Demokratie – Medien – Aufklärung

Immer noch keine Vernunft in Washington?

Es ist etwas in Bewegung geraten im Westen in Bezug auf die Ukraine, und zumindest die Liebschaft mit Selenskij ist deutlich vorüber. Aber bisher hat sich nirgends eine funktionierende Strategie gezeigt, wie man aus dem gescheiterten Projekt wieder herauskommt.

Von Dagmar Henn

Erstveröffentlichung am 02.10.2023 auf RT DE

Die Streichung der Mittel für die Ukraine im gerade verabschiedeten Notfallhaushalt der USA ist ein deutliches Signal dafür, dass etwas ins Rutschen geraten ist. Schließlich gab es noch Anfang dieses Jahres eine breite Mehrheit in beiden Parteien des US-Parlaments für eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine. Dass die Demokraten, wenn auch unter Zeitdruck, einem Beschluss zustimmten, aus dem weitere Mittel für Kiew explizit entfernt worden waren, ist ein Indiz dafür, dass auch in deren Reihen die Meinung nicht mehr so einhellig ist.

Dahinter verbergen sich völlig unterschiedliche Triebkräfte: Nicht nur das Scheitern der ukrainischen Offensive, das nach wie vor weitgehend vor der Öffentlichkeit verborgen wird, auch die Auseinandersetzung zwischen den „Russlandkriegern“ und den „Chinakriegern“ innerhalb der Regierung von US-Präsident Joe Biden, und nicht zuletzt, dass weder die Korruption des derzeitigen US-Präsidenten noch die Verbindung der heutigen ukrainischen Regierung zu den Nazikollaborateuren des Zweiten Weltkriegs dauerhaft zu verbergen ist.

Dass sich im Verborgenen die Waagschale gegen die „Russlandkrieger“ gesenkt haben könnte, lässt sich unter anderem daran festmachen, welche Themen inzwischen in den entscheidenden Medien im Westen die Mauer durchbrochen haben. Dazu zählt ein Bericht des britischen Economist über die Killerkommandos der ukrainischen SBU ebenso wie das, wenn auch eher verdeckte, Eingeständnis des militärischen Scheiterns in der New York Times, das Eingeständnis des ukrainischen Beschusses von Konstantinowka am gleichen Ort oder ein Artikel auf Politico, der die Veränderungen in der sichtbaren politischen Debatte verzeichnet. Und zu guter Letzt ist nicht zu übersehen, dass der gesamte Themenkomplex Ukraine in der Rangfolge der wichtigsten Themen deutlich abgestiegen ist. Es wird darüber berichtet, aber die großen Schlagzeilen werden von anderen Themen geliefert.

Aber abgesehen vom Beschluss zum Nothaushalt halten sich die sichtbaren Folgen in Grenzen. Es wurde der Vorschlag lanciert, den Konflikt über einen Waffenstillstand einzufrieren; eine Idee, die bereits im vergangenen Frühjahr über eine RAND-Studie propagiert wurde und offenkundig aus der Fraktion der „Chinakrieger“ stammt. Allerdings war die russische Antwort auf diesen Vorschlag mehr als deutlich. Der Sprecher der Duma beispielsweise erklärte, es gebe nur zwei Arten, wie der Konflikt enden könne: die bedingungslose Kapitulation Kiews oder ein Ende der Existenz der Ukraine als Staat.

Während die Lücken in der Informationskontrolle und mehr noch die scharfen Töne aus Warschau Richtung Kiew, die ohne den Segen aus den USA undenkbar sind, deutliche Anzeichen liefern, dass die „Chinakrieger“ obsiegt haben, also die US-Regierung das Projekt Ukraine gern zugunsten des Projekts Taiwan fallen lassen würde, ist nach wie vor keine tragfähige Strategie erkennbar, wie die erste Hälfte dieser Aufgabe lösbar wäre. Eines der Probleme dabei liegt in den Illusionen, die immer noch gepflegt werden. Die neue Studie der RAND Corporation, „Understanding the Risk of Escalation in the War in Ukraine“, die sich vor allem mit der Frage befasst, wie die russische Seite eine Eskalation auslösen könnte, die also die Hälfte der theoretischen Fragestellung ohnehin auslässt, zeigt das selbst in den vernünftigeren Passagen deutlich:

„Putin scheint zu glauben, dass ein Abnutzungskrieg irgendwann entweder Fähigkeiten und Willen der Ukraine brechen oder die westliche Unterstützung für Kiew verringern wird. Die kurzfristigen Aussichten für jedes davon nehmen jedoch ab.“

Das ist angesichts der Verluste in der gescheiterten Offensive von (durch das russische Verteidigungsministerium geschätzten) über 80.000 Gefallenen und der Tatsache, dass viele Arten von Munition und Gerät gar nicht mehr geliefert werden können, weil sie schlicht nicht vorhanden sind, eine großzügige Deutung der Wirklichkeit. Zum zweiten Punkt, die westliche Unterstützung betreffend, kann man den oben schon erwähnten Artikel von Politico zitieren:

„Während die ukrainischen Truppen einen Durchbruch versuchen, ehe der Winter beginnt, gibt es in Washington wie in Europa zunehmend das Gefühl, dass der Westen des Kampfes überdrüssig ist. Auf dem Hügel des Kapitols wenden sich republikanische Hardliner dagegen, weitere Hilfe über den Atlantik zu schicken; Polen erklärte jüngst, es könne in näherer Zukunft keine weiteren Waffen mehr in die Ukraine schicken, und französische Vertreter haben vor Kurzem angedeutet, das Land könne sich ebenfalls bald diesem Punkt nähern.“

Das RAND-Papier hegt aber noch weitere Illusionen:

„Was hat Russland davon abgehalten, weiter zu gehen? Ein bedeutender Faktor scheint eine ausgeprägte Furcht vor den militärischen Fähigkeiten der NATO zu sein.“

Die militärischen Fähigkeiten eines Blocks, dessen größte Macht unter Mühen die Produktion von 155-mm-Artilleriegranaten von 12.000 auf 24.000 im Monat erhöht und in einigen Jahren 36.000 erreichen will, womit dann pro Monat immer noch nicht so viele Granaten produziert würden, wie Russland an einem einzigen Tag verschießt?

Politico zitiert in diesem Zusammenhang den inzwischen pensionierten Chef des gemeinsamen Stabes der US-Streitkräfte, Mark Milley:

„‚Wenn es einen Krieg auf der Koreanischen Halbinsel gäbe, oder einen der großen Mächte zwischen den Vereinigten Staaten und Russland oder den Vereinigten Staaten und China, wären die Verbrauchsmengen ungeheuer‘, sagte Milley im Frühjahr bei seiner Befragung im Verteidigungsausschuss des Repräsentantenhauses. ‚Also mache ich mir Sorgen… Wir müssen Wege finden, um sicherzustellen, dass unsere Magazine auf die wirklich möglichen Ernstfälle vorbereitet sind.'“

Milley war in der Vergangenheit mehrmals durch eine weit realistischere Sicht aufgefallen, als dem US-Außenministerium lieb sein konnte. Er neigte dazu, zumindest erst einmal Waffen und Personal zu zählen, ehe er sich auf Abenteuer einließ. Sein Nachfolger, der Luftwaffengeneral Charles Quinton Brown Jr., wird in dieser Hinsicht Politico zufolge anders eingeschätzt:

„Ukrainische Vertreter sind optimistisch, dass sich Brown für die Lieferung hochwertigerer Waffen einsetzen wird. Brown und sein Stellvertreter im Kommando der Air Force, General David Allvin – inzwischen nominiert, um Brown als höchstrangigen Offizier der Luftwaffe zu ersetzen – haben früh und fortgesetzt vertreten, der Ukraine neu entwickelte Drohnen und F-16-Kampfflugzeuge zu schicken.“

Ja, auch der Apparat des Pentagons scheint nur zu Teilen von Realisten besetzt. Wäre dem anders, wäre klar, dass sich Russland nicht vor der NATO zu fürchten braucht. Bestätigt wird dies durch einen Artikel in der Zeitschrift der US-Militärakademie West Point, Parameters, der, in Umgangssprache übersetzt, eigentlich zu dem Schluss kommt, dass die USA das Kriegführen gegen einen auch nur annähernd gleich starken Gegner am besten zumindest in den nächsten Jahren unterlassen sollten.

Der Text mit der Überschrift „Aufruf zum Handeln: Lektionen aus der Ukraine für die Streitkräfte der Zukunft“ („A Call to Action: Lessons from Ukraine for the Future Force“) ist vor allem wegen seiner Auftraggeber bedeutsam. Es ist eine erste kurze Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse einer Gruppe von Lehrkräften und Studenten in West Point, die diese im Auftrag des TRADOC, des Kommandos der Armee der Vereinigten Staaten für Ausbildung und Doktrin, erstellt haben.

Es handelt sich also keinesfalls um eine akademische Fingerübung, sondern um Vorarbeiten für eine Aktualisierung der Militärdoktrin. Eben deshalb können diese Ergebnisse auch gewissermaßen „umgedreht“ werden, das heißt, die Anforderungen für die Zukunft benennen die Lücken der Gegenwart.

Der weitestgehende Vorschlag, der in diesem Papier auftaucht, ist eine mindestens teilweise Rückkehr zu einer Wehrpflichtarmee. Dafür werden zwei Gründe genannt. Der Erste ist die Zahl der Reservisten:

„Die Individual Ready Reserve [jener Teil der Reservisten, die nicht mehr zu regelmäßigen Übungen einberufen werden], die 1973 700.000 betrug und 1994 noch 450.000, liegt jetzt bei 76.000.“

Dabei kursieren widersprüchliche Zahlen über die Gesamtstärke des US-Militärs wie über jene der Reserven, selbst in rein westlichen Quellen: Statista berichtet von einer Gesamtreserve von 450.000, Wikipedia nur von 180.000. Untersuchungen, die an West Point angefertigt werden, dürften allerdings Zugang zu den realen Zahlen haben.

Dabei darf man auch nicht vergessen, dass das aktuelle Militär über Hunderte von Stützpunkten rund um den Globus verteilt ist, und anders als vor zehn oder zwanzig Jahren ein Komplettabzug von einem Stützpunkt in vielen Fällen die Konsequenz haben dürfte, dass er danach nicht mehr besteht. Anders gesagt, wenn man die Entwicklungen in Afrika und Lateinamerika betrachtet, steht die Mehrzahl all jener US-Soldaten, die auf diese Stützpunkte verteilt ist, für irgendwelche Kriege gar nicht mehr zur Verfügung.

Unter anderem darum ist die Größe der Reserve so wichtig. Es gibt aber noch einen zweiten Grund: die angenommene Größe der Verluste.

Diese Zahlen sind deshalb besonders spannend, weil sie zwar aus einer Berechnung von 2019 stammen, aber man davon ausgehen kann, dass die realen ukrainischen Zahlen vorlagen, und diese auf jeden Fall nicht dazu geführt haben, die alten Zahlen nach unten zu korrigieren.

„Medizinische Gefechtsplaner der Armee können von einer dauerhaften Verlustrate von ungefähr 3.600 Fällen pro Tag ausgehen, von jenen, die im Kampf getötet werden, über die Verwundeten oder die Erkrankten oder jene, deren Verletzungen nicht aus dem Gefecht rühren.“

Bei einem Ansatz von 3:1, also drei Verwundeten auf einen Gefallenen, hieße das 900 Gefallene pro Tag. Die tatsächlichen Berichte aus der Ukraine legen aber ein niedrigeres Verhältnis nahe, also deutlich mehr als 900 Tote pro Tag. Das Papier kommt im Grunde zu dem Schluss, dass die Vereinigten Staaten das nicht stemmen könnten, und zwar schon ohne die politischen Probleme, die damit verknüpft wären, überhaupt zu behandeln. Das ergibt sich aus dem angebotenen Vergleich:

„Zum Vergleich, die Vereinigten Staaten hatten in zwei Jahrzehnten Einsatz im Irak und Afghanistan Verluste von etwa 50.000. In großformatigen Kampfeinsätzen würden die Vereinigten Staaten diese Menge an Verlusten in zwei Wochen erreichen.“

Die Konsequenz daraus dürfte aber nur dann wie eine Lösung scheinen, wenn man die politischen Folgen nicht mit bedenkt; schließlich waren es weit mehr politische als technische Gründe, die zur Abschaffung der Wehrpflicht in den USA führten.

„Die Schlussfolgerung besteht darin, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum des Konzepts einer Freiwilligenarmee aus den 1970ern abgelaufen ist und nicht mehr zum gegenwärtigen Einsatzumfeld passt. Die technologische Revolution, die in der Folge beschrieben wird, legt es nahe, dass diese Truppe veraltet ist. Die Truppenanforderungen für großformatige Kampfhandlungen können sehr wohl eine Überprüfung des Freiwilligenkonzepts der 1970er und 1980er erfordern und einen Schritt hin zu einer partiellen Wehrpflicht.“

Man kann solche Aussagen nehmen und auf die Gegenwart rückübertragen. Dann heißt das Gesagte, derartige Kriege sind derzeit für die USA nicht führbar.

Es gibt noch andere Punkte, die in diesem Text aufgeführt werden. So wird beispielsweise festgestellt, dass die gesamte Militärdoktrin nicht auf Verhältnisse vorbereitet ist, unter denen nicht nur jede Bewegung in Echtzeit nachverfolgbar ist, sondern auch die Kommunikationssysteme und damit die Kommandostruktur unterbrochen werden können. Es wird ein Defizit in der Drohnenentwicklung festgestellt, ebenso bei den Hyperschallraketen.

Es wird mit Sicherheit interessant sein, die nachfolgenden Texte zu lesen – das ist schließlich nur die kurze Zusammenfassung. Aber die Gesamtliste der Defizite genügt, um zusammengenommen die Botschaft zu ergeben: Lasst bloß die Finger davon, gegen einen ernsthaften Gegner Krieg zu führen. Wir bräuchten wenigstens Jahre und gravierende Anpassungen, ehe wir überhaupt daran denken könnten.

Nun muss man sich darüber im Klaren sein, dass zwar das westliche Publikum täglich das Lied von der herausragenden Qualität der westlichen Rüstungsprodukte gesungen bekommt, dass dem russischen Generalstab aber konkrete Zahlen vorliegen. Und in den Bereichen, in denen sich Anpassungen als erforderlich erweisen, geschehen sie weitaus schneller als im Westen, was sich am Beispiel der Drohnenproduktion belegen lässt. Das bedeutet, der vorhandene Vorsprung lässt sich auch nicht mal eben so beseitigen. „Furcht vor den militärischen Fähigkeiten der NATO“? Wie sagte das der russische Außenminister Sergei Lawrow jüngst? Wenn es auf dem Schlachtfeld entschieden werden soll, dann eben auf dem Schlachtfeld.

Um diese Entwicklung zu umgehen, bräuchte es eine weitaus realistischere Sicht im Westen. Nicht nur, was die militärischen Verhältnisse betrifft. Die RAND-Studie belegt auch das Ausmaß der politischen Illusionen:

„Die Anforderungen des Einmarsches haben Putins Kontrolle über das Land zunehmend brüchig werden lassen.“

Die alte Geschichte vom Glashaus und den Steinen. Wenn die Unterstützung der russischen Regierung in der Bevölkerung „brüchig“ sein soll, bei Zustimmungsraten weit über 70 Prozent, was sagt dann ein Joe Biden mit 40 Prozent oder gar ein Olaf Scholz, der nach aktuellen Umfragen nicht einmal von einem Drittel der Bevölkerung als Regierungsoberhaupt gewünscht wird? Fantasien über Stabilität oder Instabilität eines anderen Landes führen nur zu einem – zu politischem Abenteurertum.

Wollte der Westen in der Ukraine tatsächlich zur Lösung beitragen statt zum Problem, bräuchte es zuallererst eine realistische Sicht auf die Lage. Ohne Träume vom Regimewechsel, ohne Werbeclips für den militärisch-industriellen Komplex und ohne all die durch die eigene Propaganda verzerrten Emotionen. Man kann es noch deutlicher sagen: Voraussetzung für jeden Schritt zum Frieden ist, dass der Westen seine Niederlage eingesteht.

Auch jener Teil der US-Regierung, der lieber gegen China Krieg führen will als gegen Russland, verweigert sich dieser Wirklichkeit. Das höchste der Gefühle, was Realismus betrifft, brachte noch Mark Milley zum Ausdruck, der zumindest an einem Punkt Fantasien zurückwies:

„Tatsache ist, Russland ist ein nuklear bewaffnetes Land. Punkt, und sie haben die Fähigkeit, die Menschheit zu zerstören. Das ist nichts, womit man spielt.“

Auf wirkliche Vernunft wird man weiter warten müssen.

Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bild oben: Das Pentagon 
Foto: David B. Gleason, CC BY-SA 2.0
Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4891272