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Beinhaltet der Ukraine-Krieg die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes?

Am 2. November vor 40 Jahren begann das US/NATO Manöver „Able Archer 1983“ bei dem u.a. mit den neuen Pershing II Mittelstrecken-Raketen ein nuklearer Erstschlag gegen die Sowjetunion geübt wurde. Unser Autor und Zeitzeuge Rainer Rupp hielt unter obigem Titel dazu eine Rede beim „Jahreskongress des International Peace Council“ in Berlin. Sie können diese hier nachlesen. 

Von Rainer Rupp

Erstveröffentlichung am 02.09.2023 auf RT DE (Teil 1 und Teil 2)

Podcast Teil 1

 

Angesichts meiner Erfahrungen im NATO-Hauptquartier in Brüssel zur Zeit des Höhepunkts der „Able Archer – RYAN“-Atomkrise, die am 2. November 1983 begann und uns in den nachfolgenden Tagen an den Rand des nuklearen Armageddon gebracht hat, baten mich die deutschen Organisatoren dieses Kongresses, die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Atomwaffen im Zuge des laufenden US/NATO-Krieges in der Ukraine gegen Russland einzuschätzen.

Vor dem Hintergrund der vielen hysterischen und vorsätzlich irreführenden Reden westlicher Politiker und Medien über einen angeblich möglichen Einsatz Atomwaffen in der Ukraine durch Russland ist es in der Tat dringend notwendig, diese Frage zu klären. Zunächst einmal ist dazu zu sagen, dass die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen in der Ukraine nicht besonders groß, aber dennoch real ist. Daher darf diese Gefahr auf keinen Fall ignoriert werden.

Analog zu unserer Sorge um die Sicherheit von Kernkraftwerken sollten wir mit mindestens derselben Dringlichkeit sicherstellen, dass – wenn es schon zu einem militärischen Konflikt mit einer Atommacht kommt – alle Seiten sich der roten Linien ihrer Gegner, die das Abgleiten in den Einsatz von Atomwaffen auslösen könnten, voll bewusst sind, und am besten alles zu tun, Schritte in diese Richtung zu vermeiden.

Mit Blick auf die Situation in der Ukraine ist zunächst festzustellen, dass trotz aller fieberhaften Warnungen westlicher NATO-Politiker und Medien die Gefahr eines möglichen Einsatzes von Atomwaffen nicht von russischer Seite, sondern – wenn überhaupt – von Seiten den Vereinigten Staaten ausgeht. Warum das so ist, werde ich im Laufe dieses Vortrags verstehen. Trotzdem hier schon ein kurzer Hinweis:

Das Desaster der ukrainischen Offensive, die riesigen Verluste an Soldaten und Kriegsmaterial, die sinkende Moral der Soldaten, zunehmende Desertion und die Gefahr, dass ganze ukrainische Militäreinheiten sich auflösen oder überlaufen, und nicht zuletzt die leeren Vorratslager in NATO-Ländern und die ausbleibenden westlichen Lieferungen von Waffen- und Munition – all das macht die katastrophale Niederlage der Ukraine in absehbarer Zeit unabwendbar.

Eine Niederlage der Ukraine ist zugleich eine gigantische Katastrophe für den hegemonialen Führungsanspruch der USA und ihre europäischen NATO-Hilfswilligen. Vor allem vor dem Hintergrund der tektonischen geopolitischen und geostrategischen Verschiebungen im globalen Süden, weg von der US-diktierten „regelbasierten internationalen Ordnung“ und hin in Richtung China und Russland und zu den von ihnen mitgründeten Organisationen wie BRICS und die Shanghai Cooperation Organisation und deren angegliederten Agenturen und Institutionen, die u.a. eine Alternative zu den US-Instrumenten Weltbank und IWF bieten.

Für die imperialen Kriegstreiber in Washington, die sich über Jahrzehnte hinweg als Herren des Universums gefühlt und auch so gehandelt haben, und dabei ungestraft ganze Länder und Regionen zerstört haben, bedeutet die Niederlage ihres Krieges in der Ukraine nicht nur das Ende der US-Vorherrschaft, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Ende ihrer politischen Karriere und ihres persönlichen Ansehens und Einkommens.

Diese Aussicht ist für die über Leichen gehenden Strippenzieher im Regime des senilen Präsidenten Biden absolut unerträglich. Da diese Leute bereits vielmals bewiesen haben, dass ihnen die Menschenleben in der Ukraine vollkommen egal sind, besteht die reale Gefahr, dass sie die totale Niederlage der Ukraine durch weitere, noch gefährlichere Eskalationsschritte abwendenwollen: z.B. mit noch weiter reichenden Waffen, die den Kreml direkt angreifen oder auch mit der bereits seit einem Jahr immer intensiver öffentlich diskutierten Entsendung von US-Soldaten und Truppen von NATO-Hilfswilligen in die Westukraine.

Wenn dann z.B. US- oder NATO-Truppen von russischen Einheiten dezimiert werden, wird die Forderung nach Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Russen in der Ukraine immer lauter werden. Von dem senilen US-Präsidenten wird es da keinen Widerspruch geben, höchstens vom US-Militär.

Zum Verständnis meiner weiteren Ausführungen, ist es nötig, dass ich einige Worte zu meiner Person sage. Dann werden Sie, sehr geehrte Damen und Herren, verstehen, dass das, was ich hiernach über die NATO und ihre nukleare Einsatz-Doktrin sage, kein angelesenes Wissen aus Artikeln oder Büchern ist, sondern ich das alles persönlich erlebt und durchlebt habe und dafür auch im Jahr 1993 zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Wovon ich 7 Jahre abgesessen habe, davon eine lange Zeit im besonders abgeschirmten Hochsicherheitstrakt.

Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen. Während der Studentenunruhen im Jahr 1968 war ich auf Besuch in Ostberlin und erklärte mich bereit, als Agent für die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung – Anm. der Red.), also für den Auslandsnachrichtendienst der DDR, gegen Imperialismus und Revanchismus zu arbeiten. 9 Jahre später, mit einem Prädikatsexamen in Volkswirtschaft von der Uni Bonn in der Tasche, mit fließenden Englisch- und Französisch-Kenntnissen und mehrjährigen praktischen Erfahrungen in strategischer Planung in Beratungsfirmen in der belgischen Hauptstadt begann ich im Januar 1977 meine Karriere in der Politischen Abteilung im NATO-Hauptquartier in Brüssel.

Diese Hintergrundinformation ist nötig zum Verständnis der RYAN/Able-Archer-Krise, die uns alle im Jahre 1983 ohne Wissen der Öffentlichkeit an den Rand des nuklearen Abgrundes gebracht hat. Lange Zeit verschwiegen und vertuscht, weiß auch heute ein Großteil der westlichen Bevölkerung nichts davon. Nicht wenige westliche Militärexperten und Militärhistoriker gehen jedoch davon aus, dass die RYAN/AbleArcher-Krise mindestens ebenso gefährlich, wenn nicht sogar gefährlicher als die Kubakrise war. Aber mehr dazu etwas später.

Zu meinen Aufgaben in der politischen Abteilung im Hauptquartier gehörte unter anderem auch, dass ich regelmäßig, allerdings auf rotierender Basis, im NATO Situation-Center (Lagezentrum) den Vorsitz in der „Current Intelligence Group“ hatte. Das CitCen, wie das Lagezentrum kurz genannt wurde, war innerhalb der NATO nochmals besonders gesichert. Man brauchte einen speziellen Sonderausweis und zusätzliche Sicherheitsprüfung für den Zutritt. In diesem Lagezentrum liefen alle Nervenstränge der NATO zusammen, also auch Informationen über Aufklärungsergebnisse der NATO-Nachrichtendienste, z.B. CIA, DIA, BND, MI 6 usw. Das war der normale Alltag.

In einer Krise liefen im CitCen alle Informationen über die Feindlage zusammen und es lag an der Current Intelligence Group (CIG), der ich vorsaß, sie zu analysieren, zusammenzufassen und dann dem NATO-DPC, dem „Defence Planning Council“ vorzutragen. Dort standen im Ernstfall die jeweiligen Botschafter in direkter Verbindung mit den Staats- und Regierungschefs ihrer Heimatländer. Im DPC wurde sowohl bei Stabsmanövern als auch im Ernstfall über weitere politische und militärische Maßnahmen entschieden, z.B. über weitere Eskalationen bis hin zur Freigabe zum Ersteinsatz von Nuklearwaffen.

Das wichtigste NATO-Stabsmanöver war WINTEX, bei dem unter realistischen Eingangsszenarien ein Abrutschen in einen bewaffneten Konflikt zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO simuliert wurde, bis hin zum Ersteinsatz von Atomwaffen.

Dieser Ersteinsatz von Nuklearwaffen gegen den Osten wurde alle zwei Jahre im Rahmen der WINTEX-Übungen (Winter Exercise) durchgespielt. Seit 1979 habe ich an all diesen Übungen im SITCEN als Vorsitzender der CIG teilgenommen. Die letzte WINTEX-Übung fand im Jahr 1989 statt.

Die Übung war vor allem dazu da, auf Ebene der NATO-Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass – wenn erst einmal der NATO-Planungsrat den Einsatz von Atomwaffen freigegeben hatte – es keine nationalen juristischen, verfassungsmäßigen oder politische Hindernisse gegen diesen gemeinsamen Beschluss gab. Mit anderen Worten: Wenn die Entscheidung gefallen war, durfte es kein Zurück geben. Das letzte Wort hatte allerdings auch in dieser Situation immer noch der US-Präsident.

Besonders auffällig bei diesen über eine Woche (24/7) dauernden WINTEX-Übungen war, dass 1979 nach einem anfänglich vielfach verzögerten Atomwaffeneinsatz schließlich nur eine einzige taktische Nuklearwaffe gegen russische Truppen in einem osteuropäischen Land abgeworfen wurde und dann die Übung schlagartig zu Ende war. In der Übung war keine Reaktion der Sowjets auf den Atomschlag vorgesehen. Es gab auch keine Diskussion über die Folgen eines solchen Einsatzes in den NATO-Ländern. Es war einfach Schluss und alle Beteiligten gingen nach Hause. Dieser seltsame Ablauf charakterisierte auch alle nachfolgenden WINTEX-Übungen. Über die Folgen eines nuklearen Erstschlages der NATO wollte niemand etwas wissen und auch nicht darüber diskutieren.

Geändert hat sich dagegen von Jahr zu Jahr die Anzahl der von der NATO eingesetzten taktischen Atomwaffen. Bei der letzten WINTEX-Übung im Jahr 1989, an der ich auch wieder in meiner Rolle als CIG-Vorsitzender teilnahm, wurden sogar in zwei Wellen, mit einer mehrtägigen Pause zwischen der ersten und der zweiten Welle, insgesamt 153 NATO-Atomwaffen gegen osteuropäische Staaten eingesetzt.

Auch hier gab es im Szenario keine Reaktion der Sowjets. Im NATO-Szenario haben die Sowjets die erste Welle der Atomschläge einfach absorbiert und konventionell weitergekämpft. Nach der zweiten Welle von Nuklearschlägen war dann die Übung wieder zu Ende.

Das wichtigste Merkmal der WINTEX-Übungen, das auch für die aktuelle Diskussion über einen möglichen westlichen Atomwaffeneinsatz vor allem für die Europäer von Bedeutung ist, war, dass die US-Nuklearplaner, die für die WINTEX-Szenarien federführend waren, mit großer Sorgfalt stets sichergestellt hatten, dass keine NATO-Atomwaffen auf russisches Territorium fielen. Der Grund war, dass die Amerikaner genau wussten, dass es dann gemäß sowjetischer Nuklearwaffen-Einsatz-Doktrin russische Gegenschläge auf US-Territorium geben würde. Diesbezüglich hat sich in der aktuellen russischen Nuklearwaffen-Einsatz-Doktrin nichts geändert.

Diese Unterscheidung zwischen amerikanischem und NATO-europäischem Territorium in Bezug auf die Möglichkeit, Zielscheibe für russische nukleare Gegenschläge zu werden, wurde in den WINTEX-Szenarien jedoch vollkommen ausgeblendet. Das erklärt, warum es in den WINTEX-Übungen auch keine wahrscheinliche Reaktion der Sowjets auf die taktischen Atomwaffenangriffe der NATO gab. Sonst hätten sich die europäischen NATO-Partner ja mit den Folgen eines auf Europa beschränkten Atomkriegs auseinandersetzen müssen. Dieser Aspekt wird auch heute noch in Diskussionen über einen taktischen Nuklearwaffeneinsatz gegen Russen in der Ukraine entweder ausgeblendet oder mit dem Argument überspielt, dass aus einem taktischen Atomwaffeneinsatz zwangläufig ein strategischer Schlagabtausch folgen würde. Was beide Seiten vermeiden wollen, weshalb es gar nicht erst zu einem taktischen Atomwaffeneinsatz kommen wird.

Die US-amerikanischen Planungen zum Einsatz von Atomwaffen haben eine lange Tradition. Sie begann mit den inzwischen dokumentarisch belegten, völlig unnötigen US-Atombombenabwürfen gegen die Zivilbevölkerung von zwei japanischen Großstädten, Hiroshima und Nagasaki, 1945, die ohne jegliche militärische Bedeutung für die bevorstehende Niederlage Japans waren.

Wenig später, bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Einbeziehung von Nuklearwaffeneinsätzen schon integraler Bestandteil der US-amerikanischen Kriegs- und Interventionspläne geworden, sowohl gegen die Sowjetunion als auch gegen kleinere Länder, die sich dem Willen der USA widersetzten.

Im Korea-Krieg forderte der legendäre General McArthur, chinesisches Militär und Städte mit Dutzenden von Atomwaffen anzugreifen. Der Oberkommandierende im Vietnamkrieg, General Westmoreland forderte ebenfalls den Einsatz von Atomwaffen, um den Vietkong zu besiegen. In beiden Fällen wurden die Generäle von einflussreichen politischen Persönlichkeiten unterstützt, aber zum Glück von den jeweiligen US-Präsidenten gestoppt.

Gegen die Sowjetunion legte das US-Joint War Plans Committee bereits im Juli 1947 einen Plan vor, der den Abwurf von 34 schweren Atombomben auf 24 sowjetische Städte forderte; u.a. sieben auf Moskau, drei auf Leningrad, zwei auf Charkow und Stalingrad. Der Plan rechnete mit Millionen von Toten und der massiven Zerstörung der Industriezentren des Landes.

Zwei Jahre später, im Januar 1949, zu einer Zeit, wo die Sowjetunion noch keine Atomwaffen hatte, enthielt ein unter dem Codenamen „Trojan“ bekannt gewordener strategischer US-Angriffsplan Nuklearwaffeneinsätze auf 70 sowjetische Städte mit 133 schweren Atomwaffen, wovon 8 für Moskau und sieben für Leningrad vorgesehen waren.

Im August 1949 detonierte die Sowjetunion ihre erste Atombombe, die dann durch eine internationale Trägerrakete komplementiert wurde, die 1957 als Warnung an die USA den ersten Sputnik in die Erdumlaufbahn brachte.

In Folge des überraschenden Fortschritts der sowjetischen Raketentechnik veränderte sich die US-Nuklearstrategie, weg von der präventiven, massiven Vernichtung der Sowjetunion zur Strategie der „Mutually Assured Destruction“, also zur „Sicheren Gegenseitigen Zerstörung“ – wobei die englische Abkürzung MAD auf Deutsch übersetzt in zutreffender Weise „wahnsinnig“ bedeutet.

Der Umstand, dass die Kuba-Krise 1962 nicht wenigstens in einer konventionellen Seeschlacht zwischen amerikanischen und sowjetischen Kriegsschiffen ausgeartet ist, dürfte auf die MAD-Zwangsjacke zurückzuführen sein. Nämlich auf die Einsicht beider Seiten, dass ein konventioneller Krieg zwischen ihnen zwangsläufig zum Einsatz von schweren Atomwaffen auf beiden Seiten führen und keiner überleben würde.

Diese Einsicht führte beide Seiten zehn Jahre später, 1972, zur Unterzeichnung des ersten strategischen Rüstungsbegrenzungsabkommens SALT-I. Das sollte die nuklearen Arsenale der USA und der SU auf dem Stand von 1972 einfrieren und damit die Voraussetzungen für Verhandlungen über die Beendigung bzw. Begrenzung des Wettrüstens verbessern. Daraus entstand dann auch der ABM-Vertrag zur Begrenzung ballistischer Raketenabwehrsysteme, mit dem Ziel, mit Hilfe der Aufrechterhaltung der Gefahr der gegenseitigen Vernichtung beide Seiten vor konventionellen kriegerischen Zusammenstößen abzuschrecken, weil daraus ein Abrutschen in einen nuklearen Konflikt resultieren könnte. Es ging also darum, auf beiden Seiten die Gewissheit zu zementieren, dass derjenige, der zuerst schießt, in dem dadurch ausgelösten Inferno der nuklearen Vergeltung ganz sicher als zweiter stirbt.

Diese MAD-Doktrin wurde jedoch von vielen US-Strategen, vor allem von Henry Kissinger und Wollweber als Zwangsjacke gesehen, da dadurch auch Provokationen, die zu einem konventionellen Konflikt mit der Sowjetunion führen könnten, politisch ausgeklammert wurden. Die Akzeptanz der Strategie der gegenseitigen Vernichtung machte daher den anti-sowjetischen Kriegstreibern in Washington einen Strich durch ihre Pläne, mit Provokationen und Konfrontationen unterhalb der Kriegsschwelle den globalen Einfluss der SU einzuhegen (Containment) und zurückzudrängen (Roll Back).

Das war der Boden, auf dem die Strategie der „Flexible Response“, der „Flexiblen Antwort“ entwickelt wurde, die 1967 von der NATO übernommen wurde. Dadurch wurden konventionelle Kriege mit der Sowjetunion wieder denkbar. Denn im Ernstfall würde daraus nicht der große, alles vernichtende strategische Schlagabtausch folgen, sondern mit dem Ersteinsatz von leichten, taktischen Nuklearwaffen könnte man die Gegenseite zum Einlenken und an den Verhandlungstisch zwingen. So zumindest die Theorie. Siehe WINTEX.

Ende von Teil 1

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Teil 2

Im Tross von US-Präsident Ronald Reagan kam dann im Januar 1981 die brandgefährliche Mischpoke aus Russen hassenden, neokonservativen Kriegstreibern an die Schaltstellen der amerikanischen Macht, z.B. mit Leuten wie Richard Perle und Paul Wolfowitz. Sie propagierten eine Strategie des präventiven Enthauptungsschlages gegen die UdSSR, um die angebliche sowjetische Bedrohung ein für alle Mal zu neutralisieren. Das Mittel dazu sollten die neuen, im Rahmen der nuklearen Modernisierung in Europa stationierten, hoch-präzisen US-Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II sein.

Da die neuen Pershings auf den Punkt genau trafen, bräuchte man – so die „Neocons“ – nur kleine taktische Atomwaffen, um ohne massive zivile Opferzahlen die Kommando-, Kontroll- und Kommunikationszentren der Roten Armee und des sowjetischen Staatsapparats in einem Überraschungsschlag zu zerstören.

In meinem NATO-Büro erklärte mir damals ein durchreisender US-Werber für diese neue Strategie, dass nach einem solchen Schlag, „die mächtige Rote Armee wie ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf über den Bauernhof rennen“ würde und nicht mehr fähig wäre, einen Gegenschlag zu führen.

Die neokonservative Mischpoke propagierte diese Strategie nicht nur lauthals in Reden und Think-Tank-Publikationen, sondern ergriff schon frühzeitig militärische und nachrichtendienstliche Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Ziele. So ging man z.B. mit allerlei Tricks und provokativen Grenzverletzungen der SU dazu über, systematisch die geographischen Koordinaten der Knotenpunkte in den sowjetischen Befehls- und Kommunikationsstrukturen zu sammeln, die im Ernstfall eingeschaltet würden.

Das und vieles mehr dieser Art konnte ich während meines rotierenden Einsatzes im NATO-Situation Center verfolgen. Denn viele dieser Koordinaten samt Beschreibung wurden von den US-Diensten an die NATO weitergegeben.

Derweil hatten 1981 in Moskau der damalige KGB-Chef Andropow und Staatschef Leonid Breschnew, die bereits 1941 die Erfahrung eines verheerenden Überraschungsangriffs auf ihr Land gemacht hatten, die Operation „Raketno Yadernoye Napadenie (RYAN)“, zu Deutsch in etwa: „nuklearer Raketenangriff“, ins Leben gerufen. Dazu gehörte auch, dass alle Agenten der russischen und befreundeten Nachrichtendienste dringendst dazu angehalten wurden, jeden noch so kleinen Hinweis auf die Vorbereitung eines Erstschlages sofort zu melden. Auch ich war über Ostberlin entsprechend instruiert worden.

Am 2. November 1983 begann in Deutschland im Rahmen des jährlichen Herbst-Manövers die NATO-Übung ABLE ARCHER 83 bei der unter sehr realistischen Bedingungen 10 Tage lang ein nuklearer Raketenangriff auf die Sowjetunion im Maßstab 1:1 geübt wurde. Im Gegensatz zu den Manövern der Vorjahre registrierte Moskau diesmal wesentliche, äußerst beunruhigende Unterschiede, die alle in das Bild eines Überraschungsangriffes aus der Bewegung des NATO-Manövers hindeuteten. Was da ablief sah genauso aus, wie man sich in Moskau den von den US-Neokonservativen propagierten atomaren Enthauptungsschlag vorgestellt hatte.

Im Kreml musste eine Entscheidung getroffen werden. Der Start der Pershing II konnte nicht abgewartet werden, da diese Raketen bereits nach 5 Minuten sowjetisches Territorium erreichen würden. Am besten wäre es präventiv die Pershing II, deren Dislozierung ins Feld man verfolgt hatte, mit eigenen Jagdbombern aufzuspüren, die selbst mit taktischen Nuklearwaffen bestückt waren, um die Pershings zu zerstören.

Tatsächlich habe ich Jahre später erfahren, dass auf zwei russischen Flugplätzen in der DDR nuklear bestückte Jagdbomber mit laufenden Motoren auf der Startpiste auf den Einsatzbefehl aus Moskau gewartet hatten – der zum Glück nicht kam.

Während der gesamten Krise stand ich in ständigem Kontakt mit der HVA-Zentrale in Ostberlin und meldete jeden Tag, dass es weder im NATO-Lagezentrum (CitCen) noch anderswo in der NATO besondere oder gar verdächtige Vorkommnisse gab.

Tatsächlich war auch an mir – trotz der wiederholten und dringenden, expliziten Sorgen in Moskau – der Ernst der Lage komplett vorbeigegangen.

Professor Vojtech Mastnyi, der an einer amerikanischen Kriegsakademie Strategie unterrichtete, fragte im Jahr 2003 zum 20. Jahrestag von ABLE ARCHER 83: „Did East German Spies Prevent A Nuclear War?“ („Haben ostdeutsche Spione einen Atomkrieg verhindert“). Immerhin billigt Prof. Mastnyi ostdeutschen Aufklärern einen gewichtigen Anteil an der Verhinderung des Weltuntergangs zu. Zu einem ähnlichen Schluss gelangte auch der spätere US-Verteidigungsminister Robert Gates, ehemaliger CIA-Vizechef, dem erst Jahre später bewusst wurde, wie nervös die Finger der Russen 1983 am atomaren Abzugshebel gewesen waren.

Auch der offizielle CIA-Historiker Benjamin Fischer äußert sich in diese Richtung. Nicht wenige Experten halten die RYAN/Able Archer-Krise heute für die gefährlichste Phase des Kalten Krieges. Vor allem deshalb, weil sie sich komplett außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung abgespielt hatte. Zugleich zeigt die Krise, wie gefährlich das aggressive Schwadronieren mit nuklearen Erstschlag-Phantasien vor dem Hintergrund einer zwangsläufig unzureichenden, politischen und militärischen Transparenz ist. Das ist zumindest eine der Lehren, die wir auf die aktuelle Situation in der Ukraine übertragen können.

Auch im Ukraine-Konflikt ist es vor allem die angloamerikanische Fraktion in der NATO und deren Sprechpuppe Stoltenberg, die immer wieder die angebliche Gefahr des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch die Russen gegen die Ukraine ins Spiel bringen. Noch unlängst warnte NATO-Chef Stoltenberg vor einem russischen taktischen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine und erklärte, die NATO müsse „unbedingt bereit sein, den Russen Gleichwertiges“ entgegenzusetzen.

Mit Aussagen dieser Art wird der westliche Nachrichtenkonsument unterschwellig auf einen eventuellen Einsatz von taktischen Atomwaffen durch die NATO gegen die Russen in der Ukraine vorbereitet. Bereits jetzt wird die Schuld für einen solchen Einsatz den angeblich „verzweifelten Russen“ zugeschoben, „weil die den Krieg in der Ukraine auf gar keinen Fall nicht verlieren wollen.“

Umgekehrt wird jedoch erst ein Schuh daraus. Auch diesmal geht die nukleare Gefahr von den US/NATO-Kriegstreibern aus. Die Ukraine ist bereits am Ende. Sie konnte nie und wird auch niemals gewinnen. US/NATO-Kriegstreiber haben sich total mit ihrem Ukraine-Abenteuer verrechnet. Sie haben die Ukraine mit ihren westlichen Wunderwaffen und ihrer westlichen Führung maßlos über- und Russland als Dritte-Welt-Tankstelle mit chaotischer Wirtschaft genauso maßlos unterschätzt.

Es sind die US-Eliten mit ihren Vasallen aus dem kollektiven Westen im Schlepptau, die alle ihre Karten auf den Sieg der Ukraine gesetzt hatten und nun bei Strafe ihres eigenen politischen Untergangs einen Sieg Russlands in der Ukraine mit allen Mitteln verhindern müssen und wollen. Die politischen US/NATO-Eliten haben zu viel in diesen Krieg investiert, als dass sie es sich leisten könnten, ihn zu verlieren.

Dabei haben sie mächtige Unterstützer im Tiefen Staat ihrer eigenen Länder. Denn für sie alle geht es in der Ukraine um viel mehr als um die Ukraine selbst. Es geht um die Erhaltung der westlichen Hegemonie über den Rest der Welt und die weitere Durchsetzung ihrer „regelbasierten Ordnung“ rund um den Globus. Denn die Niederlage von US/NATO in der Ukraine wird im Globalen Süden noch mehr Länder, die an den Zukunftsaussichten des angeblich so „goldenen Westens“ zweifeln, in die Reihen von BRICS und SCO und an die Seite von China und Russland treiben.

Die westlichen Kriegstreiber sind verzweifelt, sie wissen nicht mehr was sie noch tun können, um die unabwendbare Niederlage zu verhindern.

Deshalb muss die Welt darauf vorbereitet sein, dass die skrupellose Fraktion der Neokonservativen im Biden-Regime zu weiteren, spektakulär gefährlichen Eskalationen fähig ist, z.B. zum Einsatz amerikanischer Truppen in der Westukraine, um sie dort als „Stolpersteine“ gegen die Russen zu platzieren, in der Hoffnung, dass die Russen dann aus Angst vor einen Konfrontation mit US-Soldaten ihren Kampfeswillen verlieren.

5.000 Soldaten der legendären 101. US-Luftlandedivision der „Screaming Eagles“ warten bereits seit Oktober 2022 in Polen (1.000) und Rumänien (4.000) grenznahe zur Ukraine auf ihren Einsatzbefehl in der Ukraine. Sie waren bereits Ende Juli 2022 auf Anordnung des Weißen Hauses dorthin geschickt worden. Nachdem sie sich in Rumänien und Polen etabliert hatten, trat ihr Kommandeur, US-General John Lubas, am 30.10.2022 vor die Presse und erklärte gegenüber dem US-Sender CBS, dass seine „Screaming Eagles“ „bereit sind, schon heute Nacht zur Verteidigung des NATO-Territoriums zu kämpfen.“ Und im „Falle einer Eskalation der Kämpfe oder eines Angriffs auf die NATO sind sie voll und ganz darauf vorbereitet, die Grenze in die Ukraine zu überqueren„, so der US-General. Das ist die Stolperstein-Funktion der „Schreienden Adler“, die im Ernstfall keine Chance zum Überleben haben.

Denn als leicht bewaffnete Luftlandetruppe können die „Screaming Eagles“ trotz ihres legendären Rufs gegen die haushohe Überlegenheit der Russen an Soldaten, schweren Waffen und der totalen Lufthoheit der Russen über der Ukraine nichts ausrichten. Gleichzeitig hat der Kreml wissen lassen, dass Soldaten, egal welcher Nationalität, die in der Ukraine mit der Waffe in der Hand den Russen entgegentreten, vernichtet werden. Die amerikanischen Adler würden im Ernstfall massakriert.

In den USA würden dann die Kriegstreiber hysterisch nach Vergeltung schreien. Aber die Reserven der NATO an konventionellen Waffen und Munition sind weitgehend erschöpft. Ein konventioneller Angriff der USA mit US-Bodentruppen gegen die Russen in der Ukraine bedürfte einer sehr langen Vorbereitungszeit. Und auch dann würden die Amerikaner den Kampf verlieren, wie ihre eigenen Kriegssimulationen (RAND) ihnen bereits klar gemacht haben. Und Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind nur noch eine Lachnummer.

Aber die Forderungen, die Russen schwer zu bestrafen, weil sie die berühmten und beliebten „Screaming Eagles“ dezimiert haben, würden – angefeuert von der Hetze in den Medien – ins Unendliche gesteigert.

Doch die einzigen Waffen, die im US-Arsenal noch für einen vernichtenden Schlag gegen die Russen übrig wären, sind taktische Atomwaffen, die die USA bereits in Europa haben. Und dann käme der Moment, den sich viele Kriegstreiber in den USA und auch in Berlin regelrecht herbeizusehnen scheinen, nämlich der Ruf nach dem Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen gegen die bösen Russen.

Aus bekannten Gründen, die wir bereits eingangs im Zusammenhang mit WINTEX besprochen hatten, würden die amerikanischen Nuklearplaner jedoch sehr darauf achten, dass keine dieser taktischen A-Waffen auf russisches Territorium fällt, weil dies eine sofortige Vergeltung auf US-Territorium auslösen würde.

Die USA müssten also russische Ziele in der Ukraine oder anderswo außerhalb der Grenzen Russlands angreifen. Aber die Realität des Krieges in der Ukraine unterscheidet sich von einer WINTEX-Stabsübung dadurch, dass nach dem Ersteinsatz der US-Atomwaffen gegen russische Ziele der Krieg nicht plötzlich zu Ende ist und alle Teilnehmer am Kriegsspiel nach Hause gehen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit würden die Russen mit taktischen Atomwaffen auf US-Ziele und -Stützpunkte in NATO-Europa zurückschlagen. Und dort leben wir.

Das Ergebnis wäre ein auf Europa beschränkter begrenzter Atomkrieg mit nicht-strategischen Nuklearsprengköpfen. Denn kein Amerikaner, auch kein Neokonservativer, ist bereit, einen strategischen nuklearen Schlagabtausch mit Russland zu riskieren, weder wegen der Ukraine noch wegen Europa.

Aber ein begrenztes nukleares Gefecht in Europa, das das russische Militär in der Ukraine erheblich schwächen und große Teile Europas zerstören würde, ohne den USA nennenswerten strategischen Schaden zuzufügen, könnte für die kriegssüchtigen Verbrecher des Biden-Regimes in Washington durchaus eine attraktive Option sein. Diese Option würde Washington den Weg ebnen, sich mit China auseinanderzusetzen, ohne dass Russland in die Quere kommt, und gleichzeitig könnten die USA vom Exodus europäischer Industrieunternehmen profitieren, die den verwüsteten alten Kontinent in Richtung der unzerstörten und florierenden USA verlassen und dort zur schnellen Re-Industrialiserung des Landes beitragen würden.

Rainer Rupp ist Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes

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Bild oben: Modell einer B90 US-Atombombe, 1980er, Museum der Kirtland Airforce Base, New Mexico
Foto: Unbekannt, Gemeinfrei
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=99638842