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Arabische Revolutionen – imperialistische Gegenstrategien

von Klaus von Raussendorff

Unmittelbar nach dem Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Hossein Mubarak am 11. Februar 2011 zog ein profunder Kenner der arabischen Welt die folgende Zwischenbilanz: „Das ägyptische Regime ist bis jetzt ein Militärregime gewesen, das eine zivile Einkleidung besaß. Diese war durch Mubarak und seine Minister, sein Parlament, seine Staatspartei, seine Polizisten usw. gegeben. Doch dahinter stand immer die reale Macht der Armee. Was nun geschehen ist, war das Wegfallen dieser zivilen Fassade. Die Macht, die dahinter steht, tritt nun offen zu Tage.

Wir stehen noch immer nicht vor einem Regimewechsel, sondern vielmehr vor einer Offenlegung der Kräfte, die bisher dem Regime halbverborgen innewohnten und heute zu sichtbaren alleinigen Trägern der Macht geworden sind. Es ist der Hohe Militärische Rat, der in Ägypten die Macht übernommen hat. Sein Vorsitzender und damit der gegenwärtige Machthaber über das Niltal ist Marschall Tantawi, der Oberkommandant der Armee und kurzfristige letzte Verteidigungsminister Mubaraks.“ (Arnold Hottinger, Die Macht der Armee – Ägypten nach dem Sturz Mubaraks, 12. Februar 2011, http://www.journal21.ch/ägypten-nach-dem-sturz-mubaraks)

Ein ähnliches Bild ergibt sich in Tunesien. Hier hatte die autokratische Herrschaft von Ben Ali, der am 14. Februar 2011 die Flucht ergriff, die Form eines Regimes, das vor allem in einem übermächtigen, brutalen Polizei- und Sicherheitsapparat bestand. Die wesentlich kleinere Armee wurde von Ben Ali eher vernachlässigt und auf Distanz gehalten. Daher, so die FAZ (v. 20.1.11), habe sie ihn fallen gelassen, sobald sie konnte. Daran gebe es „keinen Zweifel“. Ungeklärt sei lediglich, ob der Armeechef Ammar von sich aus ging oder von Ben Ali gefeuert wurde.

Geschwächte Despoten – triumphierender Imperialismus

Der Sturz von Ben Ali am 14. Januar und noch mehr der von Mubarak am 11. Februar ist von großer symbolischer Bedeutung. Die oft beschworene, den Despoten feindlich gesonnene „arabische Straße“ zeigte schließlich das in ihr steckende spontane revolutionäre Potential. Ein solches Eingreifen der Volksmassen in die politische Entwicklung des eigenen Landes hatte die arabische Welt lange nicht gesehen.

Die Volksbewegungen in Tunesien und Ägypten verdienen schon insofern als Revolutionen bezeichnet zu werden, als sie wie der palästinensisch-amerikanische Journalist Ali Abunimah feststellt, allen arabischen Regimes vor Augen geführt haben, dass die USA sie „letztendlich nicht retten können. Kein Aufwand an ,Sicherheitshilfe‘ (Ausbildung, Tränengas, Waffen), Finanzhilfe oder Geheimdienstzusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten oder Frankreich kann einer Bevölkerung widerstehen, die entschieden hat, es ist genug. Der Spielraum dieser Regimes ist eingeengt worden.“ (The revolution continues after Mubarak’s fall, The Electronic Intifada, 12. February 2011, http://electronicintifada.net/v2/article11799.shtml)

Es besteht kein Grund, die arabischen Revolutionen unter Hinweis auf ihre „Führerlosigkeit“, mangelnde Organisiertheit und das Fehlen einer programmatischen Einheit und Geschlossenheit als bloße Revolten abzutun. Selbstverständlich kann eine tiefgreifende Veränderung der Eigentums- und Machtverhältnisse nur das Ergebnis eines langen Kampf sein. Die Bedingungen dafür sind gegeben.

In den letzten 30 Jahren sind, wie Robert Bibeau betont, soziale Beziehungen entstanden, „die für den triumphierenden Imperialismus charakteristisch sind.“ Alle arabischen Länder haben – schrittweise ebenso wie der Westen – nur langsamer – den Übergang von der patriarchalischen, handwerklichen Gesellschaft, einer Welt der kleinen regionalen Unternehmer, zu einer weltmarktorientierten Ökonomie vollzogen.

Exportiert werden natürliche Ressourcen und eigens für die Weltmärkte hergestellte Waren. Es ist eine Klasse von Großkapitalisten, Handelsmonopolisten und Kleinbürgern im Handels- und Kommunikationsbereich entstanden. Diese entwickelten die Bauwirtschaft und Infrastruktur, den tertiären Dienstleistungs-, Finanz- und Börsensektor sowie die Verkehrsmittel etc.

Diese Entwicklung erfordert eine immer größere und besser ausgebildete Arbeiterklasse. In allen arabischen Ländern hat sich die soziale Landschaft tiefgreifend verändert (weniger in Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten wegen der immensen Öl-Einnahmen). Die alten neokolonialen und halbfeudalen sozialen Verhältnisse, welche die französischen, britischen und italienischen Kolonialisten hatten bestehen lassen, haben sich aufgelöst.

„Als die westliche Wirtschaftskrise 2008 über die arabischen Länder hereinbrach, wurden Tausende von Arbeitern auf Anordnung des Internationalen Währungsfonds auf die Straße geworfen, wobei es in diesen ausgepowerten Ländern, wo die Klasse der Reichen alles nimmt und nichts zum Allernötigsten übrig lässt, kein Sicherheitsnetz gibt. Die soziale Zelle der Großfamilie konnte nicht wie früher die Schwächen der Staaten ausgleichen, die nichts von „Wohlfahrt“ an sich haben.“. (Robert Bibeau, Ägyptens demokratische Revolution: Die Armee wird entscheiden, in junge Welt v. 15. Feb. 2011 http://www.jungewelt.de/2011/02-15/033.php)

Hillary Clinton für „Zivilgesellschaft“

Westliche Politiker versichern, sie seien von den Entwicklungen, die zum Sturz von Ben Ali und Mubarak führten, überrascht worden. Das mag für die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie zutreffen. Sie hatte noch am 12. Januar, zwei Tage vor dem Sturz von Ben Ali, in der Kammer verkündet, dass „das in der ganzen Welt anerkannte Können unserer Sicherheitskräfte ermöglicht, Sicherheitslagen dieses Typs zu regeln.“ Daher schlage sie Algerien und Tunesien vor, „im Rahmen unserer Zusammenarbeit ein Handeln zu ermöglichen, damit das Demonstrationsrecht ebenso verwirklicht werden kann wie zugleich die Gewährleistung der Sicherheit.“

US-Außenministerin Hillary Clinton dagegen hielt einen Tag später in Doha, der Hauptstadt Katars eine Grundsatzrede, in der fast drohende Töne an die Adresse der Herrscher der Region zu vernehmen waren. Ihr Auditorium war das „Forum für die Zukunft“, ein seit 2004 jährlich stattfindendes Treffen von Vertretern der G8 und 19 Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas. Vor diesem Gremium, das sie als „Abschussrampe für einige institutionelle Veränderungen“ bezeichnete, mahnte sie: „Während einige Länder große Schritte auf dem Gebiet der Staatsführung gemacht haben, sind die Menschen in anderen der korrupten Institutionen und der stagnierenden politischen Ordnung überdrüssig. Sie verlangen Reformen, um ihre Regierungen effizienter, ansprechbarer und offener zu machen.“ Die alten Fundamente versänken im Sand. Der neue dynamische Mittlere Osten brauche einen „festeren Untergrund“.

Und direkt an ihre „Freunde, die Führer dieser Länder“ gewandt, appellierte sie: „Sie können eine Zukunft gestalten, an die ihre jungen Leute glauben, für die sie eintreten, die sie verteidigen. Einige von Ihnen haben dies bereits vorgemacht. Aber bei anderen bedarf es neuer Visionen, neuer Strategien, neuer Verpflichtungen. Es wird Zeit, die Zivilgesellschaft nicht als Bedrohung sondern als Partner zu betrachten. Und es ist Zeit, dass die Eliten in jeder Gesellschaft in die Zukunft ihrer eigenen Ländern investieren. Jene, die sich an den Status quo klammern, können vielleicht für kurze Zeit die volle Auswirkung der Probleme ihrer Länder zurückhalten, aber nicht für immer. Wenn Führer keine positive Vision anbieten und jungen Leute richtige Möglichkeiten der Teilhabe geben, werden andere das Vakuum füllen.“

Diese anderen bezeichnete sie in der üblichen codierten Herrschaftssprache als „Extremistische Elemente (d.h. islamistische Parteien), terroristische Gruppen (d.h. Organisationen des bewaffneten Widerstands) und andere, welche die Verzweif-lung und Armut ausnutzen (d.h. Gewerkschaften und antiimperialistische Parteien).“ Daher gehe es in diesem „kritischen Augenblick“ um einen „Führerschaftstest für uns alle.“ (Council on Foreign Relations Essential Documents: Clinton’s Remarks at Forum for the Future, January 2011 http://www.cfr.org/middle-east/clintons-remarks-forum-future-january-2011/p23831)

Kontrollierter Marionettenwechsel?

Ben Ali hatte an demselben 13. Januar in Tunesien seinen letzten verzweifelten Fernsehauftritt. Dass er nicht zu denen gehören würde, welche den von Washington für arabische Despoten angeordneten „Führungs-test“ bestehen würde, dürfte Hillary Clinton klar gewesen sein. „Präsident Ben Ali wird alt, sein Regime ist erstarrt (sclerotic) und es gibt keinen eindeutigen Nachfolger…..er und sein Regime haben den Kontakt mit dem tunesischen Volks verloren.“ Noch schlimmer: „Man nimmt keine Ratschläge oder Kritik an, weder innenpolitisch noch international.“

Zu dieser Einschätzung war die US-Botschaft in Tunis schon in einer vom 17. Juli 2009 datierten Depesche gekommen. War es Zufall, dass dieses von WikiLeaks „enthüllte“ Dokument von „New York Times“ und „The Guardian“ Ende 2010 an die große Glocke gehängt wurde. In weiteren veröffentlichten Berichten der US-Botschaft in Tunis, wurde die erste Familie des Landes als „quasi Mafia“ beschrieben.

Wie zu erwarten, machten diese Berichte in Tunesien einen „großen Eindruck“, wie ein ungenannter französischer Diplomat in Le Figaro (v. 26.1.11) bestätigte. Sie seien ein „unbestreitbarer offensiver Vorstoß“ der USA gewesen.

Weitere gezielte Aktionen folgten. Am 30. Dezember forderte eine Sendung des privaten Fernsehsenders Nessma TV das Re-gime heraus. In Reportagen sprechen die Einwohner von Sidi Bouzid, der Stadt, in der sich ein junger Mann am 17. Dezember aus Verzweiflung verbrannt hatte, über hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Infrastruktur und Warenmangel, Vernachlässigung im Vergleich zur Küstenregion aber auch über Korruption, Vetternwirtschaft, unfähige Beamte. Die Diskussionsrunde vereint bekannte Journalisten und einen Menschenrechtsanwalt, der zum ersten Mal auf der Leinwand erscheint.

Zweifellos eine spektakuläre Durchbrechung der systematischen Informationssperre. Aber spontan aus der Mitte der Protestbewegung? Eigentümer von Nessma TV ist der aus der tunesischen Großbour-geoisie stammende international tätige Filmproduzent Tarak Ben Ammar. Sein Geschäftspartner ist Silvio Berlusconi, dessen Wirtschaftsimperium in jüngster Zeit im Maghreb expandiert. Die Botschaft der Sendung wird verstanden: Das Regime Ben Ali hat Risse. Schließlich habe, so behauptet Thierry Meyssan, General William Word, der Oberkommandierende von Africom, dem Regionalkommando der US-Streitkräfte für den afrikanischen Kontinent, den tunesischen Oberbefehlshaber General Rachid Ammar kontaktiert. Daraufhin habe Ammar persönlich „dem Präsidenten angekündigt, dass Washington ihm befiehlt zu fliehen.“

Für diese Behauptung kann der französische Recherchejournalist keine Quelle angeben, was verständliche Gründe haben kann. Im Zusammenhang mit der Clinton-Rede und anderen Indizien sollte die These in Betracht gezogen werden, dass maßgebliche Kräfte in Washington die Strategie verfolgten, die revolutionäre Entwicklung in Tunesien durch einen kontrollierten Marionettenwechsel einzufangen, zumal diese Operation auch zulasten des französischen Einflusses in Tunesien ging. (Washington face à la colère du peuple tunisien, Voltairenet v. 23 janvier 2011, http://www.voltairenet.org/article168223.html)

US-Doppelstrategie

Der Einfluss Washingtons in der Region beruht nicht allein auf dem Militär der arabischen Regierungen, das durch Hunderte von Kanälen mit dem Pentagon verbunden ist, ganz zu schweigen von der engen Zusammenarbeit von Sicherheitsapparaten und Geheimdiensten. Auch in der Zivilgesellschaft agieren imperialistische Dienststellen. Sie profitieren davon, dass „Zivilgesellschaft“ idealisiert wird, für eine Kraft gehalten wird, welche ein Gegengewicht gegen Konzerne und Regierungen bildet. In Wirklichkeit ist Zivilgesellschaft nach Gramsci im marxistischen Sinne als die gesellschaftliche Arena zu verstehen, in der die herrschende Klasse in Ergänzung staatlichen und wirtschaftlichen Zwangs ideologische Hegemonie ausübt.

Bei der ersten größeren Protestdemonstration in Kairo am 25. Januar war ein früherer Mitarbeiter des US-Außenministeriums persönlich anwesend. So der japanische Nahost-Spezialist Yoichi Shimatsu. Jared Cohen war im Planungsstab für die Organisation von Twitter-Revolutionen zuständig gewesen. Nun befand er sich mitten unter seinen Schützlingen von der „Bewegung 6. April“, die seit langem mit der Muslimbruderschaft verbündet ist. Inzwischen ist Jared Cohen in die Funktion eines Direktors von Google übergewechselt. Im Gegenzug hat Google den ägyptischen Demonstranten einen freien Twitter-Service zur Verfügung gestellt. Seit 2006 war Cohen häufig nach Iran, Syrien, Tunesien und Ägypten gereist. Er rekrutierte Studenten und junge Blogger für Ausbildungsprogramme des US-Außenministeriums. Die US-Regierung brauchte dringend Übersetzer für Farsi und Arabisch.

Die Förderung derartiger Aktivisten-Projekte ist eine Spezialaufgabe des Planungsstabs im US-Außenministerium. Dessen Leiterin war die kürzlich ausgeschiedene Anne-Marie Slaughter. Sie sei, so der japanische Nahost-Experte, „eine Hauptberaterin von Hillary Clinton für Demokratieförderung und nationale Sicherheit“ gewesen. Yoichi Shimatsu weist auf eine diplomatische Depesche der US-Botschaft Kairo vom Dezember 2008 hin. Sie trägt die Überschrift ‚Zusammentreffen und Regimewechsel in Ägypten‘. Dies sei ein Indiz dafür, „dass das State Department während der letzten drei Jahre im Bunde mit Oppositionsaktivisten steht.“

In der Depesche wird über ein Gespräch berichtet, das Botschaftsmitarbeiter mit einem angeworbenen Kontaktmann in der Jugendbewegung „6. April“ geführt haben. Dieser war soeben von einem Treffen im Dezember 2008 in New York zurückgekehrt, das unter dem Namen Alliance of Youth Movements Summit firmiert und sich auch im Internet präsentiert. „Washington verfolgt im unruhigen Mittleren Osten eine Doppelstrategie,“ meint Yoichi Shimatsu, „einerseits Militärbündnisse mit autoritären Regimes, andererseits Förderung volkstümlicher Agitation für freie und faire Wahlen.“

Damit werde das Ziel verfolgt, die Proteste für Demokratie als Druckmittel zu nutzen. Die autoritären Regimes sollen entsprechend den strategischen Konzepten der USA zur Zusammenarbeit gedrängt werden. „Aber nun ist das unvorstellbare geschehen… die Demokratie ist dabei zu gewinnen. ( U.S. Secretly Backed the Brotherhood’s Soft-Power Strategy in Egypt, New America Media, News Analysis, Feb 06, 2011 http://newamericamedia.org/2011/02/us-secretly-backed-the-brotherhoods-soft-power-strategy-in-egypt.php


Foto: Von Ramy Raoof – Flickr: Demonstrators on Army Truck in Tahrir Square, Cairo, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12851187