Geschichte

Auflösung Russlands wurde verhindert

Russland fällt nicht (Teil 2)

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von Prof. Dr. Anton Latzo

In Fortsetzung der Perestroika der 1980er Jahre brachte das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, während der Präsidentschaft Jelzins, grundlegend andere Gesellschaftsstrukturen und große politische, ökonomische und soziale Verwerfungen mit sich. Die zerstörerische Politik von Jelzin und seiner inneren und äußeren Umgebung führte – nach der Zerschlagung der UdSSR und dem Verbot der KPdSU – Russland in eine sozio-ökonomische Krise, die mit der Vernichtung entscheidender Zweige der Volkswirtschaft, dem Entstehen der Oligarchen verbunden mit zunehmender Spaltung der Gesellschaft, dem Verlust der Sicherheit des Landes, einem heftigen Absinken des Lebensniveaus und einem Rückgang der Bevölkerung und sogar mit einer Gefährdung des territorialen Bestands Russlands verbunden war. Sie wirkt bis heute nach.

Chaos und Destabilisierung

Das unkritische Verhalten zu den westlichen „Werten“ führte zum Zurückdrängen traditioneller Werte und zur Anbetung des amerikanischen „way of life“. Die Politik, die das mechanische Verpflanzen dieser Werte nach Russland ohne Beachtung der kulturellen Individualität Russlands anstrebte, förderte die Zerstörung des Landes.

Das so geschaffene politische und ideologische Chaos bot günstigen Boden für die Schaffung und das Wirken der oppositionellen Bewegungen und in- und ausländischer Stiftungen und anderer NGO‘s, die eine wesentliche Rolle bei der Zerstörung des Staates und der Gesellschaftsordnung spielten.

Diese Vorgänge ergänzten sich mit den langfristig angelegten Aktionen der USA und ihrer Verbündeten in NATO und EU, um den militärisch-politischen Druck von außen hoch zu halten. Die Außenpolitik von Gorbatschow und Schewardnadse sowie von Jelzin führte zum Verfall der internationalen Autorität des Staates. Natürlich brachte sie auch positive friedenspolitische Ergebnisse. Aber es ist ebenso unstrittig, dass sie vor allem den Interessen der USA und der BRD entgegenkam, oft zu Lasten der Interessen der UdSSR und der anderen osteuropäischen Staaten.

Gegendruck entsteht

Angesichts dieser Entwicklungen und der zunehmend belastenden Lage für die Mehrheit der Bevölkerung schlug eine Initiativgruppe der Duma 1998 vor, gegen den Präsidenten Jelzin ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.

Die 5 Anklagepunkte wurden direkt aus Jelzins Handlungen zur verbrecherischen Zerstörung des Staates abgeleitet. Sie besagten, dass auch die von Jelzin verfügte Außerkraftsetzung des Unionsvertrages von 1922 absolut ungesetzlich war. Als Verbrechen wurde auch die faktische Annullierung des vom Kongress der Volksdeputierten der UdSSR am 24. Dezember 1990 beschlossenen unionsweiten Referendums zur Frage der Erhaltung einer erneuerten Sowjetunion eingestuft. Es wurde darauf verwiesen, dass es in der Belowescher Nacht den Unterzeichnern nicht um die Lösung der Probleme ging. Sie verfolgten ihr Hauptziel, den einheitlichen Staat UdSSR einzureißen um selbst an die ersehnte Macht zu kommen.

Schaffung handgerechter Verwaltungseinheiten

Die Kommission stützte sich auf verschiedene Pläne zur Zerstückelung der UdSSR die von Jelzin und seiner inländischen und überseeischen Umgebung geschmiedet wurden. Einer dieser Pläne Jelzins sah – laut N. Ryschkow, der selbst Mitglied der Kommission war – vor, die UdSSR in sieben Teile und die Ukraine in drei Teile zu zerlegen. (Der Rosenberg-Plan von 1941 sah vor, zehn dem Deutschen Reich unterstellte Territorien zu schaffen!)

In einem anderen Plan schlug die CIA vor, das heutige Russland in acht selbständige Staaten aufzuteilen. Im Einzelnen wollten sie, die Russische Republik mit Moskau als Hauptstadt, Nord-West-Republik (Sankt Petersburg), Wolga-Republik (Saratow), Kosaken-Republik (Stawropol),Ural-Republik (Jekaterinburg), Westsibirische Republik (Krasnojarsk), Demokratische Republik Sacha (Jakutsk), Fernöstliche Republik (Wladiwostok). Andere Jelzin-„Patrioten“ planten, den Norden der Halbinsel Kola an Finnland abzutreten, die Kurilen-Inseln an Japan anzuschließen und Kaliningrad an Deutschland zurückzugeben. Wer an den Machenschaften auch interessiert war, zeigt die Erklärung von USA-Präsident George Bush sr. am 25. Dezember 1991 (nach Unterzeichnung der Vereinbarung im Urwald von Belorus): „Die Vereinigten Staaten begrüßen und unterstützen die historische Wahl zugunsten der Freiheit der neuen Staaten der Gemeinschaft. … Ungeachtet der potenziellen Möglichkeit von Instabilität und Chaos entsprechen diese Ereignisse unverkennbar unseren nationalen Interessen“.

Das war also der „patriotische“ Geist von dem sich Jelzin während seiner gesamten Regierungszeit hat leiten lassen. Russland, einziger weitgehend autarker Staat der Welt, sollte in handhabbare Teile aufgeteilt werden, damit sie besser verwaltet werden können. Es ging den Beteiligten aus dem In-und Ausland nicht darum, die durch die „Perestroika“ erzeugte Destabilisierung zu beseitigen und ein stabiles Russland zu schaffen, das Wohlstand und Frieden produziert, sondern darum, das Chaos zu nutzen, um das imperialistische Prinzip des „Teile und Herrsche“ zu verwirklichen, jede Chance auf eine künftig erneut mögliche sozialistische Entwicklung zu vereiteln.

Kompradorenwirtschaft geschaffen

Der Kapitalismus in Russland entwickelte sich als Kompradoren-Wirtschaft. Das wird auch aus dem Memorandum sichtbar, dass die Regierung Gaidar anstelle eines Regierungsprogramms erstellte. Es folgte in seinen Hauptzügen und zum Teil wörtlich den Empfehlungen einer Studie die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank Anfang 1991 unter dem Titel: Eine Studie über die Sowjetwirtschaft (drei Bände) vorgelegt hatten. Bezeichnenderweise war das Memorandum der Regierung nicht an die Bevölkerung bzw. an die gewählten Vertretungen Russlands adressiert, sondern an den IWF!

Ende September 1991 landete eine Delegation des IWF in Moskau. Vier Wochen später hielt Jelzin eine Fernsehansprache zu einem Wirtschaftsprogramm, das dem „Memorandum“ entsprach. Zu den wesentlichen Punkten gehörte die Aufhebung der Preisbindung, Privatisierung, Landreform mit Privatisierung der Kolchosen, Schaffung eines privaten Bauernstandes als wichtige soziale Basis. Kurz danach erhielt Jelzin vom Parlament Sondervollmachten für die Durchführung seines als „Wirtschaftsreform“ getauften Programms. Das Heft des Handelns lag fest in den Händen Jelzins, denn er verfügte ja vorsorglich (November) die Auflösung der KPdSU.

Jelzin stößt mit seiner Politik jedoch auf zunehmenden Gegendruck – auch im Kongress der Volksdeputierten. Die Privatisierungspolitik der Regierung Gaidar stößt auf Widerspruch. In der Zeit von 1990 bis 1992 kommt es zu wiederholten Misstrauensanträgen gegen Jelzin im Kongress, aus denen er aber immer wieder mit neuen Sondervollmachten hervorging!

Es kommt aber nicht zu einer Einigung auf eine neue Verfassung! Eine Revolte der Opposition misslingt und Jelzin dekretiert die landesweite Auflösung der Sowjets. Im Dezember lässt er eine neue Verfassung verabschieden, die dem Präsidenten weitgehende Rechte zuspricht. Jelzin regiert über Dekrete und sein Regierungsstil gleicht sich der zaristischen Selbstherrschaft an. Seine Wiederwahl und seinen Sieg über den kommunistischen Kandidaten, der offiziell 40,3 Prozent der Stimmen erhielt, im Juni 1996 sichert er durch massive Manipulation der Medien und nachgewiesener Wahlfälschung.

Dafür zeigt sich das Treffen der G7 zufrieden mit Russland Jelzins und verspricht mehr Unterstützung. Russland nähert sich dem Partnerschaftsprogramm der NATO und stellt Antrag auf Aufnahme in den „Europarat“. Für den Westen war Jelzin alternativlos. Helmut Kohl, ehemaliger Bundesskanzler, würdigte ihn im Januar 1993 im Bundesvorstand der CDU und sagte, er sei „der einzige, der die physische und moralische Kraft hat, dieses kaum vorstellbare Wagnis zu unternehmen“. Er meinte damit die Zerschlagung Russlands und den Wandel des Systems in Russland.

In Russland selbst entstand in diesem Prozess das Oligarchentum, deren Träger ihr räuberisches Verhalten in der Wirtschaft nun auf die Politik, auf Jelzin übertragen konnten, was auch der Politik der NATO, G7 und EU und ihren Hauptmächten entsprach. Privatisierung wurde als Verbrauch des staatlichen Eigentums für private Ziele der Reichen aus dem In- und Ausland betrieben! Wiederaufbau fand nicht statt. Im Vergleich zu den westlichen Mächten wurde die ehemalige Großmacht Russland zu einem Land der Peripherie mit einer Mischung von kapitalistischem Eigentum und patriarchalen Strukturen.

Der hohe Grad der Destabilisierung von Staat und Gesellschaft im damaligen Russland wird auch darin deutlich, dass in der Zeit von März 1998 bis August 1999, in der Zeit der Finanzkrise, der Abwertung des Rubel, der Bankenzusammenbrüche Jelzin sich veranlasst sah, den Ministerpräsidenten 5 mal auszuwechseln.

Am 9.8.1999 wurde Putin vom Chef des Sicherheitsrates zum Ministerpräsidenten und als designierter Nachfolger im Präsidentenamt vorgeschlagen. Am 26.03.2000 wird Putin im ersten Wahlgang mit 52,94% der Stimmen vor Sjuganov (29,21%), Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), zum Präsidenten Russlands gewählt.

Stoppzeichen

Mit der Entmachtung Jelzins wurde das Wuchern einer zerstörerischen Entwicklung gestoppt und damit nicht nur den Interessen Russlands entsprochen. Es war zugleich ein Schritt, der Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Rolle Russlands im Ringen um friedliche internationale Bedingungen eröffnete.

Putin hat ein heruntergewirtschaftetes Land übernommen, dessen Sozialprodukt in den Jahren zuvor um 50% gesunken war. Viel Spielraum war da nicht vorhanden – sowohl unter diesem Gesichtspunkt als auch unter Berücksichtigung der inneren und internationalen Kräfteverhältnisse. Aber die Oligarchen mussten einer bestimmten Ordnung unterworfen werden. Zugleich ging es darum, Russland zu retten und dafür alle patriotisch gesinnten Kräfte zusammenzuführen, trotz Vorhandensein der Oligarchen und ihres während der Jelzin-Zeit gewonnenen politischen Einflusses.

Möglich war es, weil der Patriotismus unter den konkreten Bedingungen nicht nur von den neu geschaffenen Eigentumsverhältnissen und vom Antikommunismus, sondern auch von der von den Menschen selbst erlebten Geschichte der Sowjetunion mit ihren Leistungen für die Menschen und ihren Siegen im Kampf gegen ausländische Aggressoren und für eine friedliche Welt geprägt war. Ein Mehr-Fronten-Kampf unter den gegebenen Bedingungen hätte zum endgültigen Zerfall Russlands und damit zur Erfüllung der Träume von Brzezinski und Co. führen können.

Wichtig erscheint unter diesem Gesichtspunkt ein Hinweis von Putin selbst zu sein, den er während der von den Medien organisierten „Direct Line“-Veranstaltung 2021 formuliert hat. Er hat sich darin zum ersten Mal öffentlich von Jelzin distanziert und betont, dass er die Macht nicht von ihm, sondern vom Volk erhalten hat. Auf jeden Fall kann man das auch als ein Hinweis darauf interpretieren, wem er sich auch heute noch verpflichtet fühlt, in der sich die Widersprüche zuspitzen.

Widersprüche erfordern Lösung

Das ist eine wichtige Voraussetzung, um die sich objektiven und subjektiv bedingten Probleme zu lösen. Die Entwicklung in Russland in den letzten 20 Jahren bestätigt, dass Staat und Politik Ausdruck der ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft und der verschiedenen und auch unterschiedlichen sozialen Gruppen sind, aus der die Gesellschaft besteht.

Es zeigt sich aber auch, dass Staat und Politik auf die Gesellschaft, auf die ökonomischen und sozialen Beziehungen zurückwirken können. Das heißt, die materiellen Verhältnisse haben den letztlichen, aber nicht den alleinigen Einfluss. Neben der Ökonomik haben auch andere Faktoren einen Teils entscheidenden Einfluss auf die politischen Prozesse. Laut F. Engels ist ein Standpunkt nicht zu akzeptieren, der die marxistische Lehre in eine Art ökonomischen Determinismus verwandeln will. „Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form“.

Bei der Betrachtung von Staat und Politik im heutigen Russland müssen diese Gesichtspunkte Berücksichtigung finden. Die stärkste Oppositionskraft in Russland, das von der KPRF angeführte patriotische Bündnis, führt einen entschiedenen Kampf gegen die Politik und das Bestehen der Oligarchen. Sie unterstützen den Präsidenten bei der Verwirklichung seiner Bekenntnisse, dem Volk zu dienen und einen stabilen Staat zu gestalten, der diese Stabilität in den Dienst von Frieden und gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit stellt. Die bevorstehenden Duma-Wahlen* werden zeigen, wie weit Russland auf diesem Wege gekommen ist.

Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes

Anmerkung

* Der Beitrag wurde bereits vor den Duma-Wahlen geschrieben, die vom 17.-19. September 2021 stattfanden


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Bild: Collage von Ralf Lux unter Verwendung von: