Arbeit & Soziales

Teuer gescheitert

Das privatisierte Uniklinikum Gießen/Marburg ist pleite. Mit hunderten Millionen Euro will es jetzt das Land Hessen retten – nicht zum ersten Mal. Die Rechnung der Privatisierung begleichen am Ende wieder Beschäftigte und Patienten

Von Werner Rügemer

Erstveröffentlichung am 03.02.2022 auf verdi.de 

2006 wurde der Krankenhausbetrieb des Universitätsklinikums Gießen/Marburg (UKGM) an die Rhön-Klinikum AG verkauft. Seitdem: Personalabbau, Einsatz von Niedriglohn-Firmen, trockengelegte Forschung, ständige Staatszuschüsse – alle Versprechungen der Privatisierer wurden gebrochen, die Leistungen gesenkt, Gewinne wurden ausgezahlt. Gegen die drohende Insolvenz schießt das Land Hessen jetzt hunderte Millionen Euro zu, und das nicht zum ersten Mal.

Was Karl Lauterbach damit zu tun hat

Die Privatisierung von fast allem und jedem gehörte zur Agenda 2010 der Rot-Grünen-Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder, SPD. Der Gesundheitsökonom mit Abschluss an der privaten Elite-Universität Harvard, Professor Karl Lauterbach, heute Bundesgesundheitsminister der Ampel-Koalition, war seinerzeit CDU-Mitglied. Als die Privatisierungsprojekte griffen, trat er 2001 in die SPD ein.

Zusammen mit dem Renten-Privatisierer Bert Rürup veröffentlichte Lauterbach das Programm „Weichenstellung für die Zukunft – Elemente einer neuen Gesundheitspolitik“, Mitglied der „Rürup-Kommission“ war er selbstverständlich auch. Und das war das Programm der beiden Berater der Schröder-Regierung: Privatisierung des Gesundheitswesens! Private Rente! Ab 2003 galt das Gesetz zur Fallpauschale. Dann ging es weiter: Öffentliche Krankenhäuser wurden verkauft.

Im Vorgriff war damals schon die Rhön-Klinikum AG entstanden, der erste börsennotierte Gesundheitskonzern in Deutschland. Zu ihm gehörten 23 kleinere Krankenhäuser mit 5.600 Betten. Das war wenig im Vergleich zu den heutigen privaten Klinikketten, brachte aber durch die sogenannte „Prozessoptimierung“ schon im Jahr 2000 einen Gewinn von 68 Millionen Euro.

Der Konzern unterhielt frühzeitig strategische Kontakte zur Regierung. So wurde 2001 Dr. Klaus-Theo Schröder, der in den Vorstand aufrücken sollte, unbürokratisch freigestellt. Darum hatte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, SPD, persönlich beim Vorstand gebeten; der Rhön- Klinikum-Manager wurde umgehend ihr Staatssekretär.

Den Verkauf von Universitätskliniken gab es sonst nicht, weder in Deutschland noch europaweit, und das gilt bis heute. Damit der Verkauf im Fall Gießen/Marburg trotzdem zustande kam, brauchte es noch einen besonderen Akteur: Roland Koch, damals CDU-Ministerpräsident von Hessen. Er verkaufte Regierungsgebäude und mietete sie teuer zurück. Er war der erste, der auch ein Gefängnis nach dem ÖPP-Muster, Öffentlich Private Partnerschaft, privatisierte: die Justizvollzugsanstalt Hünfeld 2004.

Erste Krise

Der erstmalige Verkauf von Uni-Kliniken sollte ein „Leuchtturm-Projekt“ werden, so Koch. Damit es sich auszahlte, ließ er die zwei Kliniken von Gießen und Marburg zur UKGM-GmbH zusammenlegen, mit 9.000 Beschäftigten. 2006 kaufte die Rhön-Klinikum AG 95 Prozent für den Spottpreis von 112 Millionen Euro. Das Land behielt einflusslose 5 Prozent der Anteile, auch das blieb so bis heute. Der Konzern expandierte in den Folgejahren auf Dutzende Gesundheitseinrichtungen in neun Bundesländern.

Der neue Eigentümer hatte auf betriebsbedingte Kündigungen bis 2010 verzichtet, aber befristete Stellen wurden nicht wieder besetzt. „Rentennahe“ Beschäftigte schieden mit Abfindungen aus. Beschäftigte in Küche, Reinigung und Wäscherei wurden in Niedriglohnfirmen ausgegliedert. Schon zwei Jahre nach der Privatisierung beklagte der damalige Betriebsratsvorsitzende Klaus Hanschur: „Die Arbeitsbelastung ist enorm gestiegen. Viele fürchten um ihren Job.“

Wissenschaftliches Personal wurde in der Patientenversorgung eingesetzt, die Forschung ging zurück. Apparatemedizin und teure Operationen wurden vorgezogen. Die Zahl der Behandlungen wurde gesteigert, doch die Investitionen hielten nicht mit. Zudem: 367 Beschäftigte bestanden auf ihrem Rückkehrrecht in den Staatsdienst.

2012 war die Krise da. Die Unternehmensberatung McKinsey wurde beauftragt, das „strukturelle Defizit“ zu beheben. Neue Investoren stiegen ein, Goldman Sachs von der Wall Street, der Medikamentenhersteller Braun, die private Klinikkette Asklepios erwarb 10 Prozent der Aktien. Anders als im Kaufvertrag vereinbart, sagte die Landesregierung unter Koch-Nachfolger Volker Bouffier, CDU, ab 2012 jährlich bis zu 13 Millionen Euro an Investitionshilfe zu, dazu noch einen „Strukturausgleich“ von jährlich drei Millionen.

Umbau des Personals geht weiter

Abbau und Umbau des Personals gingen dennoch weiter. Gezielt wurden immer mehr migrantische Beschäftigte angeworben. Miteigentümer Asklepios holte mit Schnellausbildung pflegendes und ärztliches Personal auch von weit außerhalb der EU, etwa von den Philippinen. Forschung und Ausbildung wurden zurückgefahren, Unterricht für die Medizinstudenten fällt regelmäßig aus. Die Zahl der Doktorarbeiten ist zurückgegangen.

So konnten sich die Aktionäre von 2015 bis 2019 insgesamt 278,2 Millionen Euro an Gewinnen auszahlen. Hinzu kamen 10 Millionen für die Mitglieder des Aufsichtsrats, 20 Millionen für aktive und ehemalige Vorstände, 6 Millionen für die Wirtschaftsprüfer PWC und die ungenannten Honorare für McKinsey. 2019 schließlich zeichnete sich die Insolvenz ab. Asklepios ergriff 2020 die Gelegenheit und übernahm billig die Mehrheit.

Krise in der Corona-Krise

In der Pandemie stieg die Überlastung des Personals, am UKGM noch mehr als in anderen Krankenhäusern. Überstunden und Überlastungsanzeigen nahmen noch mehr zu, auch bei Ärzten und wissenschaftlichem Personal. Der Krankenstand ist hoch, so manche wechseln deshalb in Teilzeit oder zu Leiharbeitsfirmen.

„Arbeitsüberlastung und ausbleibende Geräteinnovation gefährden die Patientenversorgung“, so bilanzierte 2021 der Klinikdirektor in Gießen, Werner Seeger. Gegen die Kündigungswelle und für neues Personal in Notaufnahme und Intensivstationen wirbt der Konzern seit Oktober 2021 mit 5.000-Euro-Prämien.

Schon 2009 hatten Beschäftigte, Ärzte, ver.di, Ratspolitiker und Bürger mit Initiativen wie „Notfall 113“ und „Gemeinsam für unser Klinikum“ demonstriert, Unterschriften gesammelt und den Rückkauf des UKGM gefordert. Am 9. November im vergangenen Jahr wurde die vom Pfleger Mark Müller gestartete Petition zur Rückführung des UKGM in öffentliches Eigentum an den Landtag übergeben.

Die christlich-grüne Landesregierung lässt sich unterdessen weiter erpressen. Die grüne Wissenschaftsministerin Angela Dorn sagte bereits eine halbe Milliarde Euro zu, auf 10 Jahre gestreckt – während Asklepios sich bisher zu gar nichts verpflichtet. Zum Jahresende 2021 ist zudem der mit ver.di ausgehandelte Tarifvertrag ausgelaufen. Allerdings hat Asklepios ihn schon vorher unterlaufen. Das verspreche nichts Gutes, sagt der zuständige ver.di-Sekretär Fabian Dzewas-Rehm.

Notfalls wird wieder gestreikt

Ach so: Von 2001 bis 2013 war der Abgeordnete Karl Lauterbach Mitglied des Aufsichtsrats. Dabei fielen für ihn etwa eine halbe Million an Tantiemen ab, im Krisenjahr 2012 waren das 64.000 Euro. Lauterbach verkündete auch noch 2019, als der „Leuchtturm“ der UKGM-Privatisierung endgültig zusammenstürzte: „Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentliche jede zweite Klinik schließen sollten. Dann hätten wir in den anderen Kliniken genug Personal, geringere Kosten, bessere Qualität, und nicht so viel Überflüssiges.“

Zum UKGM schweigt er heute, während er in der Pandemie lautstark die Überlastung des Gesundheitssystems immer wieder beklagt. Eine Anfrage, wie er seine Mitwirkung bei der UKGM-Privatisierung beurteilt und ob er die halbe Million Euro an Aufsichtsratstantiemen in einen Fonds zugunsten von herausgedrängten Beschäftigten einzuzahlen gedenkt, ließ der Bundesgesundheitsminister unbeantwortet.

Asklepios will nach eigener Aussage vorerst auf betriebsbedingte Kündigungen und Ausgliederungen verzichten. Aber in die „konkrete Ausgestaltung wollen wir eingebunden werden“, stellt der derzeitige Betriebsratsvorsitzende Frank Eggers klar. ver.di-Sekretär Fabian Dzewas-Rehm fordert eine klare Zusage, „dass keine Abteilungen ausgegliedert werden.“ Schon lange vor Corona wurden Betten stillgelegt, „weil wir einfach kein Personal haben“, sagt Intensivpfleger Ulrich Stroh. „Mit einem Tarifvertrag müssen wir auch Entlastung erkämpfen, notfalls mit Streik.“

Seite Ende Januar nehmen die Proteste der Beschäftigten wieder zu.

Die Privatisierungsgewinnler

Zwischen 2015 bis 2019 haben sich die Aktionäre des UKGM insgesamt 278,2 Millionen Euro an Gewinnen ausgezahlt. An die Mitglieder des Aufsichtsrats gingen 10 Millionen, 20 Millionen Euro an aktive und ehemalige Vorstände, 6 Millionen an die Wirtschaftsprüfer PWC.

Dr. Werner Rügemer ist Referent für den Beirat beim Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes


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