„Russland als Terrorstaat“? Ein Dokument barbarischen Wahns
Das EU-Parlament hat eine Entschließung angenommen, die in jeder Hinsicht grenzüberschreitend ist: in der Übernahme propagandistischer Erzählungen, der Missachtung demokratischer Werte, der Zerstörung der Diplomatie. Ein wirklich historisches Dokument.
Von Dagmar Henn
Erstveröffentlichung am 24.11.2022 auf RT DE
EU-Beschlüsse, gleich, ob von Kommission oder Parlament, sind immer unangenehm zu lesen; aber der Beschluss des EU-Parlaments unter der Nummer P9_TA(2022)0405 ist es ganz besonders. Es geht um die „Einstufung der Russischen Föderation als dem Terrorismus Vorschub leistender Staat“, und das einzige Stück antirussischer Propaganda der letzten zehn Jahre, das darin nicht aufgeführt ist, ist das vom Doping im Sport.
Gleich zu Beginn der Begründung, im ersten der vielen Sätze, die mit „In der Erwägung“ beginnen, wird die Wirklichkeit hemmungslos verzerrt. „Dass Russlands Streitkräfte seit 2014 und insbesondere seit dem 24. Februar 2022, als Russland seinen rechtswidrigen, unprovozierten und ungerechtfertigten Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, wahllos Wohngebiete und zivile Infrastruktur angegriffen …“ Es war also die russische Armee, die all die Jahre über Donezk beschossen hat? Nicht die ukrainische? Steht die russische Armee all die Jahre in Awdejewka? Die einzige wahre Angabe in diesem Absatz ist das Datum.
In diesem Tonfall geht es weiter, als wäre der gesamte Text direkt in Kiew verfasst worden. Selbst der „Angriff auf den Bahnhof Kramatorsk, bei dem 60 Zivilisten getötet wurden“, der eindeutig mit einer Totschka-U-Rakete erfolgte, die nur die Ukraine einsetzt, wird mit aufgeführt, und es geht noch besser: Unter Punkt G steht nach „In der Erwägung, dass Russland seit Oktober 2022 die kritische Infrastruktur in der gesamten Ukraine vorsätzlich angreift“ am Ende des Absatzes: „in der Erwägung, dass bei diesen Angriffen polnisches Hoheitsgebiet getroffen wurde und dabei zwei polnische Bürger getötet wurden“.
Die ganz Welt weiß längst, dass es eine ukrainische Rakete war, die in Polen landete. Nur das EU-Parlament weiß dies nicht. Es weiß auch nicht, was die UNCTAD über die Inflation bei Nahrungsmitteln schrieb, dass sie nämlich mindestens zur Hälfte auf Spekulation zurückgeht, und erklärt, „dass Russland infolge seines Angriffskriegs gegen die Ukraine und seiner Blockade ukrainischer Seehäfen für die weltweite Krise der Ernährungssicherheit verantwortlich ist“.
Aber das ist noch nicht der Schluss. Russland lässt in Energodar „die unmittelbare Umgebung des Geländes beschießen“, und es setzt nicht nur „die Energieversorgung als Waffe“ ein, auch an dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines ist es schuld: „… dass durch die Beschädigung der Erdgasfernleitungen Nord Stream 1 und 2 am 26. September 2022 große Gasleckagen in der Ostsee verursacht wurden, was zudem ein Umweltanschlag auf die Union ist“.
In vergangenen Jahrzehnten hätte an diesen Stellen irgendjemand eingegriffen, um zumindest den möglichen Schaden für die eigene Glaubwürdigkeit durch die Verbreitung längst erkannter Lügen zu begrenzen, sprich, wenigstens die bereits aufgeflogenen Propagandastücke aus dem Text zu entfernen. In diesem EU-Parlament sitzen Vertreter aller EU-Mitgliedsstaaten, aus allen politischen Richtungen, aber es fand sich nicht einmal genug Vernunft, um den Punkt mit der ukrainischen Rakete in Polen geradezurücken. Stattdessen wurde ein Dokument verabschiedet, in dem mit Schaum vor dem Mund alles aufgelistet wird, was der wildeste antirussische Wahn zu bieten hat, einschließlich der jetzt angeblich von Russland erzwungenen Landung eines Flugzeugs in Weißrussland und dem Absturz des Flugzeugs des polnischen Präsidenten bei Smolensk im Jahr 2010.
Abgesehen von dem hemmungslosen Anfall von Fremdscham könnte man dieses Dokument in der Ablage für Beispiele propagandistischen Wahns in Kriegszeiten versenken, wenn da nicht eine Absicht dahintersteckte. Genau genommen mehrere Absichten. Die erste ist noch recht offensichtlich: Dieser Beschluss soll das Fundament liefern, auf dem die rechtliche Konstruktion für die Enteignung des beschlagnahmten russischen Vermögens aufsetzen soll. Das lässt sich in folgendem Absatz erkennen:
Das Parlament „fordert, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten einen EU-Rechtsrahmen für die Einstufung von Staaten als dem Terrorismus Vorschub leistende Staaten und als terroristische Mittel einsetzenden Staaten ausarbeiten, wobei diese Einstufung eine Reihe erheblicher restriktiver Maßnahmen gegen diese Länder auslösen und tiefgreifende restriktive Auswirkungen auf die Beziehungen der Union zu diesen Ländern haben würde“.
Damit kann behauptet werden, entsprechende Beschlüsse der EU-Kommission wären demokratisch legitimiert. Unter „erheblichen restriktiven Maßnahmen“ kann man so etwas wie die völlige Aufhebung diplomatischer Immunität, die Aussetzung jeglicher Beziehungen und die Einziehung des gesamten Vermögens verstehen. Vermutlich kennt Ursula von der Leyen schon einen Immobilienspekulanten, der auf das Grundstück der russischen Botschaft in Berlin scharf ist. Aber es geht noch weiter:
„… fordert die Union und ihre Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen eine vollumfängliche internationale Isolation der Russischen Föderation eingeleitet wird, auch im Hinblick auf die Mitgliedschaft Russlands in internationalen Organisationen und Gremien wie dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und von der Organisation sämtlicher offizieller Veranstaltungen im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation abzusehen; fordert, dass die diplomatischen Beziehungen zu Russland weiter eingeschränkt und die Kontakte zu seinen offiziellen Vertretern auf allen Ebenen auf das absolut notwendige Mindestmaß beschränkt werden; fordert die Mitgliedstaaten der Union auf, staatsnahe russische Einrichtungen wie die russischen Zentren für Wissenschaft und Kultur und Organisationen und Verbände der russischen Diaspora, die unter dem Schutz und der Leitung russischer diplomatischer Vertretungen agieren und die russische Staatspropaganda unterstützen, zu schließen und zu verbieten“.
Bezogen auf internationale Organisationen bedeutet das schlicht, dass die Mitgliedsländer der EU darauf verpflichtet werden, aktiv deren Spaltung zu betreiben. Denn es ist eben nicht die gesamte Welt, sondern nur die „Weltgemeinschaft“ der westlichen Staaten selbst, die Russland isoliert, und an dieser Tatsache wird auch dieser Beschluss nichts ändern; aber der Schaden, der durch diese Manöver sämtlichen internationalen Organisationen bereits zugefügt wurde, wird sich dadurch weiter vergrößern und die Tendenz, anstelle der korrumpierten UNO eine Alternativstruktur zu schaffen, noch weiter verstärken. Dass es am Ende EU-Europa sein wird, das sich damit isoliert, ist das eine. Das andere ist aber, dass solche mit Schaum vor dem Mund verfassten Beschlüsse die Möglichkeit irgendeiner Form diplomatischer Lösung ins Nichts entschwinden lassen.
Einen Hinweis auf die Vorstellungen dieses Parlaments von demokratischen Rechten vermittelt die Aufforderung, „Organisationen und Verbände der russischen Diaspora, die unter dem Schutz und der Leitung russischer diplomatischer Vertretungen agieren und die russische Staatspropaganda unterstützen, zu schließen und zu verbieten“.
Das ist die Aufforderung, jeden Verein zu verbieten, der Kontakt zur russischen Botschaft hat und nicht in voller Lautstärke das Lied vom „ungerechtfertigten russischen Angriffskrieg“ singt. Schließen und verbieten. Ungeachtet der Tatsache, dass die Mitglieder von Verbänden der russischen Diaspora weit überwiegend mindestens auch die Staatsbürgerschaft eines der EU-Staaten besitzen dürften und selbst ohne diese das Recht haben sollten, ihre Meinung frei zu verbreiten. Um sich zu vergegenwärtigen, welche Positionen betroffen sein dürften, muss man sich nur ins Gedächtnis rufen, was alles in den vergangenen Monaten in Deutschland schon zu russischer Propaganda erklärt wurde.
Aber es geht noch weiter. Das EU-Parlament „fordert den Rat auf, die Gruppe Wagner und das 141. Mechanisierte Regiment der russischen Nationalgarde zur besonderen Verwendung, auch bekannt als Kadyrowzy, sowie andere von Russland finanzierte bewaffnete Gruppen, Milizen und Hilfstruppen wie diejenigen, die in den besetzten Gebieten der Ukraine operieren, in die Unionsliste der an terroristischen Handlungen beteiligten Personen, Gruppen und Einrichtungen (EU-Terroristenliste) aufzunehmen“.
Abgesehen von Wagner und den Tschetschenen sind mit den „anderen von Russland finanzierten bewaffneten Gruppen“ mit Sicherheit die Milizen aus Donezk und Lugansk gemeint, auch wenn sie mittlerweile Teil der russischen Armee sind. Nun müssen wir etwas zurückblicken, ins Jahr 2015. Damals gab es bereits einen Versuch in diese Richtung. Im September dieses Jahres veröffentlichte der damalige Bundestagsabgeordnete der Linken, Wolfgang Gehrke, ein Schreiben des Auswärtigen Amtes, das sich auf eine Sitzung der ständigen Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel bezog. In diesem Schreiben fand sich die Information, dass eine Kommission namens CP 931 sich damit befassen solle, die Volksrepubliken Donezk und Lugansk zu „terroristischen Vereinigungen“ zu erklären, also genau das zu tun, was die Konsequenz dieser Aufforderung des EU-Parlaments wäre.
Verglichen mit den Folgen, die ein solcher Beschluss hätte, sind die Folgen der Änderung des § 130 StGB noch vergleichsweise harmlos. Wenn eine solche Listung geschieht, kann in Deutschland das Bundesjustizministerium durch eine Ermächtigung die volle Bandbreite der Verfolgung nach § 129b StGB aktivieren. Damals beschrieb ich das so:
„Um sich die Folgen vorzustellen, muss man nur einmal in Gedanken durchgehen, wie man sich über die wirkliche Lage im ukrainischen Bürgerkrieg informieren kann. Eine Pressekonferenz der Republik Donezk im Internet teilen? Werbung für eine terroristische Vereinigung. Bilder über die Verwüstungen, die die ukrainische Armee dort anrichtet? Könnten ja die ‚Terroristen‘ zum Weitermachen ermutigen. Ebenso verboten. Fahnen, Abzeichen, selbst das Verlinken der Hymnen, jede Form von Berichterstattung, die nicht der vorgegebenen Linie entspricht, schon die schlichte Aussage, man halte den Aufstand für gerechtfertigt, all das kann zur Werbung erklärt und verfolgt werden.“
Der Strafrahmen des § 129b StGB beginnt bei sechs Monaten und endet bei fünf Jahren. Die Verfahren, die dadurch ausgelöst werden, laufen unter den Bedingungen der Anti-Terror-Gesetze; das reicht vom Sondereinsatzkommando bei der Hausdurchsuchung bis zur Isolationshaft und Prozessen im Hochsicherheitstrakt. Für jeden, der ein Video von Kadyrow teilt?
2015 gab es diesen Beschluss nicht; irgendetwas hat ihn in letzter Minute verhindert, das Thema stand bereits auf der Tagesordnung dieser Kommission CP 931, die sich zweimal die Woche trifft. Aber es steht zu fürchten, dass diesmal niemand mehr einen entsprechenden Beschluss verhindert.
Natürlich werden weitere Sanktionen und Sekundärsanktionen gegen alle Staaten gefordert, die nicht sanktionieren, aber auch der suizidale Ansatz wird weiterverfolgt. Das EU-Parlament „fordert ein sofortiges und vollständiges Embargo auf Einfuhren von fossilen Brennstoffen und Uran aus Russland in die Union sowie die vollständige Aufgabe der Erdgasfernleitungen Nord Stream 1 und 2, um der Finanzierung des russischen Angriffskriegs ein Ende zu setzen“. Ein Embargo auf Uran. Immerhin, dann sind es nicht nur die deutschen EU-Abgeordneten, die ihr Land dem antirussischen Wahn opfern, es sind auch die Franzosen, deren Kernkraftwerke nicht mehr betrieben werden können. Weniger Strom für alle!
Und dann kommt noch eine Bestätigung des § 130 StGB: „fordert die Union und ihre Mitgliedstaaten auf, die bewusste öffentliche Billigung bzw. Leugnung der militärischen Aggression und der Kriegsverbrechen Russlands in jedweder Form zu untersagen“. Diese Aufforderung geschieht in einem Dokument, das gleichzeitig eine Liste solcher vermeintlicher Verbrechen liefert, die auf keinerlei Art und Weise einer nüchternen Überprüfung standhält, siehe die Rakete in Polen und der Anschlage auf Nord Stream; aber man wird beim Lesen den Verdacht nicht los, dass ebendiese Liste als Festlegung all dessen dienen soll, was künftig innerhalb der EU nicht mehr in Zweifel gezogen werden darf. Man wird die Bilder der Totschka-U in Kramatorsk nicht mehr zeigen dürfen, weil damit ein „Kriegsverbrechen Russlands“ geleugnet würde.
Weiter unten im Dokument wird noch einmal zu von der Leyens Aneignungswünschen zurückgekehrt. Das Parlament „fordert die Kommission und die Mitgesetzgeber auf, die rechtliche Regelung zu vervollständigen, die die Einziehung russischer Vermögenswerte, die von der Union eingefroren wurden, und deren Verwendung zur Bewältigung der verschiedenen Folgen der Aggression Russlands gegen die Ukraine, auch für den Wiederaufbau der Ukraine und die Entschädigung der Opfer der Aggression Russlands, ermöglicht“.
Die Tatsache, dass die westlichen Staaten spätestens seit 2014 eifrig daran arbeiten, jeden international vorhandenen rechtlichen Rahmen in Stücke zu schlagen, wird natürlich in den heimischen Medien verschwiegen. Dabei frönt man bis heute dem Wahn, der Westen könne es sich leisten, mal eben den Besitz eines anderen Staates zu enteignen, ohne eine gleichartige Antwort fürchten zu müssen. Schließlich klappte das mit Venezuela und mit Afghanistan; in beiden Fällen war weitaus mehr venezolanisches oder afghanisches Vermögen im Ausland, als Vermögen der westlichen Länder dort war. Aber gilt das auch für Russland? Oder gar für China? Nach den diplomatischen Regeln, die eine gleichartige Antwort immer als legal betrachten, könnte Russland auf einen solchen Schritt hin sämtliches Vermögen, das Bürger oder Firmen aus EU-Ländern in Russland besitzen, ebenso enteignen.
Dabei ist der kritische Punkt nicht einmal so sehr der lokale Besitz. Kritisch ist ein solches Vorgehen, weil es im Grunde internationalen Handel unmöglich macht. Denn die Aufhebung der im zwischenstaatlichen Umgang üblichen Immunität würde es auch ermöglichen, Schiffe zu beschlagnahmen und zu enteignen, die mit russischen Gütern europäische Häfen anlaufen, was allerdings im Gegenzug dann eben auch für europäische Schiffe in russischen Häfen gälte. Über die ebenfalls geforderten Sekundärsanktionen wären dann auch noch chinesische Schiffe betroffen, während dann andererseits die Chinesen die europäischen Schiffe … Gut, ein derart voll entfachter Sanktionskrieg träfe vor allem die Supercontainerfrachter und damit neben den Chinesen – ja, die Deutschen, es wäre aber ganz nebenbei eine völlige Spaltung des Welthandels in zwei Sphären, eine kleine westliche und eine große multipolare.
Die Regeln, die internationalen Handel überhaupt erst ermöglichen, sind weitaus älter als die Europäische Union; nicht einmal das römische Imperium beschlagnahmte die Schiffe fremder Nationen, und auch die diplomatische Immunität findet sich bereits in antiken Zivilisationen. Was das EU-Parlament unauffällig und fast nebenbei abstreift, nur um noch härter sanktionieren zu können, um seinen unerklärten Krieg noch ein Stück weiter zu eskalieren, sind Kernerrungenschaften zivilisierten Verhaltens.
Bei der Bewertung des gesamten Dokuments muss man ausnahmsweise der Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa widersprechen. Dieser Beschluss dient nicht der Förderung der Idiotie; Idiotie ist in diesem Zusammenhang ein viel zu harmloser Begriff. Dieser Beschluss ist eine Urkunde der Barbarei, einer rasenden Manie, der man alles zu opfern bereit ist und die die so gepriesenen europäischen Werte längst verschlungen hat. Es ist der Grabstein, unter dem alles Positive verscharrt wurde, das dieses Europa noch zur Zukunft der Menschheit hätte beitragen können.
Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bild oben: Sitzung des Europäischen Parlaments am 22.11.2022 in Straßburg
Foto: European Parliament, CC BY 2.0,
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=125856396