Demokratie – Medien – Aufklärung

Für Rosa Luxemburg

Aus: „Freidenker“ Nr. 4-08   67. Jahrgang – Thema

Von Clara Zetkin

Es ist inzwischen weit verbreitet, ja, üblich geworden, Rosa Luxemburg als Kronzeugin gegen Lenin, die russischen Kommunisten und die Oktoberrevolution aufzurufen oder sie wahlweise der zu starken Anlehnung an die russischen Revolutionäre zu bezichtigen. Dass diese Bemühungen keineswegs neu sind, sondern bereits wenige Tage nach Rosas Ermordung ihren Anfang nahmen, bezeugt dieser Text von Clara Zetkin. Wegen seiner ungebrochenen Aktualität bringen wir diesen historischen Text, auch als Antwort auf zeitgenössische Bemühungen, die Erinnerung an Rosa Luxemburg gleichsam zum Vorwand zu nehmen, um die alten Legenden wieder aufzuwärmen.

Das „Erinnerungsblatt“, das Genossin Luise Kautsky „Rosa Luxemburg zum Gedächtnis“ geschrieben hat – Nr. 35 der „Freiheit“ vom 20. Januar – fordert den entschiedensten Widerspruch aller heraus, die die große Seele der Gemeuchelten wirklich gekannt haben. Es läuft meinem Geschmack zuwider, gleichsam am offenen Grabe um eine Tote zu streiten. Jedoch Wahrheit und Freundschaft zwingen mich, einigen Behauptungen Luise Kautskys entgegenzutreten. Ich glaube es nicht nur der Toten, sondern auch den Lebenden schuldig zu sein, abzuwehren, dass die von Rosa Luxemburgs zahlreichen Gegnern geschaffene und verbreitete Karikatur der scharfgeprägten Persönlichkeit durch verzeichnete Striche von Freundesseite noch weiter vergröbert und verzerrt wird.
Es ist richtig, wenn Luise Kautsky von Rosa Luxemburg als Kämpferin schreibt: „Sie schonte ihre ältesten, besten Freunde nicht, im Gegenteil.“ Allein als verstehende Freundin der Toten müsste Genossin Kautsky daneben einiges andere betonen. Mit welch zäher, rücksichtsvoller Geduld gerade Rosa Luxemburg stets um die Überzeugung, um die Seele der ältesten Freunde gerungen hat, ehe sie ihnen kämpfend entgegentrat. Wie groß ihr Schmerz war, wenn sie die Waffen gegen einen früheren Bundesgenossen erheben musste; wie bitter ihre Enttäuschung, wenn sie an der Art seines Kampfes und seiner Waffenführung erkannte, dass er menschlich nicht auf der Höhe stand, auf der sie ihn gewähnt hatte.
Gewiss, Rosa Luxemburg hat auch den ältesten Freund nicht geschont, wenn er ihrer ehrlichen Überzeugung nach zum Verderben und Schädiger des proletarischen Klassenkampfes wurde. Die Sache stand ihr stets über der Person. Hielt sie es für ihre Pflicht, auch den ältesten Freund zu bekämpfen, so hat sie es mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen getan. Mit dem großen Geschütz ernster Wissenschaftlichkeit und reifer theoretischer Schulung; mit den wuchtigen Hieben einer glänzenden Dialektik; mit dem eleganten Florett der Ironie, des Witzes, des Spotts. Nie hat sie sich jedoch unritterlicher Waffen bedient. Rosa Luxemburg war eine durch und durch vornehme Natur und unfähig, Gleiches mit Gleichem vergeltend, Waffen der Gemeinheit zu gebrauchen, auch wenn solche gegen sie selbst zur Anwendung kamen.
Es ist deshalb unrichtig, wenn Luise Kautsky Rosa Luxemburgs Verhalten im Kampfe also kennzeichnet: „Leider handelte sie in solchen Fällen wie der von ihr bewunderte Lenin, der einst wegen Verleumdung seiner Parteigenossen vor ein Parteigericht gestellt, erklärte: ‚Einen politischen Gegner, besonders wenn er unserem eigenen (sozialistischen) Lager angehört, soll man mit vergifteten Waffen bekämpfen, indem man den schlimmsten Verdacht gegen ihn zu erwecken sucht.‘“
Nebenbei: ich bezweifle stark, ob der angeführte Ausspruch tatsächlich zur Charakterisierung des großen bolschewistischen Führers herangezogen werden darf. Ich weiß aus der Geschichte der russischen Bewegung und aus eigener Erfahrung, welch ausdauernder und zu fürchtender Gegner der Genosse Lenin ist. Allein die Verleumdung habe ich nicht unter seinen Waffen gefunden. Ehe ich dem angeblichen Ausspruch Beweiskraft zuzuerkennen vermöchte, müsste ich genau den Zusammenhang und die Umstände kennen, unter denen er gefallen sein soll.
Luise Kautsky hätte sich nach meinem Empfinden und Wissen davor hüten sollen, in ihrem „Erinnerungsblatt“ zum Schluss auf dem Gebiet des rein Persönlichen auf das Politische hinüberzugreifen und hier einen ihr unerklärlichen Wandel in Rosa Luxemburgs Auffassung und Haltung anzudeuten. Ich würdige voll und mit Sympathie, was Luise Kautsky in ihrem Kreise und ihrer Wesensart gemäß für den Sozialismus zu tun bestrebt ist. Ich bestreite ihr nicht im Geringsten das Recht, eine Meinung über die Vorgänge und Erscheinungen im Lager des internationalen Sozialismus zu haben. Aber all das schafft die Tatsache nicht aus der Welt, dass sie im Kampfe für den Sozialismus nur mittelbar Miterlebende und nicht unmittelbar Selbsterlebende ist. In der Folge fehlt es ihr trotz aller Bemühungen um Objektivität an dem richtigen eigenen selbstständigen Verhältnis zu den Erscheinungen. Sie betrachtet diese aus der Perspektive ihres Milieus, aus der Perspektive der verstehenwollenden Frau, die inneren Anteil an dem Kampfe des Mannes nimmt, aber selbst nicht mitten im Kampfesgetümmel steht. Rosa Luxemburg dagegen kämpfte im dichtesten Kugelregen und hielt Ausschau von hoher Warte, die sie sich selbst erbaut.
So ist es kein „Rätsel“, dass die eine prüfend, wägend um das Verständnis der russischen Revolution rang, während die andere in Selbstsicherheit mit fertigem Urteil über die „bolschewistischen Irrlehren“ zu Gericht sitzt, von denen sich unbegreiflicherweise ein klarer Geist habe dermaßen blenden und verblenden lassen können, „dass Rosa die verunglückten russischen Experimente in Deutschland wiederholen wollte“. Ich kann dieses vernichtende Urteil über die russische Revolution auf sich beruhen lassen in der Gewissheit, dass die „verunglückten russischen Experimente“ in der Geschichte noch schöpferisch weiterwirken werden, wenn sich nicht einmal mehr die Mäuse den Magen an dem verderben, was sozialdemokratische Beckmesser gegen sie geschrieben haben.
Rosa Luxemburgs Haltung zur russischen Novemberrevolution und zur sozialistischen Räterepublik war einheitlich und klar. Sie darf nicht bewertet werden nach gelegentlichen Äußerungen über Personen und Vorgänge, nach Äußerungen, wie sie der Tag unter dem Einfluss von Dingen und Stimmungen bei temperamentvollen Menschen mit fein differenziertem, gesteigertem Gefühlsleben mit sich bringt. Rosa Luxemburg wertete den „Bolschewismus“ – um der Kürze wegen den Namen des deutschen „Bürgerschrecks“ zu gebrauchen – als Ganzes nach seiner überragenden geschichtlichen Bedeutung, und sie kritisierte Einzelheiten der bolschewistischen Aktion, die ihr kritikbedürftig erschienen.
Sie konnte sich hoch genug über ihr persönliches Empfinden erheben, um in Radek, der der Konferenz des Spartakusbundes beiwohnte, nichts anderes zu sehen als den Vertreter der sozialistischen Räterepublik Russlands. Ihr politischer Sinn und ihr menschlicher Takt verwehrten es ihr, so zu handeln wie es Luise Kautskys Bedürfnis nach Konsequenz des politischen Auftretens offenbar gefordert zu haben scheint. Nämlich alte Fehde und altes Urteil ausgerechnet in dem Moment hervorzuholen, wo Eberts und Noskes Spitzel und Schergen sich an Radeks Fersen hefteten.
Ich spüre keine Neigung, mich im Rahmen dieser Bemerkungen just mit Luise Kautsky darüber auseinanderzusetzen, welches denn eigentlich die „bolschewistischen Methoden“ sind, zu denen sich Rosa „nicht nur bekannte, sondern die sie auch leider zu praktizieren begann“. Nur soviel, dass diese „Methoden“ nicht dem Abbild entsprechen, das zu Nutz und Frommen der grundsatzunsicheren zaghaften Politik der Führer des rechten Flügels der USP an die Wand gemalt wird, einem Abbild, das sich kaum wesentlich von dem „bolschewistischen“ und „spartakistischen“ Popanz der Regierungssozialisten unterscheidet.
Doch lassen wir „die bolschewistischen Methoden“ beiseite. Mit diesem Schlagwort die Niederwerfung des Berliner Januaraufstandes erklären, ist genauso töricht, als wenn man den Fall der Pariser Kommune darauf zurückführen wollte, dass diese die „bolschewistischen Methoden“ vorweggenommen habe. Rosa Luxemburg hat die von ihr befürwortete Kampfestaktik nicht aus den russischen Verhältnissen übernommen. Sie hat sie vielmehr aus einer tiefschürfenden Erforschung und Durchleuchtung der internationalen Entwicklung abgeleitet, sie hat ihr für Deutschland deutsche Verhältnisse zugrunde gelegt, allerdings nicht die deutschen Zustände der abgelaufenen Periode der trägen Evolution, sondern des stürmischen Abschnitts der Revolution, in den wir mit dem Aufkommen und der Entfaltung des Imperialismus eingetreten sind.
Luise Kautsky mag mir nicht verübeln, wenn ich ausspreche, was ich denke: Rosa Luxemburgs dankbare Freundin hat das „Erinnerungsblatt“ begonnen, Karl Kautskys Frau hat es vollendet. Rosa Luxemburg würde die letzte sein, ihr daraus einen Vorwurf zu machen. Aus dem Bewusstsein ihrer eigenen geistigen Freiheit erwuchs ihr nachsichtiges Verstehen für die innere Gebundenheit und Abhängigkeit anderer. Über Rosa Luxemburgs „Verblendung“ und „bolschewistische Methoden“ wird nicht Luise Kautsky gönnerhaft richtend das letzte Wort gesagt haben. Das letzte Wort darüber wird die Geschichte sprechen. Wir alle, die wir uns stolz als Rosa Luxemburgs Freunde und Kampfgenossen fühlen, erwarten ruhig dieses Wort.


Dieser Artikel erschien in „Die Aktion“ Nr.  6/7 1919, herausgegeben von Franz Pfemfert, Verlag „Die Aktion“,
Berlin-Wilmersdorf


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