Geschichte

Von der „Reformierung“ der Sowjetunion zur Zerstörung

Russland fällt nicht (Teil 1)

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von Prof. Dr. Anton Latzo

Im Prozess der Zerstörung der UdSSR haben die Ereignisse des Jahres 1991 besonders starke Einschnitte gebracht. Im Dezember 1991 wurde die UdSSR gegen den eindeutig bekundeten Willen des Volkes endgültig zerschlagen. Die Ursachen waren sehr vielgestaltig. Sie waren innerer und äußerer Natur. In jedem Fall spielte die Entwicklung und Politik der KPdSU eine wichtige Rolle bei der Analyse der Prozesse und entstandenen Bedingungen, der Ableitung von Schlussfolgerungen und bei der Bestimmung der Mittel und Wege ihrer Lösung.

Zerschlagung der materiellen Grundlagen

Am Beginn dieses Prozesses standen die Probleme und Widersprüche, die eine Reformierung der sowjetischen Gesellschaft notwendig, unvermeidlich machten. Der damalige Ministerpräsident der UdSSR, Nikolai Ryschkow, der am Anfang Gorbatschow unterstützte, sich aber später aufgrund der gemachten Erfahrungen, von ihm absetzte, schreibt in seinem Memoirenband „Mein Chef Gorbatschow“: „Es lässt sich nicht leugnen, dass die Regierung mit der Reformierung des Landes begann, ohne vorher die notwendigen Schritte und deren langfristige Wirkungen ordentlich vorauszuberechnen.“ Die Partei- und Staatsführung verfügten über kein klares Aktionsprogramm. Als Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde, hat man einfach die ursprüngliche Version zur Reformierung der Wirtschaft des Landes zur Perestroika erklärt.

Im Zentrum der Überlegungen stand die Frage des Eigentums. Der Standpunkt der Partei sah vor, 50 bis 60 Prozent des Eigentums in den Händen des Staates zu belassen. Das betraf vor allem die Kernbereiche der Volkswirtschaft und die Rüstungsindustrie. Die übrigen 40 bis 50 Prozent sollten als Aktionärs- oder Privateigentum bestehen. Ausgenommen war der Besitz an Grund und Boden.

Dieser Position standen liberale Ökonomen, aber auch einflussreiche Politiker, angeführt von Alexander Jakowlew, dem späteren Vertrauten von Gorbatschow und Politbüro-Mitglied, entgegen. Sie setzten allein auf das private Eigentum und behaupteten, dass nur dieses alle sozial-ökonomischen Probleme des Landes lösen könne. Davon ausgehend stellten sie sich gegen die offiziellen Vorschläge und für eine „sozialen Marktwirtschaft“ mit entsprechenden staatlichen Regulierungen. Sie nutzten jede politische und juristische Möglichkeit, um ihre Vorstellungen durchzusetzen.

Bei der Verabschiedung eines Gesetzes über die Kooperation im Frühjahr 1988 sollte es um das von Gorbatschow offiziell verkündete Prinzip der „Vielfalt der Formen des sozialistischen Eigentums“ gehen. In der Diskussion wurde diese Aussage von Jakowlew und Co. zur „Vielfalt der Eigentumsformen“ transformiert, was ja eine Wandlung der Politik von Grund auf bedeutete! Es enthielt zumindest die Möglichkeit der Veränderung der generellen Ausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Die „Entstaatlichung“ wurde zur Privatisierung und führte zum massenhaften Ausverkauf der wichtigsten Produktionsmittel zum Spottpreis, zur Entstehung der Oligarchen.

Als nächstes Ziel strebten sie die Beseitigung des bestehenden ökonomischen Systems an, was ihnen schließlich durch Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses in der Führung der KPdSU gelungen ist. Es entstand eine Verflechtung der ökonomischen mit sozialen und politischen Faktoren, die in der Gesellschaft eine Atmosphäre der Unzufriedenheit mit den bestehenden Lebensbedingungen erzeugte, wodurch neuer Druck und neue Widersprüche entstanden.

Beseitigung des politischen Systems

Es waren aber nicht allein die Fragen der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik, die die Lage verschärften. Gegen Ende 1987 verkündeten Gorbatschow und seine Begleiter den Standpunkt, dass progressive Prozesse in der Wirtschaft nicht zu erwarten waren, solange sie nicht von politischen Reformen begleitet worden sind. Auf dem Plenum des ZK der KPdSU im Februar 1988 formulierte Gorbatschow: „Der Umbau unseres politischen Systems ist inzwischen unvermeidlich geworden“. Die Gruppe um Jakowlew nutzte die persönliche Nähe zu Gorbatschow und verstand es auch in diesem Bereich, die Umsetzung dieser Notwendigkeit mit den Inhalten ihrer Auffassungen zu versehen.

Die Situation wurde genutzt, um der Partei ihre theoretisch-ideologischen und organisatorischen Fundamente zu entziehen und sie zum Instrument der dem Sozialismus feindlichen Kräfte werden zu lassen. So kam es, dass sich die Wege Gorbatschows und der Partei getrennt haben.

Gleichzeitig hatte sich 1989 die politische Lage im Lande und in den anderen sozialistischen Staaten in Europa jäh verändert. Der Antikommunismus wagte es, sein wahres Gesicht zu zeigen. Während des Ersten Kongresses der Volksdeputierten im Sommer 1989 sind verschiedene Redner aufgetreten, die offen ihre Absicht verkündeten, dem Land zu helfen, indem sie es vom „Joch der KPdSU“ befreiten. Der schon zitierte aktive Teilnehmer dieser Prozesse, Nikolai Ryschkow, spricht von einer „paradoxe(n) Situation …, dass die mächtigste Partei in unserer Geschichte die Durchführung unumgänglicher Reformen nicht anführte, so wie das zum Beispiel die Chinesen taten und tun, sondern sich im Gegenteil dabei versteckte. Damit schuf die Partei faktisch selbst Bedingungen, unter denen es vergleichsweise schwachen Kräften gelang, sie aus der politischen Arena zu verdrängen“.

In dem Maße, wie die KPdSU ihren Einfluss auf die Volksmassen verlor, entstanden im Lande – nicht ohne ausländische politische, materiell-finanzielle und logistische Unterstützung von außen – Bewegungen, die dann bei der Zerstörung des Staates und der Gesellschaftsordnung ihre Rolle gespielt haben.

Ausländischer „Beistand“

Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich Gorbatschow in den sechs Jahren als Generalsekretär elf Mal mit dem Präsidenten der USA traf! Ryschkow weist aber auch darauf hin: „Im Ergebnis seiner Politik mit vielen einseitigen Zugeständnissen viel die Berliner Mauer, wurden der Warschauer Pakt, die sozialistische Staatengemeinschaft und die Sowjetunion selbst zerstört. … Das war das schändliche Ergebnis der Übereinkunft Gorbatschows mit seinem Freund Helmut Kohl im Staatsjagdhaus bei Archys im Kaukasus.“

Es ist unstrittig, dass die Außenpolitik von Gorbatschow den Interessen des Westens entgegenkam, zu oft zu Lasten der Interessen UdSSR. Diese Politik schwächte nicht nur die Position der Sowjetunion in der Welt. Sie ermöglichte „Hilfe“ und begünstigte den Einfluss des Westens auf die Bevölkerung der UdSSR, auf die Aktivitäten antisowjetischer, antisozialistischer Kräfte in der Sowjetunion. Daran anknüpfend wurden unter der Herrschaft Jelzins Treibhausbedingungen für die Oligarchen geschaffen. Jene inneren und äußeren Faktoren, die zur Zerstörung der UdSSR (1991) führten, konnten so gedeihen und sich so entwickeln, dass sie zu einer Gefahr für die Existenz dess russischen Staates geworden sind.

Die Mehrheit wollte Sowjetunion erhalten

Am 17. März 1991 fand eine Volksabstimmung zur Frage der Union statt, bei der sich die Bürger eindeutig zum Schicksal der Union äußerten. Sie hatten die Frage zu beantworten: „Halten Sie es für notwendig, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als eine erneuerte Föderation gleicher souveräner Republiken zu erhalten, in der die Rechte und Freiheiten einer Person jeder Nationalität uneingeschränkt garantiert werden?“

Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission der UdSSR wurden 185,6 Millionen Bürger in die Wahlliste aufgenommen. An der Abstimmung nahmen 148,5 Millionen (79,58%) teil. Davon stimmten 113,5 Millionen (76,43%) mit „ja“. In der Ukraine sagten 70,2% und in Belorussland 82,7% ja zur Union. In den Mittelasiatischen Sowjetrepubliken lagen die Ja-Stimmen sogar zwischen 93,3% (Aserbaidschan) und 97,9 Prozent (Turkmenistan).

Bemerkenswert ist, dass sich die Teilnehmer nicht nur für die Erhaltung einer Macht, schlechthin, sondern auch einer sozialistischen Macht aussprachen. Die Frage zielte ja ausdrücklich auf „sozialistische“ und „sowjetische“ Republik.

In den folgenden Verhandlungen Gorbatschows mit den anderen Gruppen über die vertragliche Ausgestaltung des Referendums verschwand diese Charakterisierung des Staates. Erst verschwand „sozialistisch“ und dann wurde „sowjetisch“ durch „souverän“ ersetzt. Gorbatschow wollte also der Präsident eines nicht sozialistisch und nicht sowjetisch verfassten Staates sein!

In der Russischen Föderationsrepublik wurde zusätzlich gefragt, ob das Amt eines Präsidenten der RSFSR eingeführt werden solle – 71,34% der beteiligten Russen haben das unterstützt. Es war ein von Erfolg gekrönter „Gegenschlag“ Jelzins gegen Gorbatschow, seinen Rivalen im Ringen um die Macht. Am 12. Juni ließ er sich zum ersten Präsidenten der RSFSR wählen.

Die Liquidierung der UdSSR

Es folgten eine Reihe destabilisierender Aktionen beider Seiten, die aber vom Ausland offensichtlich schon differenziert gesehen wurden. Nachdem Jelzin am 12. Juni Präsident der RSFSR wurde, reiste er umgehend vom 18 bis 22. Juni 1991 zu einem Besuch in die USA, wo ihm ausdrücklich Unterstützung zugesagt wurde. Gorbatschow weilte vom 15. bis 17. Juli 1991 beim Treffen der G7 in London. Er erhielt keine Zusagen für erwünschte Wirtschaftshilfen!

Einen Tag vor Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrages, über den sich Gorbatschow mit neun Unionsrepubliken geeinigt hatte, versuchte eine Gruppe von Regierungsmitgliedern und hohen Funktionären am 18. August die Macht zu übernehmen.

Jelzin nutzte die Gelegenheit und die Tatsache, dass sich Gorbatschow auf der Krim befand, um sich medienwirksam gegen den Putschversuch zu inszenieren und wurde zum Helden hochstilisiert.

Der Noch-Präsident der UdSSR Gorbatschow erklärte am 24. August seinen Rücktritt als Generalsekretär des ZK der KPdSU und rief das ZK der KPdSU zur Selbstauflösung der Partei auf. Die Parteienorganisationen in den Republiken und die lokalen Parteiorganisationen sollten selbst entscheiden, was sie machen wollen. Damit war nicht nur über das Schicksal der KPdSU, sondern auch über das weitere Bestehen der UdSSR entschieden!

Jelzin vereinbarte nur 9 Monate nach dem Referendum vom März in Geheimverhandlungen im Belowescher Wald Belorusslands mit den Vertretern der Ukraine und Weißrusslands die Beendigung der Existenz der UdSSR. Darüber berichtete er bezeichnenderweise persönlich telefonisch vom Ort zuerst dem US-Präsidenten Bush sen. Erst später hat er über eine dritte Person den Präsidenten der UdSSR, Gorbatschow, informiert!

Am 25. Dezember trat Gorbatschow auch als Staatspräsident zurück. Es folgte die formelle Auflösung der UdSSR – der aus der Oktoberrevolution hervorgegangene erste sozialistische Staat der Geschichte war Geschichte – aus der Lehren zu ziehen sind!

Prof. Dr. Anton Latzo ist Historiker und Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes


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Bild: Collage von Ralf Lux unter Verwendung von: