Für ein selbstbestimmtes und würdiges Sterben
Ärzte und Vereine dürfen sterbewilligen Menschen wieder straffrei Beihilfe zur Selbsttötung leisten. Das hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe am 26. Februar 2020 entschieden. Die Richter erklärten den § 217 des StGB und damit das seit 2015 geltende Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe beim Suizid als verfassungswidrig. Es gebe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
Mit diesem Urteil nimmt die pro & contra-Debatte wieder Fahrt auf. Der Deutsche Freidenker-Verband hatte sich vor geraumer Zeit entschieden, keine verbindliche Position zur aktiven Sterbehilfe zu beziehen. Die entsprechende Argumentation dazu hatten wir in unserer Zeitschrift FREIDENKER in der „Spezial-Ausgabe“ 2-2003 zum Thema „Vorschläge zu einer weltlich-humanistischen Ethik und Praxis für das Leben des Menschen“ veröffentlicht.
Diese Argumentation war bisher auf unserer Webseite nicht verfügbar, weshalb wir sie aus aktuellem Anlass hiermit zugänglich machen.
Auszug aus „Vorschläge zu einer weltlich-humanistischen Ethik und Praxis für das Leben des Menschen“, FREIDENKER Spezial (2-2003), S. 11-13
Sterbebegleitung und menschenwürdiges Sterben
Mit der Vertröstung auf ein besseres Jenseits, das jenen winke, die sich zuvor der Obrigkeit und den „religiösen Autoritäten“ fügen, wurden und werden ganze Generationen in Angst und Schrecken versetzt und vom Kampf für eine bessere Zukunft ,,auf Erden“ abgehalten. Freidenkern als philosophischen Materialisten sind Vorstellungen über ein „Leben nach dem Tod“ fremd. Körper, Geist und Psyche sind eine Einheit, solange der Mensch lebt. Was von einem Menschen bleibt, der von uns geht, ist das, was er in seinem Leben getan und uns hinterlassen hat. Darin lebt er weiter.
Freidenker wirken für eine realistische Einstellung, ein natürliches Verhältnis zu Sterben und Tod, gegen deren weitgehende Verdrängung und Tabuisierung in unserer Gesellschaft. Sterben und Tod verlieren in dem Maß ihren Schrecken, wie sie ihrer dunklen Geheimnishaftigkeit entkleidet werden.
Freidenker treten für eine umfassende Sterbebegleitung ein, als Lebenshilfe auf dem letzten Weg. Eine Sterbebegleitung sowohl durch Nahestehende des Sterbenden wie durch Beschäftigte in den Pflege- und Gesundheitseinrichtungen sollte von der grundsätzlichen Prämisse ausgehen, dass Sterben — wie die Geburt — unabdingbar zur natürlichen Daseinsweise jedes menschlichen Individuums gehört. Jedes Leben ist endlich, wie das Leben hat auch das Sterben seine individuelle Einmaligkeit.
Einfühlsames Verhalten soll Angst vor dem Sterben abbauen und mithelfen, Einsamkeit und das Gefühl mangelnder Geborgenheit zu vermeiden oder wenigstens zu mildern.
Der Abbau von Angst vor dem Sterben und dessen Erleichterung erfordert die umfassende Aufklärung über alle Möglichkeiten der Palliativmedizin, konsequenter Schmerztherapie und deren uneingeschränkte Anwendung. Sterbebegleitung muss ebenso die Persönlichkeit und Würde des Sterbenden achten. Wie unterschiedliche religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen die Gedanken und die Gefühlswelt des Menschen während seines bewussten Lebens beeinflusst haben, respektieren wir dies auch im Sterbeprozess und nach dem Tod als private, individuelle Angelegenheit. In diesem Sinne treten Freidenker für eine Sterbebegleitung ein, die das Individuum mit allen seinen Rechten achtet.
Wir fordern das Recht auf ein selbstbestimmtes und würdiges Sterben als wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Wir treten ein für rechtzeitige Sterbe- und Bestattungsvorsorge als Teil bewusster Lebensplanung. Wir unterstützen die Bekanntmachung und Nutzung der Patientenvollmacht nach § 1896 BGB in Kombination mit einer wirksamen Patientenverfügung. In ihr können Festlegungen über eine konsequente Schmerzbekämpfung, die Anwendung oder Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen, künstliche Ernährung, des Einsatzes oder Abschaltens von Maschinen und Apparaten sowie über Transplantation und Obduktion enthalten sein.
Es müssen ausreichende Mittel für Fortbildungsangebote für das medizinische Personal zur Sterbebegleitung, für die Schmerztherapie, für Hospize und andere palliativmedizinische Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden.
Freitod und Sterbehilfe
Freidenker halten die Vorstellung des Lebens als „von Gott gegeben“, der allein „es wieder nehmen“ könne, für irrational. Sie akzeptieren daher, wenn Menschen sich entschließen, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Die in diesem Zusammenhang oft reklamierte Selbstbestimmung muss jedoch kritisch befragt werden: Handeln Menschen, die den Freitod wählen wollen, nicht überwiegend in Situationen, die ihnen ausweglos erscheinen, unter tatsächlichen oder vermeintlichen Zwängen? Wer meint, er sei für die Gesellschaft oder die Angehörigen „unzumutbar“ und müsse diese von sich „erlösen“, handelt nicht selbstbestimmt, sondern in hohem Maße fremdbestimmt. Wer sich in einer Lebenskrise oder aus Verzweiflung selbst töten will, benötigt umfassende Hilfen und ggf. therapeutische Maßnahmen, die Alternativen für das Weiterleben aufzeigen.
Bei aller Toleranz propagieren Freidenker die Selbsttötung nicht, auch um nicht einem gesellschaftlichen Klima Vorschub zu leisten, in dem die Selbsttötung in ausweglos scheinenden Situationen praktisch „erwartet“ und als „solidarischer“ Akt nahe gelegt wird. Priorität haben selbstbestimmte ärztliche, pflegerische und psychosoziale Maßnahmen zur Erleichterung der Krankheit, Linderung des Leidens und Erleichterung des Sterbens sowie der Verzicht auf Maßnahmen, die bei unheilbaren Erkrankungen zwar das Leben, aber auch Leiden verlängern und vermehren. Dabei ist auch eine Lebensverkürzung infolge palliativer Maßnahmen tolerabel. Freidenker fordern umfassende Hilfe und Rehabilitationsmöglichkeiten für Hirngeschädigte und Wachkomapatienten und umfassende psycho-soziale Betreuungsangebote für ihre Angehörigen.
Wenn Patienten wegen bevorstehender unerträglicher Leiden sich trotzdem zu einer Selbsttötung ernsthaft entschlossen haben, dürfen ihnen Informationen auch darüber nicht vorenthalten werden, wie sie ein schmerzfreies Ende ihres Lebens selbst herbeiführen können. Da es keinen Straftatbestand der Beihilfe zum „Selbstmord“ gibt, müssen auch Sanktionen wegen „unterlassener Hilfeleistung“ i. S. einer Verhinderung der Selbsttötung unterbleiben.
Jedoch sind Hilfen bei einer Selbsttötung nur zu akzeptieren, wenn der Patient seinen Willen eindeutig und bei vollem Bewusstsein geäußert hat. Eine ersatzweise Willenserklärung Dritter oder das Abstellen auf den „mutmaßlichen“ Willen eines Patienten, der zu einer Äußerung nicht in der Lage ist, sind strikt abzulehnen.
Ob es eine darüber hinaus gehende Legalisierung von aktiver Sterbehilfe geben soll, wird auch zwischen Freidenkern kontrovers diskutiert:
- Die Befürworter argumentieren, dass die Legalisierung nur konsequent sei, da sich Freidenker prinzipiell der Selbstbestimmung des Menschen verpflichtet fühlen. Niemand dürfe Menschen, die ihre Situation für ausweglos halten, die Inanspruchnahme aktiver Sterbehilfe verbieten. Mit der Straffreistellung werde niemand gezwungen, entsprechend zu handeln, aber jene, die fest entschlossen sind, ihr Leben zu beenden, könnten dies tun, ohne einen hierbei helfenden Menschen zum Kriminellen zu machen.
- Die Gegner der aktiven Sterbehilfe halten dagegen, dass Selbstbestimmung in einer solchen Konfliktsituation immer relativ, abhängig von gesellschaftlichen und persönlichen Umfeldbedingungen ist. Sie verweisen auf die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ durch die deutschen Faschisten und warnen vor der Missbrauchsgefahr einer „Sterbenachhilfe“, ökonomisch „nicht lohnende“ Behandlungen aus Gründen der Kostensenkung einzustellen, und den Patienten einen alles andere als selbstbestimmten „Mitleidstod von fremder Hand“ nahe zu legen.
Der Deutsche Freidenker-Verband ist zu der Auffassung gelangt, dass es unangemessen wäre, eine im Verband verbindliche Position hierzu durch Mehrheitsabstimmung zu ermitteln. Bei der Kontroverse geht es auch ausschließlich um die juristische Seite des Problems, nicht um eine Propagierung aktiver Sterbehilfe. Vielmehr kämpfen Freidenker aktiv gegen ein öffentliches Meinungsklima und eine Gesundheitspolitik, die das so genannte „sozialverträgliche Frühableben“ nahe legen. Freidenker verlangen gesellschaftliche Bedingungen, in denen sich niemand genötigt sieht, die Gemeinschaft durch den eigenen Tod von einer vermeintlichen „Last“ zu befreien.
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Auszug aus „Vorschläge zu einer weltlich-humanistischen Ethik und Praxis für das Leben des Menschen“, FREIDENKER Spezial (2-2003), Kapitel „Sterbebegleitung und menschenwürdiges Sterben“ sowie „Freitod und Sterbehilfe“ (gescanntes PDF-Dokument, ca. 1,3 MB)
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