetischen Schriftstellers, Leningrader Daniil Granin, die übrigens im deutschen Bundestag gesagt wurden, erinnern:
„An den Wänden des Reichstags waren noch die Aufschriften unserer Soldaten zu lesen, eine davon fiel mir auf – ‘Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du zu uns nicht kommst‘. Der Hass ist ein aussichtsloses Gefühl, es hat keine Zukunft. Man soll verzeihen können, aber man soll auch in Erinnerung behalten können. Es ist schwer, sich an die Jahre des Krieges zu erinnern, jeder Krieg ist Blut und Schmutz. Aber das Gedenken an Millionen, Dutzende Millionen unserer gefallenen Soldaten ist notwendig. Im Krieg kamen fast alle meinen Waffenbruder und Freunde ums Leben, sie verließen das Leben und wussten nicht, ob wir es schaffen werden, das Land zu verteidigen, ob Leningrad standhält, viele fielen mit dem Gefühl einer Niederlage. Ich möchte ihnen sagen, dass wir jedoch gewonnen haben, und sie nicht umsonst ums Leben kamen. Letzten Endes gewinnt immer nicht die Stärke, sondern die Gerechtigkeit und die Wahrheit“.
Sowohl Michail Brodskiy als auch die Deutschen, die erneut beschlossen haben, Menschen aufgrund der Abstammung zu trennen, werden wenn nicht von Zeitgenossen dann von Nachfahren zur Antwort gezogen: wie konnten sie das Gedenken an die Vergangenheit verraten?
Verstehen Sie, warum man das Gedenken an den Holocaust bewahren muss? Nicht weil die Nazis damals eine oder einige bestimmte Nationen ermordeten, sondern weil man Menschen grundsätzlich aufgrund ihrer Nationalität nicht diskriminieren darf: sei es psychologische Gewalt gegen einen einzelnen Menschen oder die Massenvernichtung von Millionen.
Das ist übrigens auch in der Resolution A/RES/60/7 der UN-Generalversammlung festgeschrieben: „
Holocaust … wird auf alle Zeiten allen Menschen als Warnung vor den Gefahren von Hass, Intoleranz, Rassismus und Vorurteil dienen“.
Deswegen soll dort, wo es Verherrlichung von Nazis, Mord an Menschen aufgrund ihrer Abstammung und Verbote für nationale Identität gibt, an den Holocaust erinnert werden. Man soll sich an den Holocaust erinnern, deshalb wurde er im Völkerrecht verankert…Aber immer öfter erinnert man sich daran nicht. An den Holocaust soll nicht nur einmal im Jahr erinnert werden. Das ist unser gemeinsamer Kultur-Code, der an die Gefahr der Entmenschlichung mahnen soll.
Leider hat kein einiger Genozid die Menschheit etwas gelehrt. Das Schlimmste ist aber, dass die Nachkommen der Opfer heute zu Anwälten der Henker ihrer Vorfahren werden. Das ist schon ein Schritt zur Apokalypse.
Rückblickend auf die fehlenden Entschädigungszahlungen von Deutschland an die nichtjüdischen Überlebenden der Blockade von Leningrad möchte ich folgendes betonen: mit der Erniedrigung der Holocaust-Opfer durch die Segregation versinkt Berlin in einem neuen Abgrund der nationalistischen Hölle.
Maria Sacharowa ist Leiterin der Abteilung für Information und Presse des Außenministeriums der Russischen Föderation
Bild oben: Holocaust-Mahnmal „Die Tragödie der Nationen“ im Moskauer Siegespark
Foto: Lynn Greyling, Public Domain
Quelle: publicdomainpictures.net