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Gorbatschow: ein Störfaktor für den „Westen“?

Zum 34. Jahrestag des Besuchs von Michail Gorbatschow in Bonn

Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Erstveröffentlichung am 28.06.2023 in der NRhZ

Am 14. Juni 1989 ist im Boulevard-Blatt „Express“ zu lesen: „Deutsche feiern den Kreml-Chef: Gorbi Superstar“. Und: „Raissa im Kölner Dom“. Diese wenigen Wörter füllen zusammen mit einem Foto, das eine ausgelassene Stimmung transportiert, die obere Hälfte der Titelseite. Und es ist zu erfahren: „Riesenandrang vor dem Bonner Rathaus – Tausende begrüßten Michail und Raissa Gorbatschow. Und immer wieder ‚Gorbi, Gorbi‘-Rufe. Die Zuschauer sind begeistert, jubeln… Alle wollen die Staatsgäste aus Moskau sehen, feiern sie wie Superstars… Wenige Stunden später die gleichen Bilder in der Kölner Innenstadt, wo Raissa überraschend den Dom besucht…“ Der „Express“ ist ein Blatt mit außergewöhnlich guten Drähten zum großen Bruder jenseits des Atlantiks. Das zeigt sich z.B., als das Blatt wie kaum ein anderes Organ noch am Tag des Geschehens, am 11. September 2001, in der Lage ist, das US-Narrativ „Osama bin Laden war’s“ punktgenau zu präsentieren.

Express-Titelseite vom 14. Juni 1989 (zum Vergrößern anklicken)

Nun wurde in einer öffentlichen Diskussion behauptet, die Begeisterung für Gorbatschow sei in erster Linie ein deutsches Phänomen gewesen. In den USA habe das ganz anders ausgesehen. Dort sei die Begeisterung für Gorbatschow als Gorbomanie verurteilt worden. Gorbatschow sei dort eher als Störfaktor für den „Westen“ gesehen worden. Trifft das zu? Das ist einfach zu beantworten. Zweimal wurde Gorbatschow in den USA vom Magazin TIME zum „Mann des Jahres“ gekürt – 1987 und 1989. 1989 wurde er sogar als „Mann des Jahrzehnts“ präsentiert.

TIME-Titelseite vom 4. Januar 1988

TIME begründet das für 1987 so: „Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung) könnten sich als weniger ‚unumkehrbar‘ erweisen, als Gorbatschow sie verkündet. Dennoch können seine Reformen nicht länger als bloße Frage des Stils abgetan werden, als ein telegenes neues Gesicht im Kreml. Gorbatschow ist das, ganz sicher. Auch ein überzeugter Kommunist. Auch ein rücksichtsloser politischer Opportunist. 1987 wurde er zu etwas mehr, zu einem Symbol der Hoffnung auf eine neue Art von Sowjetunion: offener, mehr auf das Wohlergehen ihrer Bürger bedacht und weniger auf die Verbreitung ihrer Ideologie und ihres Systems im Ausland. Weil er diese Hoffnung geweckt hat, ist Michail Sergejewitsch Gorbatschow der Mann des Jahres 1987 der TIME.“

TIME-Titelseite vom 1. Januar 1990

Und in der Begründung, Gorbatschow zum „Mann des Jahrzehnts“ zu machen, heißt es – betitelt mit „Gorbatschow: Der ungewöhnliche Schirmherr des Wandels“: „Er hat einen alten Block aufgelöst, um Platz für ein neues Europa zu schaffen, er hat die Beziehungen des Sowjetimperiums zum Rest der Welt verändert und das Wesen des Imperiums selbst verändert. Er hat das Ende des Kalten Krieges ermöglicht und die Gefahr eines heißen Krieges zwischen den Supermächten vermindert. Weil er die treibende Kraft hinter den bedeutendsten Ereignissen der 80er Jahre ist und weil das, was er bereits getan hat, mit ziemlicher Sicherheit die Zukunft prägen wird, ist Michail Gorbatschow der Mann des Jahrzehnts der TIME.“

Gleich zu Beginn schwelgt der Artikel „Gorbatschow: Der ungewöhnliche Schirmherr des Wandels“ in höchsten Tönen: „Die 1980er Jahre gingen zu Ende wie ein magischer Akt auf einer weltgeschichtlichen Bühne. Falltüren öffneten sich, und ganze Regime verschwanden. Die Schale einer alten Welt bekam Risse, ihre schwarzen Eisensplitter fielen ab, und etwas Neues, Lebendiges explodierte in einem Wirbel aus weißen Flügeln in die Luft. Die Revolution wurde zu einer Art elektrischer Leichtigkeit des Seins. Eine halbe Million Tschechoslowaken auf dem Wenzelsplatz verwandelte sich in Elektronen, die mit Lichtgeschwindigkeit in den Weltraum strömten, von einem Satelliten abprallten, auf den Boden schossen und sich in Millionen von Fernsehbildern rund um den Planeten wieder zusammensetzten. Die Verwandlung hatte eine schwindelerregende, halluzinatorische Qualität, deren Überraschungen sich Nacht für Nacht wiederholten. Die Mauer, die Berlin teilte und eine internationale Ordnung besiegelte, zerfiel zu Souvenirs. Der Kalte Krieg, der so lange Teil der ständigen Ordnung der Dinge zu sein schien, löste sich vor den Augen der Welt friedlich auf. Nach Jahren der betäubenden Unbeweglichkeit ist die kommunistische Welt mit einer Energie und einem Aufruhr lebendig geworden, die ein belebendes, potenziell anarchisches Eigenleben entwickelt haben. Nicht einmal das stalinistische Rumänien war davor gefeit. Der Magier, der diese Kräfte freigesetzt hat, ist ein Karriere-Parteifunktionär, treuer Kommunist, charismatischer Politiker, internationale Berühmtheit und Impresario der kalkulierten Unordnung namens Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Er nennt das, was er tut – und zulässt – eine Revolution. Seine ist (bisher) eine unblutige Revolution, ohne die mörderischen, konspirativen Assoziationen, die das Wort in der Vergangenheit hatte. In einer neuartigen Allianz mit der Glasnost der Weltkommunikation wurde Gorbatschow zum Schirmherrn des Wandels: Der bessere Zwilling von Big Brother. Seine Porträts winkten wie Ikonen bei einem Heiligenfest inmitten einer Schar von Tschechen. Die ostdeutsche Jugend skandierte ‚Gorbi! Gorby!‘, um die Polizei zu verhöhnen.“

In der „Washington Post“ ist ein Bericht vom 14. Juni 1989 zu finden. Er befasst sich wie der „Express“ mit dem Besuch Gorbatschows und dessen Frau in Deutschland – insbesondere in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Er beginnt mit den Sätzen: „‚Michail Gorbatschow, der Superstar‘ nutzte in dieser Woche die gepflasterten Plätze von Bonn als seine Bühne, während die Menschen schrieen, Transparente hissten und ihre verwirrten Kinder für einen Kuss nach vorne schoben. Hier und da wurde eine Träne vergossen. Wenn man sich die Menschen und die atemlosen Schlagzeilen ansieht, könnte man meinen, U-2 oder Madonna würden auftreten und nicht der glatzköpfige Führer der Sowjetunion mittleren Alters. Obwohl ‚Gorbomania‘ bisweilen an die ‚Beatlemania‘ erinnert, ist es eher ein Maß für echte Hoffnung als für vorübergehende Ekstase. Das Phänomen Gorbatschow ist eine starke Mischung aus Politik und Persönlichkeit, eine Fähigkeit, für verschiedene Völker deren tiefste Sehnsüchte zu verkörpern und einfach eine Verbindung herzustellen.“

Hier noch einige weitere Auszüge aus dem Bericht in der „Washington Post“ vom 14. Juni 1989: „In Bonn, wo die ältere Generation noch lebhafte Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hat und sich jeder der zentralen Position des Landes in der Geopolitik bewußt ist, repräsentiert Gorbatschow die Hoffnung auf Ruhe zwischen den Supermächten und Frieden in Europa. Auf die Frage in der hiesigen Presse, warum die Deutschen von Gorbatschow ‚völlig entzückt‘ zu sein scheinen, antwortete Theodor Eschenburg, Politikwissenschaftler an der Universität Tübingen: ‚Letztlich läuft es auf unsere besondere Angst vor einer militärischen Konfrontation hinaus – eine verständliche Angst. Wir wollen nie wieder Krieg haben, und Michail Gorbatschow ist der Mann, der uns diese Angst nimmt. Die Sehnsucht der Deutschen nach Sicherheit spielt bei der aktuellen Euphorie eine immense Rolle.‘ […] In einer Kolumne in der Bild-Zeitung verglich der Dramatiker Franz Xaver Kroetz die Begegnung mit dem sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew 1978 in Bonn mit der Begegnung mit Gorbatschow in dieser Woche. Breschnew, so Kroetz, habe ‚den Charme eines verwitterten Grabsteins‘, während Gorbatschow ein ‚Charmeur‘ sei, der ‚den Geist der Freiheit‘ zum Leben erwecke. […] Die Presse hat festgestellt, dass er mit ebenso viel Emotionen begrüßt wurde wie John F. Kennedy bei seiner Reise nach Berlin vor 27 Jahren. ‚Die Begeisterung für Kennedy damals bezog sich hauptsächlich auf Berlin‘, so Eschenburg. ‚Gorbatschow ist etwas mehr. Er hat das System der Sowjetunion grundlegend verändert. Er hat die Angst vor dem Buhmann, der irgendwo drüben in Moskau sitzt und uns unserer Freiheit berauben will, vertrieben.‘ […] ‚Wir sind alle der Meinung, dass die Menschen in ihrem Enthusiasmus vielleicht etwas naiv sind und nicht das ganze Bild sehen‘, sagte die sowjetische Schriftstellerin Tatjana Tolstaja kürzlich in einem Interview in Moskau. ‚Aber es ist gut, jemanden zu haben, auf den man auch stolz sein kann. Das ist eine echte Veränderung für alle.'“

Was ist aus all dem zu schließen? War Gorbatschow ein Störfaktor für den „Westen“? Nein, im Gegenteil! Er kam für den „Westen“ wie gerufen. Er ist dessen Held. Er hat das Ende des Warschauer Paktes und der Sowjetunion eingeläutet. Er hat den Sieg des „Westens“ im „Kalten Krieg“ möglich gemacht. Er hat wahr gemacht, wovor DDR-Bildungsministerin Margot Honecker, Frau von Staatschef Erich Honecker, laut eines kleinen Artikels auf der Titelseite des „Express“ vom 14. Juni 1989 gewarnt hat – vor der Konterrevolution. Gorbatschow hat die DDR für die Konterrevolution freigegeben. Es ist nicht zu bestreiten: Gorbatschow hat die DDR fallen gelassen und dem Westen ausgeliefert. Das vereinte Deutschland ist nicht – wie es nach 1945 Ziel der Sowjetunion war – neutral geworden, sondern dem westlichen Kriegsbündnis NATO einverleibt worden. In Artikel 6 des 2+4-Vertrags vom 12. September 1990 heißt es entsprechend: „Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.“ Das einzige Zugeständnis des Westens ist im 2+4-Vertrag die Feststellung, dass „ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger… in diesem Teil Deutschlands [in der ehemaligen DDR] weder stationiert noch dorthin verlegt“ werden. (4) Die Strategie „Wandel durch Annäherung“ von Willy Brandt, der 1970 vom Magazin TIME als „Mann des Jahres“ gekürt worden war, ist aufgegangen. Gorbatschow ist „der ungewöhnliche Schirmherr des Wandels“.

Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann sind Herausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung,
Vorstandsmitglieder des Bundesverbandes Arbeiterfotografie
und Mitglieder des Deutschen Freidenker-Verbandes

Fußnoten:

1 Mikhail Gorbachev of the Soviet Union
Donald Morrison am 4. Januar 1988 im Magazin TIME
https://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,966377,00.html

2 Gorbachev: The Unlikely Patron of Change
[Gorbatschow: Der ungewöhnliche Schirmherr des Wandels] Lance Morrow am 1. Januar 1990im Magazin TIME
https://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,969082-1,00.html

3 „GORBOMANIA“ IS MORE THAN A PASSING ECSTASY
[„GORBOMANIE“ IST MEHR ALS EINE VORÜBERGEHENDE EKSTASE] David Remnick am 15. Juni 1989 in der Washington Post
https://www.washingtonpost.com/archive/politics/1989/06/15/gorbomania-is-more-than-a-passing-ecstasy/e7f8d417-a03e-4ac9-a839-370f6f445768/

4 Zwei-plus-Vier-Vertrag
Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, 12. September 1990
http://www.natoraus.de/2-plus-4-vertrag.pdf

Veröffentlichung aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 45 (Juni 2023) – Grundsatzschrift über die Freiheit des Denkens – bissig – streitbar – schön und wahr und (manchmal) satirisch.


Bild oben: TIME-Titelseiten vom 4. Januar 1988 und vom 1. Januar 1990
entnommen dem Beitrag von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann